Wohin entwickelt sich der Islam in Bosnien-Herzegowina?Nation und Religion

Anders als in Westeuropa kann der Islam in Bosnien auf eine fünfhundertjährige Geschichte zurückblicken. Seit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien findet in Bosnien-Herzegowina ein Prozess der ethnisch-nationalen Identitätsfindung statt, in dem der Islam eine wichtige Rolle spielt. Allerdings ist diese Neubelebung des Islam nicht mit muslimischem Fundamentalismus zu verwechseln.

Nachdem Bosnien-Herzegowina nach Beendigung des vierjährigen, mörderischen Krieges mit der Unterzeichnung des„Dayton-Abkommens“ in Paris im Dezember 1995 schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung und dem öffentlichen Bewusstsein verschwand, geriet das Land in den letzten Wochen und Monaten erneut in die Schlagzeilen. Dabei ist unverkennbar, dass das gesteigerte Interesse der Medien und der westlichen Staaten an Bosnien-Herzegowina in Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. September steht. Neben den Meldungen über den Rücktritt der niederländischen Regierung wegen der Ereignisse beim Fall der UN Schutzzone Srebrenica im Sommer 1995, die von niederländischen Blauhelm-Soldaten geschützt werden sollte, und über die gescheiterte Festnahme von Radovan Karadzic in Ostbosnien Anfang dieses Jahres richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf islamistische und fundamentalistische Einflüsse in Bosnien sowie auf Kontakte von Osama bin Laden und seiner Terrororganisation Al-Quaida nach Bosnien. So mutmaßte der griechische Außenminister Giorgios Papandreou schon kurz nach dem11. September öffentlich, bin Laden sei mit mehreren seiner Anhänger Anfang vergangenen Jahres auf dem Balkan gewesen.

Aus Furcht vor Anschlägen waren die Botschaften der USA und Großbritanniens in Sarajevo im Oktober 2001 für mehrere Tage geschlossen; erneute Informationen über einen bevorstehenden Angriff auf die amerikanische Botschaft Ende März 2002 führten zu deren wiederholten Schließung und veranlasste die Regierung von Bosnien-Herzegowina zu einer Sondersitzung. Mittlerweile hat die internationale Friedenstruppe SFOR mehrere Verdächtige, vor allem aus arabischen Ländern, festgenommen oder ausgewiesen, darunter sechs Algerier, denen die Amerikaner Kontakte zu Al-Quaida vorwerfen und die sie nach Guantánamo deportierten. Sie alle besaßen echte bosnische Papiere, so dass sich die Frage stellt, ob Bosnien-Herzegowina sich in den letzten Jahren zu einem Schlupfwinkel für den islamischen Terrorismus entwickelt hat. Lässt sich dabei die muslimische Bevölkerung Bosniens von einem solchen Fanatismus, exportiert aus arabischen Ländern, anstecken, so dass die „blutigen Grenzen des Islam“ (Samuel P. Huntington) nur eine Flugstunde südlich von München in Europa verlaufen würden?

Der Islam spielt wieder eine größere Rolle im öffentlichen Leben

Bei einem Gang durch Sarajevo werden Veränderungen sichtbar, die auf einen gestiegenen Einfluss von islamischen Staaten im Land hindeuten: mitten in der Innenstadt, in der Fußgängerzone, befindet sich das neue iranische Kulturzentrum, das zwischen verschiedenen Modegeschäften gelegen, Sprachkurse und Austauschprogramme anbietet und auf religiöse Angebote und Veranstaltungen hinweist. Nicht weit davon entfernt, in der Nähe der Ministerien, liegt die im pseudomaurischen Stil erbaute Botschaft des Iran. Noch auffälliger sind dagegen die vielen neuen Moscheen, die vor allem mit saudischem Geld erbaut wurden. Die Kontraste zu dem Umfeld, in dem sie teilweise errichtet wurden, könnten dabei kaum größer sein: so befindet sich mitten in Novi Grad, der Neustadt von Sarajevo, die unter kommunistischer Herrschaft erbaut wurde, zwischen Plattenbausiedlungen die nun größte Moschee von Bosnien, die König-Fahd-Moschee. Einen Straßenzug weiter sieht man die noch immer zu einem großen Teil zerstörten Hochhäuser des Stadtteiles Dobrinja: renovierte Wohnungen wechseln sich mit ausgebrannten ab, deren Fenster notdürftig von Plastikplanen bedeckt werden, Teile des Mauerwerkes fehlen, und die Gitter der Balkone baumeln im Wind.

