Kaum ein islamisches Land entzieht sich immer wieder so sehr der Klassifizierung in dieser oder jener Hinsicht wie der Iran. Die Fatwa gegen den anglo-britischen Schriftsteller Salman Rushdi ist weiterhin in Kraft, während andererseits der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas in Teheran Vorträgehalten kann. Immer wieder wird von dem Verbot oppositioneller Zeitungen und Zeitschriften im Iran berichtet, und gleichzeitig tritt Klaus Peymann mit seinem Berliner Ensembleauf. Zahlreiche weitere derartige gegensätzliche Entwicklungen könnten hier noch aufgezählt werden. Wir hören auf der einen Seite von einer allgemeinen Dialogbereitschaft auch der iranischen Geistlichkeit mit christlichen Gesprächspartnern, andererseits ist in Veröffentlichungen dieser und anderer schiitischer Gelehrter von der „Westoxikation“, der Vergiftung der iranischen Gesellschaft durchwestliche Techniken, Erfindungen und kulturelle und soziale Entwicklungen die Rede, und Mitglieder der iranischen Fußballnationalmannschaft werden wegen eines Bordellbesuchesmit 70 Stockhieben bestraft. Nicht nur dem flüchtigen Beobachter kommen diese divergierenden Nachrichten merkwürdig vor. Was steckt hinter diesen Meldungen?
Der Iran ist ein Land, das seine nationale Identität vor allem durch die schiitische Form des Islams erhält. In dieser islamischen Konfession spielen die Rechtsgelehrten, die Mujtahids, eine besondere Rolle. Jeder schiitische Gläubige fühlt sich einem solchen Rechtsgelehrten durch eine enge autoritäre Beziehung verbunden. Zu irgendeinem Zeitpunkt hat er sich für eine derartige juristische und religiöse Autorität entschieden und diese Beziehung dauert bis zum Tod. Rechtliche und religiöse Äußerungen eines Mujtahid sind für den Gläubigen verbindlich. Der Gläubige entrichtet im Übrigen einen jährlichen Obolus an seinen Rechtsgelehrten. Auf diese Weise können sehr große Summen zusammenkommen, mit denen die Gelehrten Schulen und Hochschulen, aber auch karitative Projekte finanzieren. Aus einer solchen Beziehung kann sich nur der lösen, der eine wissenschaftliche Kompetenz in allen theologischen und ethischen Bereichen erworben hat, die der bisherigen Autorität ebenbürtig ist. Solch eine Auflösung der Beziehung geschieht infolgedessen nicht eben häufig. Auch innerhalb der Gruppe der Rechtsgelehrten bestehen die Autoritätsverhältnisse weiter. Daher hat sich im schiitischen Islam unter den Religionsgelehrten eine Hierarchie inklusive entsprechender Titel entwickelt. Man kann hier wohl von einem Klerus sprechen.
Eine Hierarchie der schiitischen Religionsgelehrten
An der Spitze dieses Klerus steht der marja‘ al-taqlîd (Quelle der Nachahmung). Es gibt allerdings kein Verfahren, nach dem diese höchste Autorität ausgewählt wird. In stillschweigender Übereinstimmung kommen die führenden Gelehrten zu der Überzeugung, dass dieser oder jener Kollege als höchste Autorität anzuerkennen ist. Dieser Vorgang kann aber viele Jahre dauern und im Endeffekt dadurch entschieden werden, dass einer der möglichen Kandidaten alle seine Konkurrenten überlebt. Seit 1992 der letzte marja’al-taqlîd, der im Irak lebende Ayatollah al-Kho’i gestorben ist, befindet sich die schiitische Welt in einer Krise um die höchste Autorität. Fragt man heute nach dem marja‘ al-taqlîd, wird dieser oder jener Name genannt mit dem Zusatz, dass er der nächste marja‘ sein könne. Zur Zeit werden dem im Irak lebenden Ayatollah al-Sistani die größten Chancen, marja’al-taqlîd zu werden, eingeräumt. Der oberste Rechtsgelehrte wird selbstverständlich nicht nur aus den schiitischen Gelehrten des Iran, sondern natürlich auch und vor allem des Irak und des Libanon ausgewählt. Die Unsicherheit über die Führung wirkt sich aber vor allem im Iran aus.
