Komponisten aller Epochen als Ausleger der BibelKlingende Exegese

Das Jahr 2003 ist ein Jahr der Bibel. Komponisten aller Epochen ließen sich vom Alten und Neuen Testament zu bedeutenden Werken inspirieren, deren klingende Exegese zur biblischen Wirkungsgeschichte gehört und wiederum für Theologie und Verkündigung anregend werden kann.

Die Bedeutung des Themas belegt zum einen im „Evangelisch-Katholischen Kommentar zum Neuen Testament“ die Auslegung des Matthäusevangeliums aus der Feder des Berner Exegeten Ulrich Luz, der im vierten und abschließenden Teilband (EKK I/4; Verlage Benziger und Neukirchener) erstmals in angemessener Breite und Tiefe die künstlerische Wirkungsgeschichte der Bibel, darunter die Musik, in einem exegetischen Kommentar mit einbezieht, was bei der Passionsgeschichte (Mt 26–28) freilich besonders materialreich und ergiebig ist. Zum anderen die Datenbank „Musik und Bibeltext“ (auf CD-Rom; Carus Verlag, Stuttgart), die rund 13 000 Vertonungen biblischer Perikopen, einzelner Verse und ganzer Kapitel auflistet und damit in eindrucksvoller Materialfülle dokumentiert, wie intensiv Komponisten aller Epochen und Stilrichtungen sich der musikalischen Bibelauslegung verschrieben haben. Dabei verwundert es kaum, dass die Psalmen mit insgesamt über 5000 aufgelisteten Werken die am meisten vertonten biblischen Texte sind, gefolgt von Perikopen, die im kirchlichen und persönlichen Leben eine besondere Rolle spielen: Sei es durch die liturgischen Leseordnungen speziell im protestantischen Bereich, durch den Rhythmus des Kirchenjahres mit den musikalischen Schwerpunkten Weihnachten (im Konzertleben inzwischen bereits ab dem Ersten Advent) und Passion, zu der ein gleichgewichtiges musikalisch-österliches Pendant fehlt, oder den Bereich urmenschlicher Themen wie Trauer und Trost, Sterben und Tod im Sinne biblisch-musikalischer Sterbekunst. Schließlich sind biblisch-liturgische Texte wie „Vaterunser“ (Mt 6), „Sanctus“ (Jes 6) und „Magnificat“ (Lk 1) zu nennen sowie „Halleluja“ und „Amen“ als kompositorisch ergiebige biblische „Kurzformeln“.

Von der Genesis zur Apokalypse

Vom ersten bis zum letzten Vers war und ist das Buch der Bücher inspirierend für Komponisten. Genesis 1,1 „Im Anfange schuf Gott...“ vertonte Joseph Haydn (1732–1809) in seinem klassischen Oratorium „Die Schöpfung“ als musikalische Bibelauslegung im Geist aufgeklärter Frömmigkeit. Nach der berühmten Ouvertüre mit der „Vorstellung des Chaos“ erklingt zum biblischen Schöpfungs- und zugleich Aufklärungswort „... und es ward Licht!“ unerwartet ein spektakulärer C-Dur-Akkord im Fortissimo; der nicht ins aufgeklärt-optimistische Konzept passende Sündenfall wird hingegen von Haydns Textdichter Gottfried van Swieten auf marginale Andeutungen reduziert. Mauricio Kagel (geb. 1931) wiederum entwirft seine zutiefst pessimistische „Erschöpfung der Welt“ (1980) als „szenische Illusion in einem Aufzug“ auf dem kritisch gelesenen Hintergrund der biblischen Schöpfungserzählung, die er parodistisch gegen den Strich bürstet, indem er den Fall mehr noch als die Schöpfung auf das Sündenkonto seines fluchenden und sich am Schaden der Kreatur freuenden Gottes verbucht, welcher zudem seine Allmacht eingebüßt hat: „Es werde Licht! Aber es ward kein Licht.“