Die Fahd-Moschee, die von Prinz Salman am 15. September 2000 eingeweiht wurde, besticht dagegen durch ihre Größe und Ausstattung: Der festungsähnliche, graue Kuppelbau mit seinen runden Zwillingstürmen besitzt fast die Ausmaße eines Fußballfeldes. Die Kuppel und die Spitzen der beiden Minarette sind grün, in der Farbe des Propheten, gestaltet. Goldene, arabische Lettern über dem Eingangstor laden zum Eintritt in die Moschee und die sich anschließenden Gebäude ein. Neben dem Gebetsraum beherbergt der gesamte Komplex noch eine Religionsschule und eine islamische Bibliothek. Ziel dieses von König Fahd aus seiner Privatschatulle gestifteten Komplexes ist die Verbreitung des Wahhabitentums, jener rigorosen und strengen Auslegung des Islams, wie sie in Saudi-Arabien praktiziert wird, und die nun auch die in Glaubensfragen und -praxis eher toleranteren und oftmals säkularisierten bosnischen Muslime beeinflussen soll. Im ganzen Land unterstützt daher die Saudische Hohe Kommission die bosnischen Muslime; diese Hilfsorganisation wurde 1993, als der Krieg noch tobte und die meisten westlichen Staaten diesem mehr oder weniger hilf- und konzeptlos gegenüberstanden, gegründet. Nicht nur für den Aufbau von Moscheen und Religionsschulen stellte sie Geld zur Verfügung, sondern auch für den Wiederaufbau von Wohnungen und zur Instandsetzung der Infrastruktur; die Spenden stammen dabei vornehmlich von der Dynastie Al Saud in Riad.

Es gibt noch weitere Indizien dafür, dass der Islam wieder eine größere Rolle im öffentlichen Leben spielt: Die neuen Straßenschilder in Sarajevo nach dem Krieg wurden in der Farbe des Propheten gestaltet, weiße Straßennamen auf grünem Grund. Auf dem Markt wird zwar Schweinefleisch verkauft, doch gab es immer wieder Bestrebungen, den Verkauf systematisch zu erschweren. Die Aussagen von Einwohnern Sarajevos zu einer strengeren, islamischen Kleiderordnung sind dagegen widersprüchlich: auf der einen Seite fallen die Mädchen, die Kopftücher oder sogar eine Burka tragen, sofort als Minderheit unter ihren Altersgenossinnen auf, die sommertags meistens gestylt und mit Minirock durch die Innenstadt flanieren; doch auf der anderen Seite wird betont, dass diese Minderheit nach dem Krieg im Wachsen begriffen sei.