Innerhalb der Gruppe der schiitischen Rechtsgelehrten finden sich derzeit zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen von den Pflichten und Aufgaben eines mujtahid. Eine Gruppe berät und führt ihre Anhängerschaft in religiösen wie auch durchaus alltäglichen Fragen der Lebensführung im Sinne der Erfüllung einer seelsorgerischen Pflicht, lehnt aber jede Einmischung in die konkrete Tagespolitik ab. Ihre Mitglieder werden als „Quietisten“ bezeichnet. Sie fühlen sich Raumes an der Berliner Humnur dann veranlasst, in den Lauf einer politischen odergesellschaftlichen Entwicklung einzugreifen, wenn eineschwerwiegende Gefahr fürdie Existenz oder die Identität des schiitischen Islams entstanden ist. Auf die Gesamtheit der schiitischen Religionsgelehrten bezogen wird diese Einstellung wohl eine deutliche Mehrheit finden. Die andere Gruppe ist dagegen der Meinung, dass die Rechtsgelehrten die Verpflichtung haben, auch die Tagespolitik im Sinne schiitischer Normen zu lenken. Formuliert wurde diese These von dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini in seinem Buch velayet-e faqih (Die Herrschaft des Rechtsgelehrten). Diese „aktiven“ Gelehrten spielen in der iranischen Politik seit 1979 eine dominierende Rolle. Gelehrte dieser Gruppe verschließen sich dabei durchaus nicht dem Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen im Iran oder mit westlichen Gesprächspartnern. So nehmen sie etwa teil an den Diskussionen, die zwischen christlichen österreichischen Wissenschaftlern und iranischen Gelehrten seit einigen Jahren stattfinden. Auf die von Andreas Bsteh und Seyed A. Mirdamadi herausgegebenen Dokumentationen dieser Gespräche sei ausdrücklich hingewiesen: „Dialog. Gerechtigkeit in den internationalen und interreligiösen Beziehungen in islamischer und christlicher Perspektive“ sowie „Dialog: Werte, Rechte, Pflichten. Grundlagen einer gerechten Ordnung des Zusammenlebens in christlicher und islamischer Sicht“ (Mödling 1997 und 2001).
Bei einer solchen Veranstaltung traf einer der iranischen Gesprächsteilnehmer folgende Feststellung, die die grundsätzliche Haltung der „aktiven“ Rechtsgelehrten verdeutlicht: „Schließlich möchte ich auf die Frage zurückkommen, ob eine Regierung und die jeweiligen Machthaber die Menschen dazu zwingen können, den göttlichen Gesetzen nachzukommen und sie zu befolgen. Bejahe ich diese Frage, so stütze ich mich dabei auf die Tatsache, dass der Mensch Gottes Geschöpf ist und Gott daher über ihn ein natur- und wesensmäßiges Verfügungsrecht hat. Hinzu kommt, dass Menschen, die sich durch eine freie Wahl zu einer Religion bekennen und von deren Gesetzen, Propheten und heiligen Schriften überzeugt sind, selbstverständlich diese Gesetze auch befolgen. Und einer religiösen Regierung, die diese Gesetze durchführt, ist dann klarerweise Folge zu leisten. Ist ein religiöser Führer durch die zuständige Ratsversammlung gewählt worden, ist ihm ebenso Folge zu leisten, wie wenn der Regierende der Prophet selbst ist.“
Es kann nun nicht verwundern, dass sich in der politischen Praxis sehr unterschiedliche Positionen innerhalb der Gruppe der „aktiven“ Gelehrten ergaben, die sich in entsprechenden Parteiungen organisiert haben. Westliche Beobachter unterschieden vor allem drei ideologische Positionen. Die wohl immer noch mächtigste Gruppe ist die „traditionelle Rechte“. Ihr gehört der „oberste Führer“ des Iran, Ali Khamene’i an wie auch Parlamentspräsident Nateq-Nuri. Die Gruppe dominiert auch einige der wichtigsten politischen Machtzentren des Landes, vor allem Teile der verschiedenen Milizen und bewaffneten Streitkräfte und der Judikative. Innerhalb der Bevölkerung findet sie Unterstützung bei den einflussreichen traditionellen Bazar-Händlern und Großgrundbesitzern. In ihren politischen Äußerungen betonen die Geistlichen der „traditionellen Rechten“ die Bedeutung des Privateigentums und des privaten Unternehmertums. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werden als Teil der göttlichen Ordnung angesehen. Massenarmut und Klassengegensätze müssen durch religiöse Solidarität, wie sie durch Spenden und die Einrichtungen karitativer Stiftungen zum Ausdruck kommt, in der Balance gehalten werden. In der politischen Praxis haben die „traditionellen Rechten“ ein ökonomisches System befördert, in dem staatliche Einrichtungen wirtschaftliche Hilfe für die Armen bereitgestellt haben.
