Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Gerald Hüther über Erziehung und Bildung„Sichere Bindungen aufbauen“

In den vergangenen Jahren ist man gerade durch die Ergebnisse der Hirnforschung zur tieferen Einsicht in die Entwicklung des Menschen gelangt. Wir sprachen mit dem Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther über die pädagogischen Konsequenzen. Die Fragen stellte Stefan Orth.

HK: Herr Professor Hüther, in der Bildungsdebatte greift man zunehmend auch auf die neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre zurück, um besser zu verstehen, was Lernen ist und wie man es angemessen fördern kann. Hat die Hirnforschung die Psychologie als Leitwissenschaft für die Pädagogik bereits ersetzt.

Hüther: Ich glaube nicht, dass die Hirnforschung die Psychologie ablösen wird. Aber sie fügt neue Aspekte für das Verständnis unseres Gehirns hinzu, die das Bild vollkommener machen. Wie andere Wissenschaftsdisziplinen auch sind dieklassischen Naturwissenschaften inzwischen bis an die Grenzen ihrer eigenen Theorien vorgestoßen, die Interdisziplinarität ergibt sich auf diese Weise automatisch aus dem Forschungsprozess. Die Hirnforschung hat deshalb eine herausragende Funktion, weil sie zwischen den naturwissenschaftlichen und den so genannten geistes- oder auch den sozialwissenschaftlichen Disziplinen den Brückenschlag vollzieht.

HK: Die Hirnforschung hat in den neunziger Jahren immer wieder für Aufsehen erregende und viel diskutierte Entdeckungen gesorgt. Welches sind die pädagogisch relevanten Ergebnisse.

Hüther: Die wichtigste Erkenntnis ist sicherlich, dass die Entwicklung des menschlichen Hirns nicht in dem Maße programmiert ist, wie man das bisher geglaubt hat. Bis vor wenigen Jahren ging man noch davon aus, dass es sich gewissermaßen von allein entwickelt, indem ein genetisches Programm abläuft. Heute weiß man: Wir kommen mit Anlagen zur Welt, aber diese genetischen Gegebenheiten versetzen uns lediglich in die Lage, ein hochkomplexes Hirn auszubilden. Aufgrund der so genannten Plastizität des menschlichen Gehirns ist dieses durch Nutzung formbarer als bisher angenommen, gerade in der Phase der Ausreifung während der frühen Kindheit. Wie die endgültigen Verschaltungsmuster im Hirn dann am Ende erfolgen, hängt ganz wesentlich von den Bedingungen ab, die ein Kind vorfindet: die frühe Interaktion mit der Mutter als primärer Bezugsperson, weiterhin die familiären und gesellschaftlichen Sozialisationsverhältnisse.

HK: Wenn die frühkindlichen Erfahrungen die Struktur des Gehirns als menschliches Organ erst prägen: Wie muss man sich das Ineinander von Erlebnissen und neurobiologischen Prozessen vorstellen?

Hüther: Im Gehirn gibt es komplexe Verschaltungsmuster, die in Abhängigkeit von der Nutzung stabilisiert und destabilisiert werden können. Bestimmte Arten der Nutzung führen dazu, dass gewisse Verknüpfungen stärker genutzt werden und deshalb auch vermehrt ausgebaut und gefestigt werden. Das ist mit den modernen bildgebenden Verfahren inzwischen recht gut darstellbar: Es gibt heute Möglichkeiten, in das lebendige Gehirn hineinzuschauen und zu verfolgen, welche Hirnbereiche und welche neuronalen Verschaltungen aktiviert werden, wenn man etwas Bestimmtes tut. Beispielsweise aktiviert ein Musiker beim Hören eines Musikstückes viel mehr Hirn als jemand, der keine Beziehung zur Musik hat.

HK: Wann geschieht dann aber Lernen? Jeder ist im Laufe eines Tages doch einer Fülle von Eindrücken ausgesetzt, die nicht alle gleichermaßen wichtig sein können, und mit vielfältigen Tätigkeiten beschäftigt, die in den meisten Fällen völlig unbewusst ablaufen.

