Als Warengruppe 311 kennt der Buchhandel das „religiöse Buch“. Oft genug tot gesagt, geht es unter Pseudonymen wie „Meditation“, „Esoterik“ oder „Lebenshilfe“ immer wieder erfolgreich über den Ladentisch. Das derzeit gängigste Schlagwort heißt „Spiritualität“, weil unter diesem weiten Dach vieles Platz findet, was sich gut verkaufen lässt: Westliches und Östliches, Klassiker und Newcomer, Biblisches und Aphorismen, populäre Philosophie und Psychologie, Bücher für den kirchlichen Schriftenstand und für die einfach nur Neugierigen. Die Aufmachung reicht von der schlichten Broschüre bis zu gediegenem Hardcover. „Leselust“ wird groß geschrieben, der Trend geht zum Geschenkbuch. Das gilt auch für anlassbezogene Schriften, etwa zur Trauerbegleitung, und für regelmäßig gefragte „Saisonartikel“ wie Weihnachtsbücher, letztere inzwischen im breiten Spektrum von biblisch bis polemisch, predigthaft bis klassisch-literarisch.
Erfolg verspricht auf dem religiösen Buchmarkt neuerdings vor allem die Bekanntheit des Autors. Auf einer Liste der hundert Topseller in Warengruppe 311 liest man etwa 25 Mal den Namen Anselm Grün, der auch gleich die sechs ersten Plätze en bloc einnimmt. Es folgen Titel unter anderem von Pierre Stutz, Jörg Zink, Anthony de Mello, Paul Coelho, Willigis Jäger und Christa Spilling-Nöker. Nach wie vor unter den Spitzenreitern sind auch der Dalai Lama und Eugen Drewermann. Anselm Grüns Erfolg ist jedoch beispiellos und überkonfessionell, zumal es keinem Verlag protestantischer Provenienz möglich war, einen Autor auch nur annähernd erfolgreich „aufzubauen“.
Weit über 100 Schriften und Tonträger von Grün sind derzeit lieferbar. Übersetzungen gibt es in rund 30 Sprachen. Allein die Gesamtauflage seiner Engel-Bücher – „50 Engel für das Jahr“, „50 Engel für die Seele“, „Jeder Mensch hat einen Engel“ –, mit denen ihm in der Taschenbuchreihe Herder Spektrum der entscheidende Durchbruch beim breiten Publikum gelungen ist, beträgt 1,3 Millionen.
Wie kommt dieser Boom zustande – in einer Phase, in welcher der konfessionell geprägte Zweig des Buchhandels fast vom Markt verschwunden ist, jedenfalls in seiner traditionellen Ausrichtung? Bereits vor einigen Jahren hatte eine vom Verband katholischer Verleger und Buchhändler (BKV) beim Meinungsforschungsinstitut Allensbach in Auftrag gegebene aufwändige Buch-Studie den Rückgang des so genannten Kernbereichs ebenso dokumentiert wie die häufig ungenutzten Chancen im religiösen „Öffnungsbereich“ aufgezeigt, beispielsweise auf der Grenze zu Psychologie, Weltreligionen und Lebenshilfe. Seither ist der traditionelle Kernbereich noch weiter geschrumpft. Ob man sich jedoch so weit in den „Öffnungsbereich“ wagen sollte wie der von den deutschen Diözesen getragene Weltbild-Konzern, der die Memoiren des Popstars Dieter Bohlen („Nichts als die Wahrheit“) mitsamt den Werken seiner Lebensabschnittspartnerinnen („Jetzt packt auch Naddel aus“, auf 4 CDs) vertreibt, sei dahingestellt. „Werte machen Medien“ heißt ein Verlagsslogan, mit dem der größte Buchvertrieb, den es je gab, die „christliche Weltanschauung mit den Erfordernissen des Marktes überzeugend in Einklang bringen“ will. Mit Büchern für Kirchgänger ist ebenso wenig Gewinn zu machen wie mit wissenschaftlicher Theologie. In manchen Nova-Vorschauen ehemals theologisch profilierter Verlage ist kaum noch