Auf diese Weise versuchte die Gruppe, die wirtschaftliche und geistige Abhängigkeit der unteren Schichten von ihnen zu verfestigen. Sie propagieren einen theokratischen Staat, und ihre Außenpolitik ist durch eine scharfe Ablehnung des Westens, vor allem der USA, gekennzeichnet. Ihre Legitimierung beziehen die „traditionellen Rechten“ aus Khomeinis velayet-e faqih. In diesem Buch wird allerdings festgelegt, dass der beste und gelehrteste Geistliche die Nation führen solle. Im Fall des Revolutionsführers Khomaini war diese Position kaum umstritten. Sein Nachfolger Khamene’i gilt aber vor allem nicht als großer Gelehrter. Um den Rang eines Ayatollah zu erlangen, muss eine umfangreiche wissenschaftliche Schrift vorgelegt werden, die von der Mehrzahl der großen Ayatollahs als solche akzeptiert wird. Eine derartige „Habilitationsschrift“ liegt von Khamene’i nicht vor und ist wohl auch nicht zu erwarten. Diese Tatsache muss als eine sich wahrscheinlich verschärfende Legitimationsschwäche der „traditionellen Rechten“ gesehen werden. Die „modernistische Rechte“ kann als Vertretung liberalerer Positionen angesehen werden. Ihr gehören Geistliche an, die ein eher technokratisches Staatsverständnis haben. Als ihr Führer wird der frühere Präsident Ali Akbar Rafsanjani angesehen. Ziel der Gruppe ist es, den Iran in einen modernen Staat umzuwandeln, wobei sie jedoch die führende Rolle des schiitischen Islam und die Bedeutung der Islamischen Revolution weiterhin betonen. Investitionen müssen aus staatlichen wie aus privatwirtschaftlichen Quellen finanziert werden. Die Mitglieder der „modernistischen Rechten“ glauben, dass eine weitere Industrialisierung des Landes und eine Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Kräfte die Souveränität des Iran stärken werden. Ihre Außenpolitik ist durch die Bemühung um Vertrauensgewinne gegenüber den Nachbarn und eine vorsichtige Öffnung gegenüber dem Westen gekennzeichnet.
Die dritte Gruppe, die „islamische Linke“, hat in den mehr als 20 Jahren der geistlichen Herrschaft in Iran den weitesten ideologischen Weg zurückgelegt. Zu ihr zählten die Studentenführer aus der Zeit der Besetzung der US-Botschaft und Vertreter von Positionen, die die Islamische Revolution in die Nachbarländer exportieren wollten. In der Zeit der Präsidentschaft von Rafsanjani hatten sie aber mehr und mehr von ihrem politischen Einfluss verloren. Etwa 1992 war aber in dieser Gruppe ein ideologischer Wandel hin zu liberaleren Positionen feststellbar. Geistliche wie der gegenwärtige Präsident Khatami gewannen mehr und mehr Einfluss und votierten für eine Öffnung gegenüber dem Westen und eine Lockerung der Regelungen im kulturellen und sozialen Bereich. Diese Veränderung der politischen Positionen zahlte sich bei den beiden Präsidentschaftswahlen, die Khatami gewann, und bei den letzten Parlamentswahlen aus. Für die beiden rechten Gruppen kamen diese Wahlerfolge völlig überraschend. Sie hatten offenbar die demografischen Verhältnisse im Iran aus den Augen verloren. Die liberaleren Positionen der „islamischen Linken“ in Bezug auf die Situation der iranischen Frauen in der Öffentlichkeit und die Verbesserung ihrer Rechtsstellung führten zu einem entsprechenden Wahlverhalten der weiblichen Wählerschaft. Daneben muss aber vor allem festgehalten werden, dass mehr als 50 Prozent der im Iran lebenden Bevölkerung jünger als 20 Jahre ist. Diese Bevölkerungsgruppe ist durch die auch in Iran vorhandenen neuen Medien wie das Internet über die politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in der übrigen Welt weit besser informiert als die ältere Generation. Die traditionelle Propaganda verfängt daher bei ihnen nicht mehr. Auch sie forderten eine liberalere Politik. Studentendemonstrationen brachten das in den letzen Jahren öfter zum Ausdruck. Die Versuche der Sicherheitskräfte, solche Forderungen zu unterdrücken, waren trotz der angewandten Härte nicht erfolgreich.
Khatamis Politik ist klug und vorausschauend
Trotz der Übernahme des Präsidentenamtes durch Khatami und seiner parlamentarischen Mehrheit kam es zu keinem völligen Umschwung in der iranischen Politik. Manchem ausländischen Beobachter erschienen die Handlungen und Entscheidungen des Präsidenten zögerlich und unentschlossen.