Hüther: Ohne die Aktivierung der inzwischen genauer erforschten emotionalen Zentren ist es sehr schwer, etwas Neues im Hirn zu verankern. Lernen wird genau dann in Gang gesetzt, wenn einem etwas unter die Haut geht, wenn man gezwungen wird, eine neue Lösung zu finden, weil man die Herausforderung nicht routinemäßig abarbeiten kann. Die Bilder, die im Hirnbereich zusammenlaufen, werden mit den dort gespeicherten abgeglichen. Wenn die nicht zusammen passen, entsteht eine Unruhe. Dieses unspezifische Erregungsmuster breitet sich aus und erreicht im Hirn die limbischen Regionen, die wiederum die körperlichen Prozesse regulieren: Die Haare stehen einem zu Berge, der Schweiß bricht aus, der Puls schlägt bis zum Hals. Der Körper meldet, dass wir für die als bedrohlich empfundene Situation eine Lösung finden müssen.

„Unter starker emotionaler Aktivierung werden Erlebnisse ins Hirn eingebrannt“

HK: Wie sieht diese Lösung dann aus einer neurobiologischen Perspektive aus?

Hüther: Gleichzeitig mit der Erregung der emotionalen Zentren werden vermehrt wachstumsfördernde Botenstoffe ausgeschüttet, die in der Lage sind, die nachgeschalteten Nervenzellen etwas tief greifender in Erregung zu versetzen und zu erschüttern. Dann werden all die Verknüpfungen, die man für die Problemlösung benützt, gefestigt und weiter gebahnt. Je häufiger man die einmal gefundenen Bewältigungsstrategien verwendet, desto breiter werden die Wege. Wenn die einmal erfolgten Verschaltungsmuster lange nicht in Anspruch genommen werden, können sie sich allerdings auch wieder auflösen. Und wenn ständig Unruhe herrscht, sprich: wenn jemand dauerhaft Angst, Belastungen, Verunsicherungen erleben muss, wird es sehr schwer, Neues zu erlernen. Das kreative Potenzial des Hirns kann dann nicht ausgenutzt werden.

HK: Inwiefern kommt es nun aber auf Emotionen an, um Erfahrungen im Hirn verankern zu können?

Hüther: Allen Warnungen zum Trotz macht jedes Kind die Erfahrung mit der heißen Herdplatte. In der Regel hat es sich diese Gefahr nach einem einzigen Versuch gemerkt. Unter starker emotionaler Aktivierung werden solche Erlebnisse ins Hirn eingebrannt – unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ sind. Vernachlässigung in der Kindheit, geschlagen werden, hilfesuchend sich an jemanden wenden und abgewiesen werden: Das sind ebenfalls emotionale Erfahrungen. Die dabei gemachten Wahrnehmungen werden im Hirn verankert und die entsprechend gefärbten Erfahrungen bleiben bestimmend für die Art und Weise, wie man in den nächsten Situationen mit ähnlichen Problemstellungen umgeht.

HK: Singvögel müssen innerhalb von bestimmten Tagen am Beginn ihres Lebens den ihnen eigenen Gesang erlernen. Gibt es beim Menschen in vergleichbarer Weise bestimmte entwicklungspsychologische Fenster?

Hüther: Das Hirn des Menschen funktioniert ähnlich, die Entwicklungsprozesse sind jedoch ungemein entzerrter. Ein Vogelhirn ist nach 14 Tagen ausgereift, beim Menschen dauert das 15 Jahre. Beim Singvogel muss der Vater in der Nähe des Nestes singen. Je komplizierter der Gesang ist, desto mehr Verschaltungen können im Gesangszentrum der Jungvögel stabilisiert und im nächsten Jahr von dem Jungen genutzt werden, um diesen Gesang zu reproduzieren. Ähnlich ist es beim Menschen. Der frontale Cortex scheint jedoch, zumindest bis zur Pubertät, nie aufzuhören, entsprechende Angebote zu machen. Natürlich gibt es für einzelne Teilleistungen günstige Fenster, in denen man etwas lernen sollte, wie etwa das zweite und dritte Jahr für den Spracherwerb. Wenn diese aus irgendwelchen Gründen verpasst werden, ist es anschließend schwieriger, das Entsprechende nachzulernen. Aber das menschliche Hirn ist so plastisch, dass man auch nach Abschluss einer solchen Phase noch genügend Möglichkeiten hat, Neues hinzuzulernen – allerdings unter der Voraussetzung, dass die emotionalen Zentren dabei auch hinreichend stark aktiviert werden.