ein theologischer Titel zu entdecken, der nicht zum x-ten Male Vergangenes kompendiös zusammenfasst oder gleich als Reprint eines Klassikers erscheint. Und selbst das „Jahr der Bibel 2003“ scheint keine allzu deutlichen Spuren auf dem religiösen Buchmarkt zu hinterlassen, Anselm Grüns Bibelinterpretationen beim Kreuz Verlag einmal ausgenommen. „Öffnungsbereich“ meint die Ausweitung des religiösen Buchangebots in Richtung Lebenshilfe, Information, Sinnfrage und Krisenbewältigung sowie die Auswahl der Autoren nach Kriterien der Glaubwürdigkeit und Kompetenz bei gleichzeitiger Zurückstellung des Aspekts ihrer Kirchlichkeit. Unspektakuläre, aber konstant „abfließende“ Longseller sind spirituelle Klassiker von den Wüstenvätern über die „Nachfolge Christi“ bis Bonhoeffer und Mutter Teresa; oder Mystikerinnen von Teresa von Avila bis Edith Stein, sowohl in Textanthologien als auch mit Biografien wie die Herder-Reihe „Meister der Spiritualität“. All diese Angebote fielen aber auf unfruchtbaren Boden, wenn nicht bei den Kunden eine religiöse Sehnsucht neu aufgebrochen wäre, die inzwischen im Verein mit Werbestrategien und Erfolgsautoren einen Spiritualitäts-Bücher-Supermarkt hervorgebracht hat.
An Reihentiteln und auf Klappentexten lässt sich ablesen, welche Stichworte gerade als besonders verkaufsfördernd gelten. So hat der Benziger Verlag seine erfolgreiche Reihe „Klassiker der Meditation“ in „Klassiker der Spiritualität“ umbenannt, weil der Meditationsboom abgeflaut war. Inzwischen ist diese Reihe mitsamt ihrem Verlag allerdings ebenso eingestellt wie der Versuch des Fischer Verlags, mit „Fischer spirit“ in einem „profanen“ Verlag eine spirituelle Taschenbuchreihe mit östlichem Akzent zu etablieren – etwa nach dem Vorbild der erfolgreichen und gerade einem Relaunch unterzogenen „Gelben Reihe“ im Diederichs Verlag. Auch das Thema Spiritualität ist keine verlegerische Erfolgsgarantie. Buchgestaltung und Titelfindung sind jedoch in ihrer Wichtigkeit kaum geringer einzuschätzen als der Inhalt. Bei den werbetechnischen Reizworten hat es den Anschein, dass die „out“-Liste von verkaufshemmenden Worten wie katholisch, kirchlich, fromm, pastoral oder theologisch angeführt wird, die „in“-Liste dagegen von mystisch, persönlich und spirituell. Besonders positiv konnotiert sind zudem Begriffe wie Ritual und Segen, Glück und Seele, Spiritualität im Alltag, Inspiration und Begleitung. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass gerade diese Worte mitsamt ihren Inhalten bei Verkaufsstrategen wie beim Publikum als nicht kirchlich-konfessionell vorbelastet gelten – was man gelegentlich bedauern kann.
Völlig „out“ waren lange Zeit auch die Engel, jedenfalls in der Theologie, die ihnen mitsamt dem Teufel den Abschied gegeben hatte. Der erwies sich jedoch eher als eine Auszeit, denn Asyl fanden sie in den Bücherregalen der Esoterik. Anselm Grün hat sie nun in die spirituelle Mitte zurückgeholt, flankiert von einer immensen Engelliteratur. Mit dieser hat der Benediktiner Grün jedoch nur wenig gemeinsam, weil es ihm letztlich um menschliche Grundphänomene geht, was aber auch Gefahren birgt: Wird der theologische Begriff Engel nicht bis zur Unkenntlichkeit entleert, wenn er als Chiffre für alles irgendwie Positive oder als werbewirksames Pseudonym für die eigentlich gemeinten Tugenden fungieren müssen?