Auch die letzten Bibelverse aus dem Buch der Offenbarung, Kapitel 22 wurden oft vertont. Johann Sebastian Bach komponiert den Ruf „Ja, komm, Herr Jesu, komm!“ in seiner frühen Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (Actus tragicus)“ als ergreifende musikalische Sterbekunst, in welcher der apokalyptische Skopus der biblischen Vorlage gut lutherisch in die Todessehnsucht des Einzelnen „transponiert“ wird. Johann Hermann Schein (1586–1630) gestaltet denselben Vers in seiner Motettensammlung „Israelsbrünnlein“ zu einem intimen chorischen Dialog, indem er Zuspruch („Ja, ich komme bald“) und Bitte („Amen, ja komm, Herr Jesu“) als rhetorisch-gestisches Wechselspiel inszeniert. Vor allem in Vertonungen des 20. Jahrhunderts ist das letzte Buch des Neuen Testaments intensiv präsent. Franz Schmidt (1874–1939) komponiert die Apokalypse in seinem abendfüllenden Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ (1938) als vokal-instrumentale endzeitliche Vision; ebenso Jean Françaix (1912–1997) in seiner von ihm selbst als „fantastisches Oratorium“ bezeichneten „Apocalypse selon St. Jean“ (1938/39), deren antithetische Klangbasis aus einem „himmlischen“ und einem mit eher bizarren Instrumenten wie Piccoloflöte und Kontrafagott angereicherten „höllischen“ Orchester besteht. Einer der produktivsten musikalischen Exegeten des 20. Jahrhunderts, der in seiner höchst sinnlichen Musik beständig nach Ausdrucksmöglichkeiten für Transzendenz und Ekstase suchte, ist der Komponist und Organist Olivier Messiaen (1908–1992). Seine apokalyptischen Gedanken in der Zeitkunst Musik wollen die Ewigkeit gleichsam erhorchen und sind dem Engel gewidmet, der „das Ende der Zeit“ verkündet. Messiaens achtsätziges „Quatuor pour la Fin du Temps“ ist eine von den hell-ekstatischen Farben der biblischen Apokalypse inspirierte Kammermusik für Geige, Klarinette, Cello und Klavier, uraufgeführt unter schier unmenschlichen Bedingungen in einem Arbeitslager bei Görlitz im Januar 1941 vor 5000 Gefangenen. „Nie hat man mir mit soviel Aufmerksamkeit und Verständnis zugehört“, beschreibt der Komponist rückblickend die erste Aufführung. Dass Messiaen sein Quartett durchaus auch als klingende Dogmatik versteht, zeigt seine christologische Differenzierung im Sinne der Zweinaturenlehre: So musikalisiert der fünfte Satz das „Lob auf die Ewigkeit Jesu“ unter Berufung auf Joh 1,1 („Im Anfang war das Wort“), der achte Satz hingegen, für Violine und Klavier, richtet sich ganz auf „den Menschen Jesus“, wobei Messiaen den melodischen „langsamen Aufstieg zu extremer Höhe“ als dreifaches Aufsteigen („ascension“) deutet: „Aufsteigen des Menschen zu seinem Gott, des Gottessohnes zu seinem Vater, des vergöttlichten Geschöpfes zum Paradies“. Die Vortragsbezeichnung in der Violinstimme lautet „ausdrucksvoll, paradiesisch“. Das musikalisch-apokalyptische Spektrum wäre unvollständig ohne Kirchenlieder. Im 20. Jahrhundert beziehen sich Silja Walter (geb. 1919) und Kurt Marti (geb. 1921), beide aus der Schweiz, auf das letzte Buch der Bibel: Die Ordensfrau Walter mit dem von Josef Anton Saladin vertonten hymnischen Kirchenlied „Eine große Stadt ersteht“ (Gotteslob 642) und der Berner Pfarrer Marti mit dem eindringlich-kargen Gedicht „Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt“, das in Winfried Heurich einen kongenialen Melodisten aus dem Bereich des Neuen Geistlichen Liedes gefunden hat (Evangelisches Gesangbuch 153).