Der Islam in Südosteuropa ist das Erbe einer fast fünfhundertjährigen osmanischen Herrschaft. Nachdem die Türken 1463 Bosnien erobert hatten, kam es in einem hundertjährigen Prozess zu einer teilweisen Islamisierung der slawischen christlichen Bevölkerung, so dass sich jener für Bosnien typische Konfessionalismus herausbildete: Muslime, Katholiken und Orthodoxe. Während sich die bosnischen Katholiken und Orthodoxen mit der Entstehung nationaler Bewegungen und nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches immer mehr als Kroaten beziehungsweise als Serben begriffen und somit eine nationale Identität entfalteten, blieben die Muslime vorerst stärker religiös bestimmt, wobei sie sich aber weigerten, sich als Kroate oder Serbe zu deklarieren oder sich als solche vereinnahmen zu lassen. Dies Problem wurde erst 1961 in Titos Jugoslawien gelöst, da die muslimische Bevölkerung, unabhängig davon, ob sie religiös war oder nicht, die Möglichkeit erhielt, sich als „Muslime im ethnischen Sinne“ zu bezeichnen; 1968 wurden sie als Nation anerkannt. Von der religiösen Bezeichnung „muslimani“ wurde die nationale Bezeichnung für die Muslime („Muslimani“) nur durch Großschreibung unterschieden. Durch die Einführung dieser nationalen Bezeichnung, die für Tito ein taktischer Zug, nämlich die Schaffung eines „Puffers“ zwischen Kroaten und Serben, darstellte, wurde das Nationalbewusstsein der Muslime enorm gestärkt.

Säkulare Muslime, aber auch Neubelebung muslimischer Identität

Bis zum Beginn der kommunistischen Ära war der bosnische Islam tief in der Bevölkerung verankert, doch gab es in der Zwischenkriegszeit auch Modernisierungsbestrebungen: der Religionsunterricht wurde statt in Arabisch in der Muttersprache abgehalten, dazu kam die Tendenz, dass Frauen in der Öffentlichkeit zunehmend ohne Schleier auftraten. Der Vorsitzende der Islamischen Gemeinschaft, Fehim Spaho, konnte die Vereinbarkeit islamischer Glaubenssätze mit dem Leben in modernen Gesellschaften deutlich machen, so dass sich in Bosnien eine Form des Islams entwickeln konnte, die die allmähliche Modernisierung der Gesellschaft akzeptierte. Der Rat Spahos an die bosnischen Muslime, nicht mehr den serbischen Nationalheiligen Sava zu verehren und beim Besuch katholischer Kirchen ihren Fez auf dem Kopf zu behalten, zeigt, dass die bosnischen Muslime keineswegs in strenger religiöser Observanz gelebt, sondern einige Elemente aus dem Christentum übernommen haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation für die muslimische Glaubensgemeinschaft, die nun seitens des kommunistischen Staates Repressionsmaßnahmen ausgesetzt war: muslimische Schulen und Bildungseinrichten wurden geschlossen, den Frauen das Tragen von Schleiern untersagt und der Derwischorden, der auf eine lange Tradition in Bosnien zurückblicken konnte, wurde verboten. Dazu kamen Prozesse gegen Anhänger des Islams. Wenn man bedenkt, dass bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere hunderttausend Muslime in die Türkei ausgewandert waren, wird deutlich, dass das religiöse Leben durch diese Maßnahmen des Staates schweren Einschränkungen unterlag und sich ein Säkularisierungsprozess ausbreitete, so dass nur eine geringe Anzahl der ethnischen Muslime den islamischen Glauben praktizierte. Die „muslimische Nation“ zerfiel also in zwei Gruppen: säkulare Muslime, denen ihr religiöses Erbe zunehmend verloren ging und die ihre „muslimische Identität“ zu etwas Nichtreligiösem zu entwickeln wünschten, auf der anderen Seite dagegen eine Gruppe, die seit den achtziger Jahren für eine Wiederbelebung des islamischen Glaubens eintrat. Möglich geworden war dies durch eine Änderung der offiziellen Politik, die ihren Ausdruck in der Gründung einer islamischtheologischen Fakultät in Sarajevo 1977 fand, an der eine Gruppe islamischer Intellektueller heranwuchs.