Anselm Grün – weder „Vielschreiber“ noch „Guru“
Grüns Engelspektrum reicht vom „Engel der Liebe“ bis zum „Engel der Stille“; dazwischen finden sich traditionelle Themen wie Versöhnung, Gelassenheit und Demut, aber auch innovative Stichworte wie Leidenschaft, Schwesterlichkeit, Zärtlichkeit, Achtsamkeit. In dem Bändchen „Jeder Mensch hat einen Engel“ steht die Aktivität der Himmelsboten im Mittelpunkt: „Der Schutzengel“, „Der Engel, der das Schreien des Kindes hört“, „Der Engel, der im Traum erscheint“, „Der Engel, der uns in den Himmel trägt“. Damit einher geht eine stärkere biblische Verankerung der Thematik. Die kurzen, quasi perikopenhaften Abschnitte setzen oft mit sprachlichen Bemerkungen ein („Das Wort Verstehen kommt von stehen“), bringen anschauliche Beispiele und wohldosierte Zitate aus der schönen Literatur. Immer sucht Grün das Einverständnis mit seinen Lesern („Geduldig zu warten, das ist heute aus der Mode gekommen“); und er steigert dies bis zur vertrauten Du-Anrede („Der Engel des Mutes kann Dir helfen,...“), wobei er sprachlich geschickt bis an die Grenze der Vertrauensseligkeit geht, ohne sie jedoch zu überschreiten. Insgesamt entsteht so eine ebenso zeugnishafte („Bei uns im Kloster...“) wie leicht verdauliche Spiritualität, die offenbar vielen aus dem Herzen und ins Herz spricht. Dass sich auch Skurriles durchaus unterhaltsam mit dem Wort „Engel“ verknüpfen kann, zeigt im Übrigen der weltberühmte Pianist Alfred Brendel in seinem Büchlein „Spiegelbild und schwarzer Spuk“ (Carl Hanser Verlag, 2003) mit zahlreichen Engeltexten: „Da man sich der Engel / neuerdings kaum mehr erwehren kann / ersuchen wir die Stadtverwaltung / uns von dieser Plage zu erlösen...“ (15). Gespannt darf man sein, wie lange das Stichwort „Engel“ die Bücher Anselm Grüns noch beflügeln wird. Gerade die Unverbrauchtheit, die der große Vorteil der Himmelsboten zunächst war, könnte ihnen abhanden kommen. Doch für diesen Fall halten die Lektorate vermutlich jetzt schon neue Schlüsselworte wie etwa „Lebenskunst“ bereit. Und irgendwann werden wohl auch „Weisheit“ und „Tugend“ oder gar „Glaube“ und „Frömmigkeit“ auf Buchtiteln wieder zu Ehren kommen.
Zwei Charakterisierungen, die sich rasch aufdrängen, weist Anselm Grün in seinem neuesten Interview-Buch „Mein Weg in die Weite“ weit von sich. Weder „Guru“ will er sein noch „Vielschreiber“. In der Tat klingt sein Arbeitsprogramm unspektakulär. Der Benediktiner leitet die Verwaltung der Abtei Münsterschwarzach als Cellerar – auf dem Buchrücken inzwischen der besseren Verständlichkeit wegen mit Manager übersetzt. Zudem wirkt er als geistlicher Begleiter im Recollectio-Haus für Priester und Ordensleute in Krisensituationen. Mit einer Dissertation über Karl Rahners Erlösungsverständnis und mit Kleinschriften im Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach haben seine publizistischen Aktivitäten begonnen. Inzwischen ist er unter anderem in den Programmen von Herder, Kreuz und Kösel vertreten und über den Verlag seiner Abtei turmhoch hinausgewachsen. Ein bis zwei Abendvorträge hält er pro Woche, an Wochenenden oftmals Kurse, beispielsweise für Führungskräfte. Nur sechs Stunden gönnt er sich wöchentlich zum Schreiben seiner Bücher. Mag sein, dass sogar diese klare zeitliche Begrenzung ein Erfolgrezept ist. Offenbar gelingt es ihm, seine Gedanken weitgehend druckreif zu Papier zu bringen. Die Interviews zeigen Anselm Grün als einen sehr reflektierten und nachdenklichen Seelsorger, der vielleicht noch mehr zu sagen hat, als in seinen bisherigen Büchern steht. Seine nüchtern-kritische Sicht der Kirche teilen viele, innerhalb wie außerhalb. Einen spirituellen Schriftsteller mit einem so großen und zugleich so breiten Publikum hat es bislang noch nicht gegeben. Im Unterschied zu Eugen Drewermann polarisiert er seine Leserschaft jedoch nicht. Nach dem Motto „Wer vieles bringt...“ beschreibt er Spiritualität für viele, nämlich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Integration dieser universalen Ausrichtung mit seiner eigenen kirchlich-monastischen Position ist sein Markenzeichen.
