Nach Jahrzehnten der Abstinenz, des betonten Agnostizismus oder gar der offenen Aversion ist das Thema Religion in Frankreich wieder hoffähig und zu einem durchaus prominenten Gegenstand im gesellschaftlichen Gespräch geworden. Das Christentum als ein verdrängter Teil der eigenen Geistesgeschichte wird neu bedacht (vgl. zuletzt: HK, April 2002, 187 ff.). Von diesem geschärften Blick profitiert auch ein Denker, der als Grenzgänger zwischen den Wissenschaftswelten immer faszinierte und vor allem als Geschichtstheoretikerrege rezipiert wurde, als Jesuit gleichwohl im auf Trennung von Staat und Kirche bedachten Frankreich eindeutig identifizierbar war: der im Jahr 1986 über dem zweiten Band seines Werks „Die mystische Fabel“ verstorbene Michel de Certeau. Der Verlag Gallimard bereitet zur Zeit neue Taschenbuchausgaben einiger seiner Werke vor, und im Herbst diesen Jahres wird eine umfangreiche Biographie aus der Feder von François Dosse erscheinen, in der die Stationen seines Lebens detailliert nachgezeichnet werden: angefangen von den patristischen Studien des jungen Theologiestudenten aus Chambéry (Savoyen), über seine Mitarbeit bei einer Reihe von Zeitschriften – wie etwa den „Etudes“ –, bis hin zu seiner Aufgabe als Leiter der Abteilung „historische Anthropologie des Glaubens (16.–18. Jahrhundert)“ an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, nachdem er zuvor ab 1978 Professor an der University of California in San Diego war.
Die mystische Erfahrung der Abwesenheit
Demgegenüber steht die Rezeption seines Denkens in Deutschland erst am Anfang. Abgesehen von einigen Aufsätzen in der „Orientierung“, der Zeitschrift der Schweizer Jesuiten, konnte man bisher wenig über den Mystikforscher, Theoretiker der Geschichtsschreibung und präzisen Beobachter des alltäglichen und politischen Handelns lesen. Lediglich drei seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt, sein wichtiges Werk „Das Schreiben der Geschichte“ (Campus Verlag, Frankfurt 1991) wurde eigentümlicherweise sogar um die keinesfalls nebensächlichen theologischen Kapitel beschnitten (außerdem liegen vor: Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin 1988, und Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, Verlag Turia und Kant, Wien 1997). Auf einer Tagung der Katholischen Akademie Berlin, die Ende April Einblicke in das weitverzweigte Werk Certeaus gewährte, erinnerte Jacques Le Brun, Professor an der Ecole Pratique des Hautes Etudes (Section des Sciences Religieuses) in Paris, an dessen Beschäftigung mit der Geschichte der neuzeitlichen Spiritualität am Beginn seines intellektuellen Weges. Certeau, der 1950 im Alter von 25 Jahren in die Gesellschaft Jesu eintrat, wurde beauftragt, das Leben des Pierre Favre, neben Ignatius von Loyola eine der Gründergestalten des Ordens, zu erforschen. Im Zusammenhang der Bestrebungen der Nouvelle théologie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die Quellen der eigenen Tradition zu erkunden, folgten akribische Studien über den jesuitischen Mystiker Jean-Joseph Surin für die Promotion im Fach Religionsgeschichte an der Sorbonne, die in Editionen von dessen Schriften und Briefen mündeten.