„Der beste Weg ist das Wecken von Neugier“

HK: Sie bezeichnen das Gehirn in Ihren Publikationen auch gerne als „Sozialorgan“. Warum sind soziale Beziehungen für die Hirnentwicklung und die unterschiedlichen Schritte des Lernens so wichtig?

Hüther: Die Bedeutung von Beziehungen ist der zweite wichtige Aspekt, den die moderne Hirnforschung wieder in das Blickfeld gerückt hat. Wir haben erkannt, dass unser Hirn nicht nur ein Denkinstrument ist, in dem kognitive Strukturen eine besondere Rolle spielen, sondern wir fangen an zu verstehen, dass wir es in erster Linie als Sozialorgan nutzen. Es ist also primär für den Austausch mit anderen optimiert und entsprechend strukturiert.

HK: Was heißt dies für die Frage nach einer „guten Erziehung“, über die derzeit ebenfalls heftig diskutiert wird?

Hüther: Im Grunde gibt es zwei Erziehungsfehler. Der erste besteht darin, Kinder zu vernachlässigen. Das hat es immer schon gegeben. Solche Kinder machen die Erfahrung, dass sie mit den Problemen allein fertig werden müssen. Meist sind sie durch diese Probleme überfordert – damit ist schon der erste Weg zur Fehlentwicklung gebahnt. Neben dieser traditionellen Form, wie die Hirnentwicklung bei Kindern in falsche Bahnen geraten kann, gibt es die modernere Variante, die Verwöhnung. Wenn Eltern versuchen, ihr Kind vor allem zu schützen, was sein Gleichgewicht erschüttern könnte, es wie in Watte zu packen, hindern sie es daran, wichtige Erfahrungen zu machen.

HK: Welche Erfahrungen wären das?

Hüther: Kinder können erstens die Erfahrung machen, dass sie von Zeit zu Zeit selbst in der Lage sind, ein Problem zu lösen. Zweitens ist die Erfahrung unverzichtbar, dass es jemanden gibt, der ihnen bei der Suche nach Lösungen hilft. Kinder können sonst kein Vertrauen entwickeln: weder in ihre eigenen Fähigkeiten, noch – was weitaus gravierender ist – in die Fähigkeiten anderer, gemeinsam mit ihnen Probleme zu lösen. Nur so entstehen sichere Bindungsbeziehungen. Kinder ohne sichere Bindungen sind aber auch nicht mehr in der Lage, Anregungen oder Zurechtweisungen durch Eltern oder andere Erzieher anzunehmen. Sie müssen pseudo-autonome Bewältigungsstrategien entwickeln: ein Teufelskreis von Selbstbezogenheit. Solche Kinder ziehen sich in eigene, selbst geschaffene Welten zurück, lassen sich von Erwachsenen nichts mehr sagen und reagieren herablassend auf sie. Sie leiden unter Selbstüberschätzung, weil sie in den von ihnen gebastelten Welten keine neuen Erfahrungen machen können, aber nur diese kleinen Welten beherrschen.

HK: Offensichtlich kommt es auf der einen Seite darauf an, Verunsicherungen nicht prinzipiell auszuweichen, die Kinder dabei aber nicht allein zu lassen. Wie ist diese Gratwanderung bei der Erziehung zu schaffen?

Hüther: Der beste Weg ist das Wecken von Neugier. Lösungen, die man angesichts solcher geweckten Neugier findet, werden unter Beteiligung der emotionalen Zentren verankert. Eine solche Neugier kann jedoch nur von jemand geweckt werden, dem sich das Kind verbunden fühlt. Wenn Kinder keine solche Neugier stiftenden und Orientierung bietenden Anregungen bekommen, sondern lediglich mit Reizen überflutet werden, die sie nicht verarbeiten können, bricht ihr Neugierverhalten in sich zusammen, neue Erfahrungen können nicht gemacht und die entsprechenden Verschaltungen können nicht gebildet werden.

HK: Auch Erwachsene werden doch immer wieder mit Situationen konfrontiert, die sie letztlich nicht lösen können.