Khatamis Politik ist aber durchaus klug und vorausschauend. Seine politischen Möglichkeiten sind durch die iranische Verfassungswirklichkeit begrenzt. Er selbst muss nach seiner Wahl durch den „obersten Führer“ in seinem Amt bestätigt werden. Der Präsident ernennt seinerseits die Minister seines Kabinetts, die durch das Parlament bestätigt werden müssen. Der „oberste Führer“ ernennt aber vor allem den Chef des Justizwesens, den Leiter der Funk- und Fernsehanstalt des Iran, den Kommandanten der Iranischen Revolutionsgarden, der regulären Armee, den Chef des Generalstabs und den Kommandanten der landesweiten Polizei. Auf diese Weise bestehen Machtzentren neben Parlament, Kabinett und Präsident, die deren politische Bewegungsmöglichkeiten deutlich einschränken. Eine weitere Behinderung der politischen Möglichkeiten des Präsidenten und des Parlaments stellt der aus zwölf Mitgliedern bestehende Wächterrat das Sechs geistliche Mitglieder des Rats werden durch den „obersten Führer“ direkt bestimmt, sechs Laien-Mitglieder durch den Chef des Justizwesens, der ja seinerseits durch den „obersten Führer“ ernannt wird. Dieser Wächterrat hat die Aufgabe, alle vom Parlament verabschiedeten Entscheidungen und Gesetzeswerke auf ihre Übereinstimmung mit dem islamischen Recht hin zu überprüfen. Der Wächterrat hat das Recht, Gesetze an das Parlament zurückzuverweisen, wenn er sie als nicht kompatibel mit dem islamischen Recht einschätzt. So können die Mitglieder des Wächterrats die Arbeit des Parlaments vollständig blockieren.
In diesem ohnehin schon komplexen politischen Kontext darf dann die Opposition nicht vergessen werden. Dabei spielen die oppositionellen Exilgruppen für die iranische Innenpolitik eine weniger bedeutende Rolle. Wichtig sind dagegen vor allem die großen Religionsgelehrten der quietistischen Fraktion und ihre Anhänger und Schüler. Sie stellen eine ständige Bedrohung der Legitimation des „obersten Führers“ Ali Khamene’i dar. Durch ihre weite Anhängerschaft verfügen sie über eine erhebliche wirtschaftliche Unabhängigkeit. Man kann davon ausgehen, dass ihr Einfluss im Iran weiter wächst. Bei den letzten Parlamentswahlen konnten weder die „traditionelle Rechte“ noch die „modernistische Rechte“ in Qumm, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit in Iran mit einigen zehntausend Theologiestudenten, Mehrheiten gewinnen. Die Ausbildung dieser Studenten kann mit der an christlichen theologischen Fakultäten in Deutschland durchaus verglichen werden. In den Bibliotheken der einzelnen Institute findet man neben den Werken der islamischen Tradition auch die Veröffentlichungen bekannter christlicher Theologen wie Rahner oder Bultmann. Auch westliche, islamkritische Texte stehen den Studenten zur Verfügung, von den großen europäischen Philosophen der Moderne wie Kant und Hegel bis hin zu Sartre ganz abgesehen. Diese Texte sind in den Originalsprachen und in persischen Übersetzungen zugänglich.
Man muss im Übrigen davon ausgehen, dass viele der angehenden Religionsgelehrten, die genauere Vorstellungen von den Wünschen und Lebenserwartungen junger Iraner haben, darüber besorgt sind, dass jede Form von Zwang im sozialen und kulturellen Bereich die Legitimation der geistlichen Herrschaft in Iran weiter in Frage stellt. Ihnen ist bewusst, dass fortgesetzte Restriktionen die Jugend mehr und mehr vom Islam entfernen werden. Es liegt in der seelsorgerischen Tradition des schiitischen Islam, dass sich die angehenden Gelehrten um die geistige Zukunft ihrer Altersgenossen Gedanken machen. Angesichts dieser demografischen und religiös-politischen Situation ist damit zu rechnen, dass die traditionalistischen Kräfte im Iran mehr und mehr an Boden verlieren. Allerdings wird die Entwicklung nicht ohne schwere Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen vor sich gehen. Im Endeffekt werden sich aber die liberaleren und aufgeklärten Kräfte durchsetzen. Diese Entwicklung kann nicht aufgehalten werden; allerdings sind Verzögerungen durch internationale Entwicklungen möglich. So werden weitere Verschärfungen des Palästina-Konflikts oder eine amerikanische Invasion im Irak den traditionalistischen Kräften die Möglichkeit geben, ihre Herrschaft mit dem Kampf gegen den Westen erneut zu legitimieren. Dies bedeutet jedoch nur eine Atempause auf dem Weg zu einem offenen und liberalen Iran, der seine schiitisch-islamische Identität aber weiter beibehalten wird.