Obwohl bei vielen ihrer Publikationen das Bemühen erkennbar ist, die Glaubenssätze des Islams mit den Anforderungen einer modernen Gesellschaft zu verbinden, ist dagegen nur eine Schrift zu trauriger Berühmtheit gelangt, die „Islamische Deklaration“ des späteren ersten Präsidenten des unabhängigen Staates Bosnien-Herzegowina, Alija Izetbegovic. Bereits als junger Mann war er Ende der vierziger Jahre als Mitglied der Organisation der Mladi Muslimani (Jungmuslime), die sich für eine Wiederbelebung der islamischen Traditionen und für verstärkte Beziehungen zur islamischen Welt aussprach, verurteilt worden; zum zweiten Mal wurde Izetbegovic 1983 verurteilt, weil man ihm vorwarf, Mitglied einer „terroristischen Organisation“ zu sein, die sich zum Ziel die Schaffung eines ethnisch gesäuberten muslimischen Staates Bosnien gesetzt hätte – wichtigster Beweis: die „Islamische Deklaration“, die Izetbegovic 1970 geschrieben hatte. Darin versucht er, die Grundlagen eines von der Islamischen Ordnung geprägten Gemeinwesens darzustellen, wobei er aber gleichzeitig deutlich macht, dass diese politische Ordnung nur dann zu gelten habe, wenn die Muslime die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Für das ehemalige Jugoslawien traf dies nicht zu, aber nach dessen Zerfall stellten die Muslime in Bosnien-Herzegowina zum ersten Mal eine relative Mehrheit dar. Izetbegovic verwarf zwar 1990 diese Möglichkeit der Realisierung einer islamischen Gesellschaftsordnung, doch sollte auch seine politische Linie im Laufe des Krieges nicht eindeutig bleiben, so dass dem gewiss ideologisch unverdächtigen Zeugnis des kroatischen Historikers Srecko M. Dzaja zuzustimmen ist: „Was die islamische Welt betrifft, bedeutet das Denken von Izetbegovic zunächst einen Gewinn; es leistet nämlich ein treues und zugleich flexibles und kreatives Verhältnis zur islamischen Tradition (...), doch bei der Umsetzung in die politische Praxis geht die Subtilität und Moralität von Izetbegovic sehr leicht verloren, und es profitieren statt innovativer die restaurativen politischen Kräfte.“

Zunehmende ethno-nationale Ausrichtung

Die jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina hatte laut der letzten Volkszählung von 1991 4,3 Millionen Einwohner, von denen sich 43,7 Prozent als Muslime, 31,4 Prozent als Serben und 17,3 Prozent als Kroaten bezeichneten. Während des Krieges wurden 2,3 Millionen Menschen von ihren ursprünglichen Wohnsitzen vertrieben; das Ziel dieser Vertreibungen war die Schaffung von „ethnisch reinen Gebieten“, deren Zielsetzung und Durchführung zuerst von der serbischen Seite in Ost- und Nordbosnien vorexerziert und im Laufe des Krieges von allen Seiten kopiert wurde. Der Friedensvertrag von Dayton sah zwar ein Rückkehrrecht der 297 Flüchtlinge an ihren ursprünglichen Wohnort vor, doch ist die versuchte Rückkehr von Flüchtlingen bis heute mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, wenn nicht sogar unmöglich. So ist das islamische Leben in der serbischen Entität heute nahezu erloschen: Die muslimischen Bewohner sind getötet oder vertrieben, wobei oftmals Angehörige der islamischen Intelligenz und islamische Geistliche die ersten Opfer waren, und fast alle Moscheen sind zerstört. Auf das gesamte Land bezogen wurden während des Krieges 1024 islamische Gebetshäuser zerstört. Versuche, die zerstörten Moscheen wiederaufzubauen, haben mit den oben beschriebenen Schwierigkeiten zu kämpfen: so verhinderte am 5. Mai 2001 eine aufgebrachte Menge die geplante Grundsteinlegung für den Wiederaufbau einer Moschee in der heute von Serben kontrollierten Stadt Trebinje. In Banja Luka, einer Stadt, die sich ebenfalls auf dem Territorium der Republika Srpska befindet, konnte die Grundsteinlegung zum Wiederaufbau der Ferhadija-Moschee, die 1597 von den Osmanen erbaut und während des Krieges nahezu dem Erdboden gleichgemacht wurde, zwei Tage später nur unter einem massiven Aufgebot von Sicherheitskräften stattfinden.