Hüther: Wir Erwachsene wissen mit Schwierigkeiten und Belastungen umzugehen. Wir bauen zuerst auf unsere Kompetenzen, die wir uns im Lauf des Lebens angeeignet haben, Kinder hingegen noch nicht ausgebildet haben können. Wenn wir damit an ein Ende gekommen sind, brechen wir entweder ein oder aber wir verlassen uns zweitens auf andere Menschen zur Lösung des wahrgenommenen Problems. Diese Ressource trägt viel weiter als die eigene Kompetenz. Die dritte Komponente schließlich ist das Gefühl des Eingebundenseins in eine Halt bietende Welt. Dieses Urvertrauen können Kinder nur erwerben, wenn sie in sicheren Bindungen aufwachsen. Das Vertrauen in die Welt ermöglicht dann auch den Erwerb von eigenen Kompetenzen.

HK: Was passiert mit dem kindlichen Hirn, wenn solche Sicherheit bietenden Beziehungen, die ihm so etwas wie ein Urvertrauen vermitteln, nicht gefunden werden?

Hüther: Dann können sich diejenigen Hirnstrukturen, die am komplexesten sind, nicht ausbilden. Beim Menschen ist das der so genannte Stirnlappen. Die hier ausreifenden Nervenzellverschaltungen sind für die Steuerung all jener Fähigkeiten zuständig, die uns gegenüber den Tieren auszeichnen: Selbstwirksamkeitskonzepte, Einfühlungsvermögen, Handlungsplanung und Impulskontrolle. Die dafür erforderlichen, hochkomplexen Verschaltungsmuster können sich jedoch nur ausbilden und stabilisieren, wenn im Frontalhirn nicht fortlaufend Unruhe herrscht.

HK: Kommt es demnach bei einer stärkeren Berücksichtigung der emotionalen Beziehungen für das Lernen in der kindlichen Entwicklung vor allem auf die Eltern an?

Hüther: Es kommt sicherlich in viel stärkerem Maße als bisher gedacht auf den elterlichen Einfluss an. Allerdings leben Eltern heutzutage auch nicht in einer abgeschlossenen Welt. Es ist heute schwer, gute Eltern zu sein. Kinder werden heute sehr viel früher Gedanken und Vorstellungen ausgesetzt, die mit den elterlichen nicht übereinstimmen und oft genug sehr fragwürdig sind. Auch gab es noch nie so viele verunsicherte Eltern wie heute. Hier müssen die Fragen ansetzen.

„Bereits während der Schwangerschaft bleiben Ressourcen ungenutzt“

HK: Woher kommt die Unsicherheit bei den Erziehern heute? Was war früher anders?

Hüther: In den zurückliegenden Generationen gab es immer die Möglichkeit, auf das Wissen der früheren Generationen zurückzugreifen. Man hat schlicht gesehen, wie andere mit Kindern umgehen und damit ein intuitives Erziehungswissen erworben und von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist ein immenser Kulturschatz gewesen. Der ist durch das Auseinanderbrechen der Familienstrukturen stark geschrumpft. Gleichzeitig werden Eltern durch Erkenntnisse aus dem Bereich der Naturwissenschaft und der Psychologie beeinflusst. Das aber ist nur angelerntes Wissen, das man in Büchern gelesen hat, es beruht nicht auf eigenen authentischen Erfahrungen. Auch die Erziehungsratgeber, bei denen die einen dieses behauptet haben und die anderen zehn, zwanzig Jahre später das Gegenteil, haben viel Unheil gestiftet, weil Eltern in ihrer Sache nicht mehr sicher sind. Unsichere Eltern aber können keine sicheren Bindungen aufbauen. HK: Ab welchem Zeitpunkt können Eltern überhaupt eine Bindung zu ihren Kindern aufbauen? Ist dies von der Geburt an in vollem Umfang möglich?