Bucherfolge und kirchliche Defizite
Einige Konstanten sind bei allen spirituellen Erfolgsbüchern klar erkennbar. An erster Stelle steht die Einheit von Autor und Botschaft, die auch durch Vorträge, Lesungen und Kurse sowie Medienpräsenz vermittelt wird. In diesem Trend liegen auch die beliebten Interview-Bücher, die von den Kardinälen Ratzinger und Lehmann ebenso gepflegt werden wie von den Kirchenkritikern Küng und Drewermann. Anselm Grün etwa, im Vergleich zu Eugen Drewermann erstaunlich selten in den Massenmedien präsent, gilt als Ordensmann, der zusätzlich Betriebswirtschaft studiert hat und etwas von Verwaltung versteht, also das Hauptproblem der Integration von Glaube und Leben oder von Theorie und Praxis exemplarisch vorlebt und zeugnishaft beschreibt. Hinzu kommt die sprachliche und inhaltliche Schlichtheit. Aufgabe der Populärliteratur ist es, den großen Schein der Wissenschaft in handliches Münzgeld zu wechseln. Das gilt auch auf dem spirituellen Sektor. „Simplify your faith“ könnte das Motto in Anlehnung an Tiki Küstenmachers Erfolgstitel „Simplify your life“ lauten. Ohnehin ist das Pendel der Spiritualität derzeit recht weit vom esoterischen Extrem entfernt. Geheimniskrämerische Initiationen zum Glücklichsein sind kaum gefragt, denn „das Glück liegt auf der Hand“. Aber auch das wird sich wieder ändern. Wohl dem Verlag, der dann im rechten Moment mit Titeln wie „Das verborgene Glück“ aufwarten kann.
Durchaus reizvoll ist der Gedanke, den Erfolg der Erfolgsautoren, deren Haben-Seite also, mit der allgemein kirchlichen Soll-Bilanz in Verbindung zu bringen. Sind pastorale Defizite mit ein Grund für den Boom spiritueller Literatur? Hier mag man an die Predigt denken, die vielerorts ein Schattendasein fristet, aber inzwischen ja nicht selten mit Zitaten aus Büchern der Erfolgsautoren angereichert wird. Dass spirituelle Erfolgstexte sogar an die Stelle biblischer Lesungen treten, ist eine – insbesondere bei Trauungen, Taufen und Begräbnissen – schon länger zu beobachtende Entwicklung. Spitzenreiter sind hier wohl Antoine de Saint-Exupérys „Kleiner Prinz“ und Kalhil Gibrans „Prophet“, letzterer inzwischen in zahlreichen Aufmachungen, nachdem der beim Walter Verlag in deutscher Übersetzung erschienene Text seit 2001 nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist. Dass es in der Liturgie nicht-biblische Lesungen geben darf, steht außer Frage. Fraglich wird diese Praxis jedoch, wenn Lieblingstexte anstelle der biblischen Lesungen treten und wohlmeinende Lektoren ihren Vortrag mit der Formel „Wort des lebendigen Gottes“ beschließen. Unerschöpflich scheint das Thema „Rituale“. Hier stehen Bücher von Anselm Grün und Pierre Stutz auf den Erfolgslisten. Dass die stiefmütterliche Behandlung von Ritualen in Pastoral und Liturgie zu diesem Erfolg beiträgt, ist kaum von der Hand zu weisen. Allerdings leiden gerade die Ritualbücher unter einem Defizit, zumindest dann, wenn sie Rituale neu erfinden wollen. Rituale leben von Gemeinschaft und aus ihrer Tradition. Dem „Ritual auf Bestellung“ fehlt die Würde des Altvertrauten und letztlich auch die Aura des Entzogenen. Rituale „gestalten“, so heißt das Zauberwort – genauso wie in jedem kirchlichen Liturgiekreis, der einen Gottesdienst gestalten will. Aber ist es nicht das Geheimnis jedes Rituals, dass es seine Gestalt schon gefunden hat und wir in diese Form wie in einen bergenden Raum eintreten können? Wiederum ist es Anselm Grün – neidlos sei es anerkannt –, dem die Neubesinnung auf alte Rituale am überzeugendsten gelingt.
Kritische Kirchentreue
Entscheidend für das kirchliche Profil eines Erfolgsautors ist seine Integration von eindeutiger Christlichkeit und kritischer Kirchlichkeit. Moderate Kirchenkritik – etwa bei Themen der Ökumene (Jörg Zink), der Sexualmoral (Pierre Stutz) oder der Pastoral (Anselm Grün) fehlt bei keinem von ihnen. Dennoch sind nicht alle in lehramtliche Konflikte verwickelt wie Hans Küng, Eugen Drewermann und neuerdings Willigis Jäger. Bisweilen entwickeln Konflikte sich durch persönliche Lebenswenden wie bei Stutz, der in seinem neuesten Buch sein homosexuelles „Coming out“ thematisiert und die Aufgabe seines Priesteramts in einem Brief begründet. Aus verlegerischer Sicht jedenfalls hat der Konflikt eines spirituell-theologischen Autors mit dem Lehramt dem Absatz seiner Bücher wohl noch nie geschadet. Ein solches Verfahren bringt den Autor in die Schlagzeilen. Im besten Fall gibt es einen handfesten Skandal, der wiederum gilt als Zeichen persönlicher Standhaftigkeit und fungiert so als höhere spirituelle Weihe.
Spirituelle Erfolgsbücher schöpfen, im Gegenzug zur gängigen Spezialisierung auch in der Theologie, aus vielen Quellen. Gerade dies setzt ihre Autoren bisweilen dem Vorwurf des Synkretismus aus und bringt sie in Konflikte mit dem römischen Lehramt. Wer etwa Weisheitsgeschichten von Anthony de Mello aufschlägt, erfährt als Erstes, dass die Bücher des indischen Jesuiten in der „Intention des Autors nicht als Darstellungen des christlichen Glaubens oder Interpretationen katholischer Dogmen zu verstehen“ sind. Hier wird ein Dilemma offensichtlich, das schon manchem Erfolgsautor zum Verhängnis wurde. Seine dem „Öffnungsbereich“ des Glaubens verpflichtete Darstellung wird früher oder später von der römischen Zensur unter die Lupe genommen und dabei sozusagen daraufhin untersucht, ob sie auch dem dogmatischen „Kernbereich“ genügt. Der letzte spektakuläre Fall in dieser Richtung betrifft den Benediktiner und Zenmeister Willigis Jäger. Als Leiter des „Würzburger Zentrums für spirituelle Wege Haus St. Benedikt“ ging es ihm, grob gesagt, um eine spirituelle Erneuerung des christlichen Glaubens aus dem Geist der östlichen (und westlichen) Mystik. Nach Anschuldigungen und Auseinandersetzungen mit der vatikanischen Glaubenskongregation traf ihn im August 2002 ein Rede-, Schreib- und Auftrittsverbot. Inzwischen setzt er seine seelsorglichen und publizistischen Tätigkeiten fort, allerdings gehört er nicht mehr dem Münsterschwarzacher Ordenskonvent an.