Grundgelegt wurde hier bereits Certeaus Mystikverständnis. Innerhalb seiner schematischen Betrachtung ist dieses nur von dem Einschnitt durch die Moderne her zu verstehen, der über den bloßen Traditionsbruch hinaus ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Menschen war und die frühneuzeitlichen Mystiker dazu zwang, nach neuen Wegen für den christlichen Glauben zu suchen. Die Erfahrung der Mystiker ist Certeau zufolge zuerst eine Erschütterung durch eine Abwesenheit, eine Unruhe, eine Nicht-Entsprechung – ein Thema, das sein Denken von nun an auch unabhängig von den jeweiligen Kontexten und Themen prägen sollte. Gott ist dem Menschen umso näher, je fremder er ihm wird. Analog gehe es in der Mystik nicht im Sinne eines Selbstverwirklichungsstrebens darum, sich zu finden, sondern sich zu verlieren, fasste der Theologe und Publizist Jean-Louis Schlegel dieses Verständnis pointiert zusammen. „Das Problem, eine Sprache zu finden für eigene Erfahrung, für Subjektivität, und damit das Subjekt-Sein zu ermöglichen, ist natürlich nicht den klassischen Mystikern allein vorbehalten. Certeau versteht die Mystikerinnen und Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts vielmehr als Menschen, die sich am typischen Problem ihrer Zeit abarbeiten“, kommentiert Georg Eickhoff, Mitinitiator der Berliner Tagung, dieses Mystikverständnis mit Blick auf die Konsequenzen für die Frage nach dem Menschen in der Moderne („Geschichte und Mystik bei Michel de Certeau“, in: Stimmen der Zeit Nr. 4/2001, 248–260, hier 253). Mystiker sind stets auf der Suche nach der Sprache für dasjenige, das das Ausdrucksvermögen per se übersteigt: Angesprochen ist damit auch, dass die besondere Zugangsweise Certeaus zum schillernden Phänomen Mystik auf der Einsicht basiert, dass die Geschichte der Spiritualität in erster Linie eine Geschichte jener Texte ist, in denen sich die Spuren der spirituellen Erfahrung finden. Deshalb ist es nach Certeau entscheidend, die Sprache der Mystiker zu analysieren, ohne selbst der mystischen Schwärmerei zu verfallen. Der Jesuit knüpft dabei etwa an seinen älteren Mitbruder Henri de Lubac und dessen Untersuchungen über den vierfachen Schriftsinn an. Doch der Blick zurück ging bei Certeau immer auch Hand in Hand mit einem Augenmerk für die aktuellen wissenschaftlichen Debatten: Die Frage, wie sich die mystische Erfahrung in die Sprache einschreibt, hat Certeau gleichermaßen zu einem intensiveren Studium sowohl der modernen Linguistik als auch der Psychoanalyse geführt. (Dass letzteres keine oberflächliche Beschäftigung war, lässt sich allein daran ablesen, dass Certeau von 1964 bis zur Auflösung 1980 zu den Mitgliedern der Ecole freudienne Lacans gehörte.)
Wie den historischen Ereignissen gerecht werden?
Vor allem aber ist Certeau durch seine Forschungen zur Spiritualitätsgeschichte zu Reflexionen auf das Vorgehen des Historikers im Allgemeinen angeregt worden, aufgrund deren er in erster Linie in Frankreich, aber auch in der englischsprachigen Welt zu einer wichtigen Stimme innerhalb der Geschichtstheorie geworden ist. Für Certeau hat sich dabei die grundsätzliche Frage aufgeworfen, inwiefern Geschichtsschreibung überhaupt möglich ist, wenn es keinen geradlinigen Weg von den historischen Fakten zu einem Geschichtswerk gibt. Der Tätigkeitscharakter beim Schreiben der Geschichte als einem Fabrizieren der geschichtlichen Darstellung kann seiner Ansicht nach nicht genug unterstrichen werden: Die Dokumente aus den Archiven müssen wie alle anderen Zeugnisse einer kritischen Beurteilung unterzogen, in einen Zusammenhang gebracht und vor dem Hintergrund des bisherigen Wissens interpretiert werden. Gerade am Beispiel des Wandels religiöser Traditionen lässt sich die Herausforderung, die das Verstehen der Geschichte bedeutet, aufzeigen, wie Luce Giard, Nachlassverwalterin Certeaus und Historikerin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris wie an der University of California, aufzeigte: Wenn der Historiker nicht berücksichtigt, dass beispielsweise dogmatische Aussagen und bestimmte Riten weiterhin bezeugt werden können, sich ihr Sinn aufgrund der gewandelten historischen Kontexte aber geändert hat, kann dies zu Fehlinterpretationen führen. Geschichtsschreibung ist deshalb in erster Linie ein Werk der Gegenwart. Das ursprüngliche historische Geschehen der Vergangenheit bleibt das „Andere“ der Geschichtsschreibung, dem man, so Certeau, nie gerecht werden kann, und das deshalb schlechthin nicht darstellbar ist.