Hüther: In traditionellen Kulturen gibt es bereits im vorgeburtlichen Bereich Rituale, die dazu beitragen, dass die Bindung zwischen dem ungeborenen Kind und der Mutter sowie der Gemeinschaft gestärkt wird. Eine schwangere Frau wird so gut es geht vor allen äußeren Bedrohungen besonders stark geschützt, damit das ungeborene Leben keinen Irritationen ausgesetzt wird. Inzwischen ist erwiesen, dass zum Beispiel Veränderungen des Herzschlags der Mutter vom ungeborenen Kind miterlebt werden, psychische Belastungen in der Schwangerschaft können diese Entwicklung des ungeborenen Kindes ungünstig beeinflussen. Noch viel wichtiger ist die damit einhergehende mangelnde Fähigkeit der Schwangeren, eine sichere emotionale Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind aufzubauen. Eine Mutter, die Streit mit ihrem Mann hat oder um ihren Arbeitsplatz fürchtet, kann sich nicht auf das Kind freuen. Bereits während der Schwangerschaft bleiben hier also Ressourcen ungenutzt, um Bindungen vorzubereiten und zu festigen. Dann kommt erst die Geburt, die leider heutzutage immer häufiger als Kaiserschnitt durchgeführt wird.

HK: Was hat die Art der Geburt mit der Gehirnentwicklung des neuen Erdenbürgers zu tun?

Hüther: Der natürliche Geburtsprozess ist von der Natur her bindungsfördernd. Während der Geburt kommt es zur Ausschüttung einer ganzen Reihe von Hormonen, die sonst nicht ausgeschüttet werden. Durch diese „Bindungshormone“ werden bestimmte bereits angelegte Netzwerke aktiviert, die eine Bindungsbereitschaft schaffen und erleichtern. Wenn es aus kosmetischen Gründen zu einem Kaiserschnitt kommt, ist eben eine dieser Ressourcen mutwillig verschenkt. Das gleiche gilt für die Stillphase. Während des Nationalsozialismus konnte man in den entsprechenden Büchern lesen, man solle dem Kind nicht in die Augen schauen und es in jedem Fall nur zehn Minuten anlegen. Diese fatalen Meinungen haben sich noch zwei, drei Generationen gehalten.

HK: Wenn sichere Bindungen die Voraussetzung für die Weitergabe von Fähigkeiten, Haltungen und Wertorientierungen der Vorbilder sind, woran merkt ein Kind überhaupt, ob jemand als Vorbild taugt?

Hüther: Kinder können viel stärker als wir uns das vorstellen können, hinter das gesprochene Wort schauen. Sie haben in den ersten Monaten bereits gelernt, allein auf die Stimme zu hören und erkennen deshalb schnell, ob der Sprecher sicher oder unsicher ist. An unsichere Menschen kann ich mich jedoch nicht anlehnen, das erkennen die Kinder. Hingegen sind sie begeistert, wenn sie sehen, wie Erwachsene von etwas fasziniert sind. Sie möchten dann dieses Faszinosum für sich selbst entdecken.

HK: Kinder können nicht ein Leben lang bei ihren Eltern bleiben. Ab wann ist eine Ablösung notwendig und sinnvoll?

Hüther: Wenn ein Kind sichere Bindungen erlebt, kann es sich auch vorwagen und Neues entdecken – ein Prozess, der bis zur Pubertät reicht. Je sicherer das Kind ist, desto mehr Kompetenzen eignet es sich an, es wird mutiger, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Je kompetenter das Kind wird, desto mehr treten die Bindungen an die ersten Bezugspersonen zurück. Diese aber sind wie die Wurzeln, die jede Pflanze braucht, um einen Spross zu entwickeln. Es gibt allerdings Kinder, die nur flache Wurzeln entwickeln können und leicht weggeblasen werden.

„Kinder müssen wissen, warum sie in die Schule gehen sollen“

HK: Von welchem Zeitpunkt an ist denn die erste Ablösung von den Eltern möglich?

Hüther: Es ist schwierig zu sagen, ab einem Alter von drei Jahren kann jedes Kind dieses und sollte es jenes tun. Jedes Kind hat seine eigene Entwicklungsdynamik. Deshalb müssen wir immer wieder neu Angebote machen und Anregungen geben – und wenn unsere Angebote und Anregungen zu viel zu werden drohen, muss das Kind Halt finden können. Kindergärten sind etwas Großartiges, vorausgesetzt die Erzieherinnen können sich den Kindern so widmen, dass deren Bedürfnisse respektiert werden. Das geht nur, wenn die Gruppen nicht so groß sind. Eine Kleinfamilie ist auf der anderen Seite ebenfalls schnell mit ihren Bildungsangeboten am Ende ihrer Kunst angekommen, viele Möglichkeiten für das Kind werden nicht ausgeschöpft. Dann ist es gut, wenn Kinder Gelegenheit bekommen, mit anderen Kindern gemeinsam zu lernen und zu spielen.