Die Bibelauslegung in Tönen begleitet die Musikgeschichte

Die musikalische Bibelauslegung begleitet die Musikgeschichte: von der Gregorianik und frühen Mehrstimmigkeit über die Renaissance- und Barockmusik und die im heutigen Konzertleben mit Ausnahme von Felix Mendelssohn Bartholdys (1809–1847) „Elias“ und „Paulus“ weithin unbekannten Oratorien des 19. Jahrhunderts bis zu den erstaunlich zahlreichen Beiträgen der letzten Jahrzehnte. Und sie vollzieht sich in zahlreichen vokalen und instrumentalen Gattungen. Neben der Kirchenmusik mit Vesper, Motette und Kantate, Passion und Oratorium findet sich Musik zur Bibel in der barocken Tastenmusik (Johann Kuhnaus „Biblische Sonaten“), in der konzertanten Sinfonik (Leonard Bernsteins erste Sinfonie „Jeremiah“), in der Filmmusik (Jesusfilme), in Orgelwerken (Julius Reubkes Sonate „Der 94ste Psalm“), als Bühnenmusik (Kurt Weills „Weg der Verheißung“ auf einen Text von Franz Werfel), Oper (Arnold Schönbergs „Moses und Aaron“) und Kammermusik, etwa in den „Sieben Letzten Worten“, instrumental vertont von Joseph Haydn als Streichquartett und von der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina (geb. 1931) als vibrierendaufrüttelnde Musik für Violoncello, Bajan und Streicher.

Die Gregorianik umgibt das Bibelwort mit einem „Klangleib“ (Hans Zender), und sie interpretiert es zugleich ansatzweise in Melos und Rhythmus. Die klassische Vokalpolyphonie, um nur Palestrinas Hohelied-Motetten (1583/84) zu nennen, nutzt die Möglichkeiten der Mehrstimmigkeit, bleibt aber zum Wort in andachtsvoller Distanz. Erst im 17. Jahrhundert kommen neue Dimensionen hinzu. Die Komponisten der ebenso affektgezeugten wie effektvollen Generalbassmusik entdecken die Oper als Bühne aller menschlichen Regungen, und sie loten auch die Bibel auf ihre Sicht des Menschen aus, im alle weiteren Epochen prägenden Spannungsfeld von Gottesbild und Menschenbild. Claudio Monteverdi (1567–1643) vertont in seiner repräsentativen und höchst ausdrucksstarken „Marienvesper“ (1610) die biblische Ursprungsstelle des liturgischen „Sanctus“, indem er den Engelsgesang „Duo Seraphim clamabant“ in geradezu ekstatischer Ornamentik beschwört, während er die Geheimnissphäre der göttlichen Dreieinigkeit („tres sunt, qui testimonium dant in caelo: Pater, Verbum et Spiritus Sanctus“) in klanglicher Askese mit dem Wechsel vom Dreiklang („et hi tres...“) zur Einstimmigkeit („... unum sunt“) gleichsam klanglich nachbuchstabiert. Eine klingende Dogmatik der Trinität wird später auch Johann Sebastian Bach entwerfen: In seiner den Dritten Teil der „Clavier-Übung“ beschließenden Tripelfuge Es-Dur für Orgel (BWV 552,2) sowie in der ganz in den Dreiklang getauchten majestätischen Bass-Arie „Heiligste Dreieinigkeit“ aus der Pfingstkantate „Erschallet, ihr Lieder!“. Nicht zu vergessen wiederum Olivier Messiaen mit seinem Orgelzyklus „Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité“ (1969).