„Wie Lacan interessiert sich Certeau vor allem für das, was sich der direkten Symbolisierung, der sprachlichen Darstellung entzieht, jedoch den historiographischen Prozess immer wieder berührt, ohne vollends von ihm erfasst werden zu können“ (Joachim Valentin, „Schreiben aufgrund eines Mangels. Zu Leben und Werk von Michel de Certeau SJ“, Orientierung Nr. 11/1997, 123–128, hier: 126). Der große Anteil der Vorstellungskraft beim Deuten und Verstehen der Geschichte rechtfertigt denn auch eine psychoanalytische Reflexion auf die Rolle des Imaginären. Der Jesuit mit seinem psychoanalytisch geschulten Blick sei zwar ein Einzelgänger, für die in Frankreich seinerzeit vorherrschende Sozialgeschichtsschreibung jedoch eine höchst wichtige Ergänzung gewesen, lautete die Einschätzung des Historikers Etienne François, Leiter des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin und Mitveranstalter der Tagung. Er bestätigte darüber hinaus, dass Certeau zu einem der wichtigsten Impulsgeber für die Beschäftigung französischer Historiker mit der Christentumsgeschichte wurde, während früher nahezu ausschließlich Forscher mit einem kirchlichen Auftrag die Geschichte der Orden und Diözesen beleuchteten. Certeau weitete das Untersuchungsfeld und betonte gleichzeitg die notwendige Distanz der historischen Forschung. Ohne ihn gäbe es heute längst nicht so viele Forschungsprojekte von französischen Profanhistorikern, die sich der Erkundung der religiösen Vorstellungswelt widmeten. Gerade weil es – von Straßburg abgesehen – keine theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten in Frankreich und deshalb auch nur wenig kirchengeschichtliche Forschung im engeren Sinne gibt, sind die jungen Historiker in Frankreich heute, so François, überdurchschnittlich interessiert an der Geschichte des Christentums. Es fasziniere sie freilich vor allem aus einer kulturanthropologischen Perspektive als das exotisch Fremde innerhalb der eigenen Tradition.
Manche wollen Certeau vor diesem Hintergrund in erster Linie als Historiker verstanden wissen. Die Multiperspektivität des Wirkens von Certeau wäre damit jedoch stark reduziert. Im englischen Sprachraum wird Certeau mit seinen späteren Werken beispielsweise mindestens ebenso als Kulturanthropologe wahrgenommen und rege rezipiert.
Gott in allen Dingen finden
Der Anlass für Certeau, sich intensiver mit der Lebenswelt seiner Zeitgenossen auseinanderzusetzen, war das für das französische Geistesleben so zentrale Ereignis „Mai 1968“, als er das Verlangen nach sozialem Wandel in „La prise de parole“ kommentierte und überraschende Parallelen konstruierte. Certeau sah in diesem Aufbegehren ganz ähnliche Entwicklungen wie am Beginn der Neuzeit, als die Mystiker neue Wege für das Sprechen von, über und zu Gott suchten. Brach sich nicht auch hier ein neues Selbstverständnis der Menschen Bahn, das die verkrusteten Strukturen des Vergangenen ohne eine andauernde Überzeugungskraft aufbrechen musste? Die Irritationen aufgrund solcher Deutungen der Ereignisse vor allem innerhalb der Kirche war verständlicherweise groß. Gerade aufgrund der damit einsetzenden intensiven Auseinandersetzung mit den Lebensfragen der Zeitgenossen ist Certeau jedoch zu einer der wichtigsten Stimmen innerhalb der so genannten Cultural Studies geworden. Im Mittelpunkt steht bei ihm die Frage, wie Menschen ihren Alltag in der Konsumgesellschaft gestalten, kurzum: wie menschliche Kreativität und die Befolgung von institutionalisierten Regeln zusammenspielen. Die ignatianische Maxime, Gott in allen Dingen finden zu sollen, erfährt hier eine höchst moderne Ausprägung. Innerhalb ihres Bemühens, die Kontinuität der Basisannahmen Certeaus ausgehend von einem seiner ersten Texte über die religiöse Erfahrung aus dem Jahr 1956 nachzuweisen, erinnerte Luce Giard daran, von welcher zentralen Bedeutung die Begriffe des Glaubens und des Vertrauens in der „Kunst des Handelns“ (1980) weiterhin sind.