Angesichts von Krieg und Vertreibung, vorangetrieben durch Karadzic und Mladic sowie ihre Anhänger auf serbischer Seite und die vermeintliche Unfähigkeit des Westens und der Vereinten Nationen, entweder mit diplomatischen Mitteln oder mit einer militärischen Intervention den Konflikt zu einer friedlichen Lösung zu führen, kam es bei den bosnischen Muslimen – wie auch bei den bosnischen Kroaten – zu einer verstärkten ethno-nationalen Ausrichtung, was sich bei den Muslimen in einer Revitalisierung des Islams und in engeren Kontakten zu islamischen Staaten äußerte. An diese wandte sich Izetbegovic, der bereits 1991 den Vorschlag gemacht hatte, dass Bosnien in die Organisation Islamischer Staaten eintreten sollte, als er keine militärische Hilfe vom Westen bekam. Obwohl in vielen islamischen Staaten der Bosnienkrieg als Vernichtungskrieg gegen die Muslime, als „neuer Kreuzzug“ angesehen wurde, kam es nicht zu einem unmittelbaren Eingreifen islamischer Staaten in den Konflikt. Die islamistische Opposition in den jeweiligen Ländern konnte zwar ihre Regierungen unter Druck setzen, indem sie auf die Schändungen von Moscheen und die Vergewaltigungen von muslimischen Frauen hinwies, die als Symbol der Ehre für die gesamte islamische Gemeinschaft (Umma) stehen, aber eine militärische Intervention unterblieb. Stattdessen arbeiteten diese Staaten auf ein Aufheben des Waffenembargos hin, das der UN-Sicherheitsrat über das ehemalige Jugoslawien verhängt hatte, um somit zumindest ein militärisches Gleichgewicht zwischen Serben, Kroaten und Muslimen herzustellen. Einige kampferprobte Mudschaheddin, die bereits in Afghanistan gekämpft hatten, stellten sich der bosnischen Regierung, die ihnen einen bosnischen Pass ausstellte, als Freiwillige im Krieg zur Verfügung, doch dürfte ihre Zahl oder die Zahl derjenigen, die nach dem Krieg in Bosnien geblieben sind, eher gering sein: Im Zuge einer Überprüfung sichtet die bosnische Regierung zur Zeit die Pässe, die während des Krieges an Bürger arabischer Herkunft vergeben wurden – ihre Anzahl beträgt nur einige hundert. Daher mögen sich vereinzelt islamische Fundamentalisten und Al-Quaida-Kämpfer in Bosnien befinden, doch das Land als Schlupfwinkel für Terroristen zu betrachten, dürfte der Realität nicht gerecht werden. Die finanzielle Unterstützung islamischer Staaten erschöpfte sich nicht in der erwähnten Errichtung einiger monumentaler Moscheen, sondern diente auch dem Wiederaufbau von Moscheen aus türkischer Zeit, die bis heute das Stadtbild vieler bosnischer Städte prägen. Ein Großteil der Gelder floss aber in Hilfsprojekte, wie sie der Stabilitätspakt für Bosnien-Herzegowina vorsieht: in die Instandsetzung von Wohnungen, in die Errichtung öffentlicher Einrichtungen und in Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur.