Die aus Italien kommenden neuen Möglichkeiten affektvoller und bildhafter Textausdeutung in der Sprache der Musik finden Resonanz insbesondere im mitteldeutschen Protestantismus, wo die Lutherbibel maßgeblich ist. Heinrich Schütz, der zweimal in Italien studiert hat, versteht wortgebundenes Komponieren dezidiert als „Übersetzen“. Auf dem Titelblatt seiner „Auferstehungshistorie“ (1623) gibt er an, dass er die „Historia der fröhlichen und siegreichen Auferstehung... in die Musik übersetzet“ habe. Seinem Schüler Matthias Weckmann empfahl er sogar, „sich der hebräischen Sprache kundig zu machen, weil es nützlich sein würde bei Componierung eines Textes aus dem Alten Testament“. Schützens dem alten Kontrapunkt verpflichtete „Geistliche Chormusik“ (1648) lotet die biblischen Texte musikalisch aus, und zwar dem Sensus wie dem Skopus nach, zudem bildhaft predigend im Sinne der musikalischrhetorischen Figurenlehre und zugleich höchst affektbetont in Trauer („Die mit Tränen säen...“) und Freude („... werden mit Freuden ernten“). Im Bereich der seinerzeit modernen Generalbassmusik erklangen im Jahr 1636 die „Musikalischen Exequien“ von Schütz als barockes „Gesamtkunstwerk“ musikalisch-biblischer Ars moriendi. Deren Auftraggeber, der musisch begabte Fürst Heinrich Posthumus von Reuss (1572–1635), hatte seine Lebenskunst höchst intensiv als Sterbekunst verstanden und deshalb getreu der biblischen Devise „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben“ (Jes 38,1) bereits zu Lebzeiten die für sein Begräbnis maßgeblichen Bibelstellen ausgewählt und mit passenden lutherischen Choralstrophen ergänzt. Bei seiner feierlichen Bestattung waren die Bibelsprüche auf dem Sarg zu lesen und sie wurden sowohl in der Predigt verbal ausgelegt als auch in Schützens Musik, einer „Predigt in Tönen“. Dieses Hauptwerk der barocken musikalischen Sterbekunst vereint musikalische Rhetorik und Affektenlehre mit klangprächtiger Doppelchörigkeit und räumlicher Klangregie. Zugleich wird die biblische Botschaft affektvoll dramatisiert, etwa wenn dem „Unverständigen“, der den „Abschied“ nur als „Pein“ erlebt (Weisheit 3), die Hoffnungsworte „... aber sie sind in Frieden“ von zwei schmeichelnden Sopranen gleichsam eingeträufelt werden, bis auch er sich zur biblischen Hoffnungsbotschaft bekehrt. Im dritten Teil der „Musikalischen Exequien“ kommentieren sich auf der Basis der Lutherischen Lehr von der sich selbst auslegenden Schrift die Texte „Selig sind die Toten“ (Offb 14,13) und das Canticum Simeonis „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren“ (Lk 1) gegenseitig, wobei mittels effektvoller Klangregie das neutestamentliche Canticum aus irdischer Perspektive („allernächst bei der Orgel“) erklingt, das Zitat aus Offb 14 hingegen als himmlische Verheißung („in die Ferne geordnet“). Festzuhalten bleibt, dass im Rahmen der evangelischen Kantoreitradition alle Momente eines biblischen Textes, also Bilder und Affekte, Stimmungen oder auch Zahlen, der musikalischen Inspiration dienen, während umgekehrt sämtliche Momente der Musik, seien es Melodik oder Rhythmus, Tonarten oder Besetzungen, in den Dienst der Bibelauslegung gestellt werden.

Biblisch inspirierte musikalische Sterbekunst

Was Komponisten an der Bibel fasziniert, ist deren immer neue Inszenierung des menschlich-göttlichen Dramas. Auch Johann Sebastian Bach, dessen musikalische Exegese in seinen Kantaten, Motetten, Oratorien und Passionen an Breite und Tiefe unüberbietbar bleibt, nutzt die bereits zitierten Verse der Johannes-Offenbarung im Sinne musikalischer Ars moriendi. In seiner Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (BWV 60), die im 20. Jahrhundert wiederum Oskar Kokoschka zu einem Zyklus von Lithografien (1914) und Alban Berg bei seinem Violinkonzert (1935) inspiriert hat, inszeniert Bach musikalisch-psychologisierend den Streit zwischen „Furcht“ (Alt) und „Hoffnung“ (Tenor) im Angesicht des Todes. Dieser „Dialogus“, so die autographe Überschrift, findet jedoch keine immanente Lösung, sondern wird entschieden unter dem Eindruck der Bibelworte „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, von nun an“, die der Bass als „Vox Christi“ in drei Anläufen sukzessiv in Gestalt eines „wachsenden Zitats“ (Renate Steiger) als tröstende Kantilene in den musikalischen Streit hineinsingt. Bei Schütz und Bach ist die biblisch inspirierte musikalische Sterbekunst noch eng mit der kirchlich-seelsorglichen Ars moriendi verknüpft. Doch auch Johannes Brahms (1833– 1897), der sich dem christlichen Glauben nur auf agnostische Distanz genähert hat, beschließt mit dem Satz „Selig sind die Toten“ sein bis heute vor allem an den Novembersonntagen ungemein erfolgreiches „Deutsches Requiem“ für Sopranund Baritonsolo, Chor und Orchester – jüngst auch aufgeführt bei der Trauerfeier für Rudolf Augstein in Hamburg. Ähnlich wie Heinrich Posthumus Reuss hat auch Brahms seine Bibelstellen eigenhändig zusammengestellt, nun aber nicht mehr in konfessioneller Tradition, sondern in einem Akt individuell-kritischen Auswählens, der bisweilen dezidiert auf Biblisches verzichtet.