Diesem Zusammenhang von mystischer Erfahrung und menschlichem Handeln spürt auch Daniel Bogner in seiner vor kurzem erschienenen theologischen Dissertation „Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau“ (Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 2002) nach. Dabei will er es mit den Schlagworten „Mystik und Politik“ nicht bei einem „Formelkompromiss (...) belassen, der die Zwangsläufigkeit ,mystischer‘ und ,politischer‘ Verbindung unterstellt, aber nicht mehr weiter erklären zu müssen vermeint“ (338). Er situiert sich ausdrücklich vor dem Hintergrund der Suchbewegungen des Glaubens im Kontext der Spätmoderne, die sich des „Bruchs“ erst langsam wirklich gewahr wird, den die Neuzeit mit Blick auf das zuvor allgemein-christliche Bewusstsein – zumindest im Mittelalter – bedeutet. „Wie kann Christentum als Christentum funktionieren, wenn beinahe alle Instrumente und Allianzen zerfallen sind, die ein funktionierendes religiöses Redeereignis ermöglicht haben?“, lautet auch hier Bogners Frage („Zukunftsfähig oder ortlos? Der religiös-politische Bruch als Ausgangsbedingung für heutiges Christentum nach Michel de Certeau“, Orientierung Nr. 2/2000, 15–20, 19).
Die theologischen Wurzeln der Postmoderne
Die „Lesbarkeit des Kosmos als von Gott gesprochener Sprache“ ist verloren gegangenen, heißt es in „Das Schreiben der Geschichte“ (197). Letztlich, so auch die These Bogners, muss sich das Christentum nach dem Ende des Glaubens an eine an der Welt unmittelbar ablesbare göttliche Ordnung neu ausrichten: Die „Krise der Repräsentation“ bedrohe zwangsläufig die Theologie, weil diese „von einem Gott handelt, der Präsenz beansprucht“ (Bogner, Gebrochene Gegenwart, 16). In dieser Situation nun sei Certeau deshalb von besonderem Interesse, weil er gerade als Analytiker der Gegenwart, der sich den Gegebenheiten mit einer schonungslosen Offenheit und großen Redlichkeit stellt, in den Fragmenten der zerbrochenen Gewissheiten den Ausgangspunkt und das Material für einen Neuansatz sieht. Nach dessen Überzeugung war es immerhin das wichtigste Anliegen der Mystiker, die unhörbar zu werden drohende Gottesrede wieder „zum Klingen zu bringen“, nachdem dem Christentum nicht mehr zugetraut wurde, den Sinn der Welt und auch des Menschseins auszusagen. Die Erfahrung der Mystiker ist dabei nicht einfach eine weitere Ausprägung christlicher Frömmigkeitsformen innerhalb des breiten Stroms der Spiritualitätsgeschichte, sondern vielmehr das radikale Ernstnehmen der Abwesenheit Gottes im Bewusstsein der Moderne, die freilich ebenso schematisiert betrachtet wird wie die Zeit vor dem Traditionsbruch. Wie aber kann das „alte Material“ unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen funktionieren, ohne das Vergangene – gar nostalgisch – bloß zu wiederholen? Es genügt schließlich nicht, wenn der christliche Glaube lediglich noch als eine Art christentümliche Folklore wahrgenommen wird.