Das Etikett „Fundamentalismus“ vereinfacht zu sehr

In Sarajevo, wo vor dem Krieg 50 Prozent Muslime, immerhin 30 Prozent Serben und über zehn Prozent Kroaten lebten, stellen die Muslime heute mehr als 75 Prozent der Bevölkerung, während die meisten Serben nach Kriegsende die Stadt aus Furcht vor Racheakten verlassen haben; zugezogen sind Vertriebene aus den ländlichen Gebieten Ostbosniens. Bei diesen entwurzelten und oftmals traumatisierten Menschen sucht die Partei unter Führung des ehemaligen bosnischen Präsidenten Izetbegovic, die SDA (Stranka Demokratske Akcije = Partei der demokratischen Aktion), Wählerstimmen. Die SDA wurde 1990 von Izetbegovic und engen Freunden gegründet und hat sich zu einer nationalistischen Partei auf muslimischer Seite entwickelt, ihr Pendant sind die von Karadzic gegründete SDS (Srpska Demokratska Stranka = Serbische Demokratische Partei) und die HDZ BiH (Hrvatska Demokratska Zajednica Bosne i Hercegovine = Kroatische Demokratische Gemeinschaft Bosniens und Herzegowinas), eine Schwesterpartei der von Franjo Tudjman gegründeten HDZ in Kroatien. Bis heute stellen diese Parteien bei den jeweiligen Ethnien die Mehrheit (vielleicht mit Ausnahme der Muslime bei deren Wahlverhalten sich nach der letzten von der OSZE durchgeführten Wahl im November 2000 eine Differenzierung andeutet) und versuchen in den Gebieten, in denen die jeweils eigene Ethnie in der Mehrheit ist, die Wähler mit nationalen Parolen zu mobilisieren und ihr nationalistisches Ideal der Gesellschaft aufzudrücken. Bei der SDA äußerte sich dies darin, dass die grüne Flagge des Islams mit dem Halbmond sowie muslimische Grußformeln, die bis dahin fast vergessen waren, zu Symbolen der Partei wurden. Gefährlich ist zudem, dass Izetbegovic zu Zeiten, als er noch Präsident war, seine politischen Freunde mit lukrativen Posten versorgt hat, so dass es zu einer schleichenden Durchdringung des öffentlichen und politischen Lebens durch die SDA kam. In der Armeeführung lässt sich diese Indoktrination ebenfalls erkennen: So besetzte die SDA die höchsten Ränge mit ihren eigenen Mitgliedern, während sie alle hochrangigen serbischen und kroatischen Offiziere, die während des Krieges auf Seiten der bosnischen Armee gekämpft hatten, in den Ruhestand schickte. Der Aufbau von Truppenkontingenten, die islamische Lieder sangen und grüne Kopftücher trugen, sowie die Annahme der Scharia als Verhaltenskodex eines Bataillons fallen noch in die Zeit des Krieges, werden aber von der SDA gefördert. Das erwähnte Aufstellen von grün-weißen Straßenschildern, das Erschweren des Verkaufes von Schweinefleisch, das neue Selbstbewusstsein im Tragen von Kopftüchern und eine Flugblattaktion der „Aktiven Islamischen Jugend“ im Dezember 1997, bei der sie die Muslime aufforderten, nicht mit den Kroaten oder Serben Weihnachten zu feiern, sind weitere Indizien einer „Islamisierung“.

Aber es handelt sich um eine Islamisierung in Anführungszeichen, denn die neue Betonung des Islams ist kein Beleg für die Kontinuität religiöser Traditionen, die vor Ausbruch des Krieges wahrscheinlich nur noch bei einer Minderheit der muslimischen Bevölkerung vorhanden waren. Die gegenwärtige Förderung des Religiösen in äußeren Symbolen und in Abgrenzungsversuchen zum Christentum ist vor allem ein Mittel zur Förderung, Stärkung und Konstruktion nationaler Identität. Die Wahlerfolge der SDA bei den muslimischen Wählern müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden; doch den religiösen Parolen der Partei wie denjenigen der ausländischen Muslime und ihrer wahhabitischen Heilslehre folgen nur die allerwenigsten: Nach wie vor wird auch in muslimischen Kreisen Rakija (Schnaps) getrunken und Schweinefleisch gegessen; das Tragen von Kopftüchern knüpft wahrscheinlich eher an kulturelle Traditionen an und ist Ausdruck eines gestiegenen muslimischen nationalen Selbstbewusstseins.