Das Bibelwort als musikalisches Klangmaterial

Dem bereits von Zeitgenossen wie dem Bremer Domorganisten Karl Reinthaler vorgebrachten Einwand, dass „der Punkt, um den sich alles dreht“, nämlich die Person Jesu Christi, im „Deutschen Requiem“ nie explizit genannt wird, erwiderte Brahms, dass er „mit allem Wissen und Willen Stellen wie beispielsweise Joh 3,16 entbehrte“; gemeint ist der häufig vertonte Vers „Also hat Gott die Welt geliebt...“. Reinthalers Argument, im Bibelwort „von nun an“ stecke doch zumindest implizit die Christologie, da dies ja als „von Jesus Christus an“ zu deuten sei, parierte Brahms mit den Worten: „Hinwieder habe ich nun wohl manches genommen, weil ich Musiker bin, weil ich es gebrauchte, weil ich meinen ehrwürdigen Dichtern auch ein ,von nun an‘ nicht abdisputieren oder streichen kann.“ Dass Brahms nach seinen eigenen Worten im Titel des Oratoriums „recht gern auch das ,Deutsch‘ fortließe und einfach den ,Menschen‘ setzte“, zeigt, dass er sich von der menschlich-religiösen Polarität der Bibel verabschiedet und den anthropologischen Pol (der Bibel!) zum Zentrum seiner Requiem-Musik macht. In der Rezeption verkompliziert sich dies jedoch wiederum. Niemand ist gehindert,

das christologische Defizit des Brahms-Requiems im Hören auszugleichen und etwa in jeder der zahlreichen „Herr“-Anrufungen („Herr, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft“) die Christologie mitzuhören, auch entgegen der Intention des Komponisten, die beim musikalisch-spirituellen Verstehen eines Werkes generell weder ignoriert noch kanonisiert werden darf. Nicht nur bei Brahms ist bereits die „Komposition“ eines biblischen oder biblisch inspirierten Librettos eine Interpretation. Immer wieder gab es zudem Berührungspunkte zwischen musikalischer und homiletischer Auslegung. So geht das Libretto der Bachschen „Matthäuspassion“ (1727) letztlich auf die Passionspredigten „Vom Leiden Christi“ des Rostocker Superintendenten Heinrich Müller zurück, der Text von Mendelssohns Oratorium „Elias“ (1846) zumindest in Teilen auf Predigten des damals berühmten Theologen Wilhelm Friedrich Krummacher mit dem Titel „Elias der Thisbiter“. Aber auch Georg Friedrich Händels zahlreiche für das englische Bürgertum komponierte biblische Oratorien stehen textlich in Bezug zur damaligen Theologie, insbesondere sein Welterfolg „Messiah“ (1742). Dessen Librettist Charles Jennens ersetzt den üblichen oratorisch-dramatischen Aufbau durch eine dreiteilig-heilsgeschichtliche Gliederung, wobei er das exegetische Schema von Verheißung (AT) und Erfüllung (NT) als Argument gegen den Deismus ins Feld führt – eine jener Intentionen, die zwar historisch belegbar, aber im Hören nicht mehr unmittelbar wahrnehmbar sind. Händel wiederum nutzt alle vokalen und instrumentalen Stile, um das biblische Geschehen seinem Publikum in Form eines „great musical entertainment“ (Jennens) nahe zu bringen: von der adventlichen Erwartung und der Weihnachtsfreude über den überschwänglichen Osterjubel des „Halleluja“ bis zur als große Steigerung angelegten „Amen“-Fuge. Schließlich gibt der ausschließlich biblische Text des „Messiah“ auch Anlass zu opernhaften Momenten, zur virtuosen Trompeten-Arie („The trumpet shall sound“) wie zur meditativ-weihnachtlichen Pastoralmusik.