Certeau fordert deshalb einen „schwachen Glauben“, der sich von den in Glaubenswahrheiten festgelegten, vermeintlichen Gewissheiten befreit. Er macht sich umso entschiedener daran, den Glauben als einen Glaubensakt in den Mittelpunkt der theologischen Betrachtungen zu stellen, innerhalb des gegenwärtigen Pluralismus nach einem christlichen Lebensstil zu suchen, um diesen Glauben dann auch zu praktizieren, wie Jean-Louis Schlegel auf der Berliner Tagung betonte. Der Glaube, die Kirche und die Theologie, die jeweils auf ihre Art wiederum die herrschenden Plausibilitäten „brechen“, befinden sich demnach heute in einer Art Exil. Dieser Versuch, die Partikularität des Christentums anzuerkennen, ohne sich dadurch selbst zu relativieren, inspiriert die französische Theologie heute auch dort, wo nicht explizit und ausführlich über Michel de Certeau gehandelt wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang Certeaus differenzierte Betrachtung der Institution als Bürge für die Sache des Glaubens. Denn Institutionen gewähren seiner Überzeugung nach auch eine gewisse Entlastung: Zumindest so lange, wie sie um ihre Grenzen wissen und sich nicht selbst absolut setzen, eröffnen sie Räume, die es ohne sie nicht gäbe. Es wäre heute in jedem Fall zu wenig, sich allein für die christliche Mystik und Spiritualität zu begeistern, weil man aufgrund der teilweise gewalttätigen Geschichte der Kirche den Fragen nach der Institution aus dem Weg zu gehen versucht, mahnte Schlegel.
Dass dies eine deutlich weniger apologetisch-triumphalistische Position ist als etwa die von Henri de Lubac, in dessen Fußspuren sich Certeau als Schüler der Nouvelle théologie im Allgemeinen und als Mystikforscher im Besonderen lange bewegte, zeigte in Berlin schließlich der anglikanische Theologe Graham Ward, der an den Universitäten Manchester und Oxford lehrt (vgl. von ihm herausgegeben: The Certeau Reader, Blackwell, Oxford 2000). Die Bedeutung von Certeau für die Theologie im Zeitalter der Postmoderne liege vor allem darin, mit der Betonung der Andersheit Gottes zwischen der herkömmlichen Apologetik und der „liberalen Theologie“ eines Karl Rahner oder eines Paul Tillich einen Mittelweg zu finden (vgl. auch die jüngst erschienene Arbeit seines Schülers Gavin Hyman, The Predicament of Postmodern Theology. Radical Orthodoxy or Nihilist Textualism?, Westminster John Knox Press, Louisville 2001, in der Certeau vor dem Hintergrund einer etwas anders akzentuierten Alternative als dritter Weg vorgeschlagen wird). Ward vermutet darüber hinausgehend sogar, dass der Traditionsstrang von Karl Barth über die französischen Jesuiten der Nouvelle théologie bis hin zu Certeau zu den „theologischen Wurzeln“ der Postmoderne gehöre: Dieser habe die Transzendenz Gottes und seiner Gnadenordnung unter der Akzentuierung ihrer „Andersheit“ genauso betont wie die Inkarnation dieser Abwesenheit im – dann folgerichtig nur intertextuell betrachtbaren – „Wort“. Unbestritten ist es ein Verdienst von Michel de Certeau, sowohl das Christentum und seine Theologie mit anderen wissenschaftlichen Zugangsweisen zur Wirklichkeit von Mensch und Gesellschaft konfrontiert als auch die Anliegen der Religion in diese eingebracht zu haben. Sein essayistischer, metaphernreicher Stil, das wurde auf der Berliner Tagung auch deutlich, wird es weder für die anstehende Übersetzungsarbeit noch für die Rezeption einfacher machen. Nicht zuletzt aber aufgrund der Tatsache, dass manche gesellschaftlich-religiösen Prozesse in Frankreich bereits weiter vorangeschritten sind als hierzulande, werden Certeaus pointierte Analysen der Möglichkeiten des Christseins innerhalb heute weitgehend säkularisierter Gesellschaften in Zukunft auch bei uns eine größere Rolle spielen und vermehrt für Diskussionsstoff sorgen.