Die verstärkte Förderung eines muslimischen Nationalbewusstseins hat spätestens heute, nach dem Krieg und dem Friedensvertrag von Dayton, den Prozess der Bildung einer „muslimischen Nation“ in Bosnien abgeschlossen. Er setzte am Ende des 20. Jahrhunderts ein und erfuhr durch die offizielle Anerkennung als Nation in Titos Jugoslawien eine gewaltige Aufwertung. Die muslimische Nationbildung hinkte in der Vergangenheit der serbischen und kroatischen hinterher, doch heute ist die Existenz einer Nation der Muslime nicht mehr hinterfragbar. Die Durchsetzung eines neuen Eigen- und Selbstbewusstseins lässt sich daran erkennen, dass 1993 auf einer „Volksversammlung“ der Muslime der äußerst problematische Begriff für eine Nation, „Muslime“, durch die Bezeichnung „Bosniaken“ ersetzt wurde.

Die Tendenzen zu einer „Islamisierung“ sind daher nicht als Ausdruck eines erstarkten religiösen Fundamentalismus zu sehen, sondern im Kontext der muslimischen Nationbildung in Bosnien. Die gegenwärtig beobachteten Phänomene als Anzeichen für einen sich ausbreitenden Fundamentalismus anzusehen, wäre eine gefährliche begriffliche Vereinfachung der Problemlage in Bosnien und würde ungewollt denjenigen in die Hände arbeiten, die gegen ein multiethnisches Bosnien kämpfen: im Nachhinein würden sich serbische und kroatische Nationalisten in ihrer Behauptung und in ihrer „Rechtfertigung“ für den Krieg, dass sie gegen den islamischen Fundamentalismus kämpfen, bestätigt fühlten und an ihren groß-serbischen beziehungsweise groß-kroatischen Projekten weiterarbeiten. Umgekehrt würde sich bei einer einseitigen Parteinahme des Westens zuungunsten der Muslime die öffentliche Meinung in den islamischen Staaten bestätigt fühlen, die den Bosnienkrieg als „neuen Kreuzzug“ gegen die islamische Welt angesehen hat. Der Nationalismus bei den bosnischen Muslimen muss im Kontext des blutigen Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien gesehen werden; dass er sich überhaupt entwickeln konnte, daran trägt der Westen eine Mitschuld, weil dieser allzu lange zusah, wie Moscheen und Minarette zerstört wurden und Tausende Muslime von ihren Wohnorten vertrieben wurden. Heute – nach dem Krieg – bleibt die schwierige Aufgabe, ausgehend vom Friedensvertrag von Dayton, ein friedliches Zusammenleben der drei Nationen aufzubauen; gegen die nationalistischen Hardliner aller drei Parteien vorzugehen und nicht nur die muslimische Seite mit dem Vorwurf des Fundamentalismus zu konfrontieren.