Komponisten des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts interpretieren die Bibel ohne die früher mitprägenden epochen- oder konfessionsspezifischen Normen, jedoch auf dem Hintergrund der jeweils neuesten Möglichkeiten von Vokalmusik. Als Sprache gerät das Bibelwort in den Sog der elektronischen Musik, so in Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ (1955/56) oder in Hans Zenders großbesetztem vierteiligen „Shir Hashirim“ (1992–96), der ersten Gesamtvertonung des alttestamentlichen Hohenliedes, in welcher der Komponist und Dirigent Zender traditionelle Momente wie die solistische Rollenverteilung mit Sopran (Braut) und Tenor (Bräutigam) mit Techniken wie Live-Elektronik und mikrotonaler Harmonik verknüpft. Das Bibelwort wird aber auch als musikalisches Klangmaterial eingesetzt, ohne Rücksicht auf unmittelbare semantische Verständlichkeit und bisweilen sogar im Rückgriff auf die biblische Kategorie der „Glossolalie“, etwa in Bernd Alois Zimmermanns „Antiphonen“, Dieter Schnebels „dt 31,6“ oder György Ligetis berühmtem Chorstück „Lux aeterna“ (1966) für sechzehnstimmigen Chor auf die Communio der Totenmesse (Communio), in denen zahlreiche Bibelstellen anklingen. Gerade in der Negation traditioneller Verständlichkeit mittels Verschleiern der Zeiteinheiten durch extrem komplexe Rhythmik oder das äußerst langsame Singen der Worte sucht Ligeti eine neue kompositorische Annäherung an das vom Text intendierte, Sprache wie Zeit transzendierende „ewige Licht“.

Konfrontation mit der Gegenwart und Rückkehr zu den Ursprüngen

Als zeitgenössische Konstanten der kompositorischen Auseinandersetzung mit der Bibel können zwei gegenläufige Entwicklungen gelten, die sich gegenseitig ergänzen und sogar bedingen. Zum einen gewinnt die Konfrontation der Heiligen Schrift mit der jeweiligen Gegenwart neue und schärfere Akzente. Arnold Schönberg stellt sich mit der Vertonung des „Schema Israel“ (Deut 6), dem täglichen jüdischen Gebet, in die Tradition des „komponierten Gebets“. Aber dieses biblische Gebet erklingt nun nicht mehr im Ton der Vergangenheit, sondern das „vergessene Gebet“ gewinnt einen neuen „Sitz Leben“ im Mund der Juden des Warschauer Gettos. Der Komponist Luigi Nono nennt Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ das „ästhetische Manifest unserer Epoche“. Das letzte Werk, das Schönberg schrieb, ist sein „Moderner Psalm“ auf einen eigenen Text, dessen Vertonung Fragment blieb und bei den Worten „und trotzdem bete ich“ abbricht. Leonard Bernstein wiederum ergänzt in seiner musicalartigen Messe von 1971 („Mass“), die ein kompositorischer Spiegel seines kunstreligiösen Humanismus ist, die biblischen Lesungen durch zeitgenössische Gefangenenbriefe; die Menschwerdung im Credo („et incarnatus est“) problematisiert er mit der kritischen Frage, ob nicht die Menschwerdung des Menschen das eigentliche Thema wäre. Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) schließlich konfrontiert in seinem letzten vollendeten Werk, der „Ekklesiastischen Aktion“ (1970), das Buch Kohelet („Liber ecclesiastes“) mit Dostojewskys Erzählung „Der Großinquisitor“ aus den „Brüdern Karamasow“. Dieses Werk setzt mit Posaunenstößen als klanglicher Assoziation des Jüngsten Gerichts ein, und es endet mit einer nonverbalen „Weheklage“, bevor wiederum Blechbläser den Bachchoral „Es ist genug“ als Fragment intonieren.