HK: Welche Forderungen ergeben sich aus diesen neueren Erkenntnissen der Hirnforschung für die Organisation von Bildung bei uns in den Schulen, die nicht erst seit Veröffentlichung der PISA-Studie zu den Mega-Themen unserer gesellschaftlichen Diskussion gehört?

Hüther: Meiner Ansicht nach sind es nicht so sehr einzelne Teilbereiche von Schule, die anders gestaltet werden müssen. Die skandinavischen Länder beispielsweise, die in der PISA-Studie vorbildlich abgeschnitten haben, zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen jedes einzelne Kind wichtig ist. Sie sind der Überzeugung, dass sie es sich nicht leisten können, einzelne Kinder durch das Netz der Bildung hindurchfallen zu lassen. Die Sorge um die nachfolgende Generation hat dort einen enormen Stellenwert. Das ist bei uns nicht in dem Maße der Fall. Eine umfassende Bildung hat in unserer Gesellschaft deutlich an Wert verloren.

HK: Warum ist das so? Man kann schließlich nicht sagen, dass Deutschland sich seine vielen Bildungsangebote nichts kosten ließe.

Hüther: Die Gründe sind vielfältig. Viele Eltern sind davon ausgegangen, dass Bildung von alleine funktioniert. Schulen waren der Überzeugung, man müsse nur optimale kognitive Lernvoraussetzungen bieten, dann würden die Kinder die Lerninhalte auch aufnehmen. Es ist in den Schulen aber nicht hinreichend gefragt worden, was man tun muss, um Kinder zu motivieren. Kinder müssen wissen, warum sie in die Schule gehen sollen. Besonders fatal ist in Deutschland der Umstand, dass diejenigen, die sich um die Vermittlung von Bildung kümmern, in der Öffentlichkeit in einer unverantwortlichen Weise diskreditiert worden sind. Insbesondere ist problematisch, wenn sich Eltern mit ihren Kindern gegen die Lehrer verbünden, um den häuslichen Frieden zu sichern. Solche Eltern müssen sich mehr als bisher fragen, was das für die Motivation des Kindes bedeutet: von einem Lehrer etwas lernen zu müssen, der keine Anerkennung besitzt. Auf diese Weise die Wissbegierde zu zerstören, ist das Schlimmste, was Eltern tun können. Umgekehrt ist deshalb von allen Lehrern zu fordern, dass sie Begeisterung für ihre Sache wecken.

HK: Wird das Gehirn denn heute in der Schule vielseitig genug gefördert? Wie sind die derzeitigen Entwicklungen bei der Bildungsreform zu bewerten?

Hüther: Es gibt eine Tendenz, dass wir bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker fordern als andere. Nach der PISA-Debatte stehen die Fähigkeit zu lesen, die Rechtschreibung zu beherrschen, Rechnen zu können und Fremdsprachen zu lernen im Vordergrund. Diese Fähigkeiten sind wichtig. Aber es gibt eben auch ganz andere Fähigkeiten, die allzu leicht aus dem Blick geraten: den eigenen Körper zu beherrschen, sich zu Rhythmen zu bewegen, zu musizieren, zu spielen. Das alles sind wichtige Ressourcen für die weitere Entwicklung. Generell muss man sagen, dass jede Form von einseitiger Nutzung des Hirns dazu führt, dass andere Fähigkeiten nicht entwickelt werden können. Deshalb wäre von jeder Bildung und Erziehung zu fordern, dass alle angelegten Möglichkeiten gleichermaßen gefördert werden – und nicht nur dasjenige, was jemand bereits gut kann. Spezialisieren müssen wir uns später alle noch.

„Es ist vor allem eine Frage der Einstellung Kindern gegenüber“

HK: Gibt es nicht sogar den umgekehrten Effekt, dass ich mit einer bestimmten Tätigkeit eine Fülle von unterschiedlichen Fähigkeiten fördere?