Gemeinsame ökumenische Initiativen

Von der muslimischen Nation in Bosnien ist die muslimische Glaubensgemeinschaft zu unterscheiden, die der neuen „Islamisierung“ durchaus kritisch gegenübersteht. Ein muslimischer Theologe sagte mir, dass die Moscheen nach dem Krieg zwar voller geworden seien, er aber Zweifel habe, ob die Besucher wirklich alle aus religiösen Motiven zum Freitagsgebet erschienen. Die Tendenz, Religion zu politischen Zwecken zu gebrauchen, wird von Theologen und Vorsitzenden der islamischen Gemeinschaft daher auch kritisiert: So protestierten die Vorsitzenden der islamischen Gemeinde in Sarajevo gegen den Boykottaufruf der „Aktiven Islamischen Jugend“ zum Weihnachtsfest. Der gewählte Vorsitzende der islamischen Gemeinschaft, Reis-ul-Ulema Mustafa Ceric, warnte vor dem islamischen Fundamentalismus und den Verkündigungen einer lautstarken – von arabischen Ländern beeinflussten – islamistischen Minderheit: „Ich rufe unsere Jugend dazu auf, vorsichtig und aufmerksam zu sein und nicht all diesen politischen Aktivisten zu glauben, die unsere Einheit im Namen des Glaubens zerstören wollen.“ Ceric engagierte sich mit den geistlichen Führern der anderen Religionsgemeinschaften auch für mehr Bewegungsfreiheit in Bosnien-Herzegowina, indem sie gemeinsam zu Orten reisten, wo diese noch nicht für die Bevölkerung gewährleistet ist.

Solche gemeinsamen, ökumenischen Initiativen beschränken sich aber allzu häufig noch auf die Führer der jeweiligen Religionsgemeinschaften: Treffen zwischen ihnen scheinen problemlos zu sein, aber solche Kontakte auf niedriger Ebene, etwa in einem studentischen Austausch, zu institutionalisieren, erscheint heute immer noch unmöglich – zu groß sind noch die Barrieren auf allen Seiten. Man kann auch auf keine Tradition zurückgreifen, denn bis zum Ausbruch des Krieges gab es zwischen muslimischen und christlichen Theologen de facto kein offizielles theologisches Gespräch. Allerdings gab es in Bosnien eine alte Tradition guter Beziehungen zwischen katholischen Priestern, vor allem den Franziskanern, und islamischen Geistlichen, die heute in Projekten eines gemeinsamen Chores „Oci – oci“ („Auge in Auge“) und in Friedensgebeten eine Fortsetzung erfährt. Daneben sind es vor allem NGOs und Zusammenschlüsse von jungen Theologen und Theologinnen, die sich im interreligiösen Dialog engagieren und für die Zukunft eines friedlichen Zusammenlebens in Bosnien einsetzen. Ein Beispiel dafür ist „Abraham“, eine Vereinigung für interreligiöse Friedensarbeit, die von Muslimen, Katholiken, Orthodoxen und Juden in der Tradition des abrahamitischen Bekenntnisses zu dem einen Gott gegründet worden ist, und die nach gemeinsamen Wegen zu einer wahrhaften Begegnung der Religionen sucht. Zu diesem Zweck gibt „Abraham“ einmal im Monat eine Zeitschrift heraus, die sich den unterschiedlichen religiösen Traditionen widmet und somit zum Kennen- und Verstehenlernen des jeweils anderen beiträgt. Um nicht nur bei einem näheren Kennenlernen stehen zu bleiben, ist das neueste Projekt von „Abraham“ zu untersuchen, welche Traditionen bei den verschiedenen Religionen für einen Dialog der Religionen sprechen und eine theologische Basis für diesen darstellen könnten.

Für die Zukunft von Bosnien-Herzegowina kann diese Suche nur von Vorteil sein, da sie von Traditionen friedlichen Miteinanders der Religionen in dem Land zeugt. Sie offenbart dazu, dass es im ehemaligen Jugoslawien nirgends Tendenzen zu einem islamischen Fundamentalismus gab. Anzeichen einer Islamisierung aus nationalen Motiven sind neueren Ursprungs und genau zu beobachten, damit der Friedensprozess in Bosnien-Herzegowina nicht gefährdet wird. Aber auf der anderen Seite gilt es dem bosnischen Islam, der eine andere religiöse Tradition als der arabische Islam vorzuweisen hat, zu vertrauen und ihm eine Zukunft in Europa zu eröffnen; denn nicht zuletzt von der Perspektive einer europäischen Zukunft für Bosnien-Herzegowina hängt das Gelingen eines dauerhaften Friedens im Land ab.

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