Die zweite Richtung zielt auf die biblischen Ursprünge. Zahlreiche Komponisten versuchen, gerade die liturgisch vertrauten biblischen Texte neu hören zu lassen, indem sie die Worte aus ihren gewohnten liturgischen Funktionen herauslösen, um sie in den ursprünglichen biblischen Kontext gleichsam zurückzubuchstabieren. So verfährt etwa der in Berlin lebende Komponist und evangelische Pfarrer Dieter Schnebel (geb. 1930). In seiner „dem Andenken Martin Niemöllers, Dietrich Bonhoeffers und Karl Barths“ gewidmeten „Dahlemer Messe“ (1987) erklingen die biblischen Messtexte im Kontext ihres ursprünglichen „Sitzes im Leben“ und häufig in der Originalsprache anstatt des liturgischen Latein. Das Benedictus etwa, das liturgisch zu einer Meditationsmusik zwischen Wandlung und Kommunion geworden war, erklingt so als vielfarbiges avantgardistisches Tongemälde des Einzugs Jesu in Jerusalem, in aufgepeitscht-bedrohlicher Stimmung, wobei auch quasi-naturalistische Tierlaute nicht fehlen. Die meisten musikalischen Anklänge enthalten die Psalmen, deren Kompositionsgeschichte bisweilen recht eigenwillige Wege ging. Im Jahr 1616 beauftragt ein sächsischer Hofbeamter, der sein persönliches Schicksal zwischen den Polen „Angst“ und „Friede“ in Psalm 116 gespiegelt findet, 16 Komponisten, darunter Schütz, Schein und Praetorius, aber auch komponierende Schulmeister und Pfarrer, mit der Vertonung dieses Psalms. Der daraus entstandene einzigartige Zyklus von Parallelvertonungen unter den Titel „Angst der Hellen [Hölle] und Friede der Seelen“ ist erst kürzlich wieder entdeckt worden und zeigt die Bibelvertonung der evangelisch-frühbarocken Kantoreitradition in ihrem normativen Handwerk und ihren Möglichkeiten zur individuell-innovativen Exegese. Zu den Komplettvertonungen des Psalters zählt auch der Becker-Psalter von Heinrich Schütz. Das Psalmlied „Wohl denen, die da wandeln“, das sowohl im katholischen Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ als auch im „Evangelischen Gesangbuch“ (dort im vierstimmigen Satz) steht, ist die Vertonung von Psalm 122 aus ebendiesem Werk.

Die Einheit von musikalisch-struktureller Qualität und Bibelauslegung

Im 20. Jahrhundert finden sich dann auch größere oratorische Formen, etwa in Igor Strawinskys „Psalmensinfonie“ (1930) oder Arthur Honeggers Oratorium „Le Roi David“ (1921/23), das einige Psalmen in den Kontext von Davids Leben einbettet. Oskar Gottlieb Blarr (geb. 1934) vertonte den 150. Psalm „Kol haneschamah“ in hebräischer Sprache als Konzert für Orgel, Männerchor und großes Orchester (1997). In einem weiteren Sinne sind hier auch die von den Psalmen inspirierten Werke zu nennen, etwa Heinz Holligers „Psalm“ (1971) auf Paul Celans psalmistisches Gedicht „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm“. Und auch „Heinz Holliger hält trotz aller kompositorischen Destruktion daran fest, dass sein Psalm ein Lobgesang sei, allerdings gesungen mit durchschnittener Kehle“ (Clytus Gottwald).

Musik ist eine vielstimmige Möglichkeit, die Bibel zu entdecken. Ihre Chancen sind umso größer, je breiter das in Liturgie und Konzert aufgeführte Repertoire ist. Unzählige Werke liegen allerdings noch nicht in Notenausgaben vor, geschweige denn auf Tonträgern. Zu erarbeiten wäre eine tragfähige interdisziplinäre Hermeneutik der musikalischen Bibelauslegung. Während nämlich die Musikwissenschaft bislang die musikalisch-strukturelle Qualität der Werke in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellt, rekurriert die theologi-musikalischen Exegese war und ist die vielstimmige Intensische Auslegung stärker auf den Aspekt der Wortgebunden-vierung des Wortes: „Lobpreis gerät zum Jubilus, Gebet zur heit. Zu zeigen ist jedoch, wie sehr künstlerische Qualität und Klage oder zum Ruf, Verkündigung zum Drama“ (Dieter Bibelauslegung eine Einheit bilden. Der Cantus firmus der Schnebel).

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