Hüther: Ja, wenn es sich um eine hinreichend anspruchsvolle Tätigkeit handelt. Nehmen wir das Beispiel Musik. All das, was vom Frontalhirn gesteuert wird: Selbstwirksamkeit, Impulskontrolle, die Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen, wird beim Musizieren auf einmal genutzt, gefestigt, stabilisiert. Es ist kein Wunder, dass musizierende Kinder sich auch ansonsten positiv entwickeln. Was geschieht umgekehrt eigentlich mit Kindern, die drei oder vier Stunden am Tag vor dem Fernseher zubringen?

HK: Manche Medienwissenschaftler bemühen sich immerhin um den Nachweis, dass in den unterschiedlichen Fernsehprogrammen durchaus auch etwas gelernt werden kann.

Hüther: Das mag auch sein. Aber vor allem kleine Kinder lernen dabei etwas, was sich negativ auf ihre gesamte weitere psychische Entwicklung auswirkt, nämlich das Gefühl, dass es auf ihre Mitwirkung bei der Gestaltung der Welt nicht ankommt. Man kann das auf beeindruckende Weise beobachten, wenn ein Kind das erste Mal vor den Fernseher gesetzt wird. Jedes Kind versucht dann, mit dem Fernseher zu reden, zu interagieren. Es will in einen Dialog treten mit dem, was dort passiert, es will sich einbringen. Das Kind macht dabei eine frustrierende Erfahrung, die sich allzu leicht ins Hirn einbrennt: Auf meine Beteiligung bei der Gestaltung dieser Welt kommt es nicht an. Das Selbstwirksamkeitskonzept wird beschädigt, die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, als sinnlos empfunden: Damit sind zwei wichtige Bereiche systematisch zerstört, ohne dass dies leicht zu kompensieren wäre.

HK: Was ist demgegenüber Ihre Forderung?

Hüther: Es muss von all denen, denen das Wohl und Wehe der nachwachsenden Gesellschaft am Herzen liegt, noch einmal ernsthaft nachgedacht werden. Darf jemand Kinder so beeinflussen, dass sie ihr Hirn in einer bestimmten Weise benutzen und damit auch strukturieren, obwohl die verantwortlichen Personen gar keine Beziehung zu den Kindern haben, diese auch nicht suchen, sondern an anderem interessiert sind: Einschaltquoten, Werbeeinnahmen, Profit? Kinder können sich in diesen Dingen nicht frei entscheiden. Das machen wir uns nicht bewusst. Dabei müsste man sich nur in ein Kind hineinversetzen. Vielleicht ist es das, was uns heute grundsätzlich viel zu sehr abhanden gekommen ist: Die Fähigkeit, die Welt aus der Perspektive unserer Kinder zu betrachten.

HK: Welche konkreten Reformen unseres Schulsystems wären demnach am Dringlichsten, um den Bildungsnotstand zu überwinden?

Hüther: Wenn die Saat der Bildung aufgehen soll, brauchen wir Voraussetzungen, die nicht durch das Schulsystem selbst gewährleistet sein können. Wir haben dafür zu sorgen, dass es ausgebildete Lehrer gibt, die hoch motiviert sind, die authentisch sind und das Bedürfnis verspüren, neues Verstehen zu vermitteln. Dafür sind dann Räume und Voraussetzungen zu schaffen. Dies alles muss von Bildungspolitikern gewährleistet werden. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es Länder gibt, die bei PISA gut abgeschnitten haben, obwohl die Schulen materiell nicht so gut ausgestattet sind. Es ist vor allem eine Frage der Einstellung Kindern gegenüber. Unabhängig davon, was Schulreformen leisten können: Die Gesellschaft muss es schaffen, ihre Kinder dazu zu bringen, begeistert in die Schule zu gehen. Das ist nicht nur eine Sache der Schule und nicht nur eine Sache der Lehrer, sondern eine Sache von uns allen. Wir brauchen Erwachsene, denen die Zukunft unserer Kinder am Herzen liegt und die eine umfassende Bildung als ein ganz hohes Gut betrachten. Dann kann auch die Schule wieder zu einer Einrichtung werden, von der Erwachsene und Kinder sagen: Es ist gut, dass es sie gibt.

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