Der Autor als Begleiter
Der Fall Willigis Jäger zeigt eine gewisse Unbeholfenheit des Lehramts, mit spirituellen Rand- beziehungsweise Öffnungspositionen angemessen umzugehen. Verkannt wird die spezielle Hermeneutik des „Öffnungsbereichs“, den es ja auch für Theologen geben muss, wenn sie nicht immer wieder nur den bereits Initiierten Rechenschaft vom Glauben ablegen wollen. Auch weil die Leser nicht die alten bleiben, sollte es möglich sein, neue Sprachmöglichkeiten auszuprobieren. Freilich sind Sätze wie „Im Rollerskating oder Paragliding steckt potenziell genau so viel Religiosität wie in einem Gottesdienst“ (Willigis Jäger) durchaus missverständlich. Zugleich aber stimmt es nachdenklich, dass offenbar bevorzugt die erfolgreichen und innovativen Autoren gemaßregelt werden, wohingegen man von lehramtlichen Sanktionen für besonders langweilige Theologen oder völlig wirkungslos bleibende Publikationen noch nichts vernommen hat.
Hauptquellen erfolgreicher Spiritualität sind Bibel und Östliches, Psychologie (C. G. Jung bevorzugt) und Mystik, die publikumsfreundliche Anknüpfung am Alltag und ein gerüttelt Maß an poetischer Sprache, möglichst ohne den Absturz in bloße Betroffenheitslyrik. Es geht dabei weniger um die klare Orientierung an einem bestimmten Bezugspunkt – sei es die Tiefenpsychologie oder der west-östliche Religionsdialog –, sondern um die gut durchgegorene Mischung inhaltlicher und formaler Komponenten. Hier ist insbesondere an die jüngst verstorbene Dorothee Sölle als einzige weibliche Erfolgsautorin zu erinnern, die engagierte Theologie mit sprachlicher Anmut verband, wie es nur wenigen gelingt. Optische Anreize sind zusätzlich nötig, weil der Geschenkbuchmarkt hart umkämpft ist und das Auge ja immer mitkauft. Werbewirksam sind Slogans wie „anspruchsvoll und ansprechend“. Und weil es auf den Autor und das Cover gleichermaßen ankommt, zieren immer häufiger Porträts der Autoren die Umschläge. Im Vergleich zu älteren religiösen Erfolgsautoren wie Romano Guardini ist die wissenschaftliche Theologie gänzlich ins Hintertreffen geraten, aber auch die Philosophie. Noch nie war Spiritualität so untheologisch – vielleicht, weil auch die Theologie noch nie so wenig spirituell war.
Während die Bücher von Hans Küng, Jörg Zink und Klaus Berger noch in der Tradition der populärwissenschaftlichen Fachtheologie stehen, reduziert sich das klassische Bezugsspektrum bei den neueren Autoren erheblich. Übrig bleibt letztlich die facettenreiche Mystik. Pierre Stutz bezieht sich in seinem neuesten Buch „Verwundet bin ich und aufgehoben“ auf mystische Autorinnen und Autoren, die er ausschnitthaft präsentiert und knapp kommentiert. Zugleich setzt er einen Gegenakzent zu der am Genre „Ratgeber“ orientierte „Wellness-Spiritualität“, die sich fragen lassen muss, welche Leser so viel Glück, Lebensoptimierung und Erfolg denn überhaupt noch verkraften können. Die Bucherfolge verdanken sich nicht zuletzt einer neuen Autor-Leser-Konstellation. Der Autor bleibt nicht in der üblichen Distanz, sondern rückt in die Nähe eines Begleiters, mit den Lesern auf Du und Du, aber zugleich die „Guru“-Rolle abwehrend. Diesen Eindruck bestätigen die hervorragend besuchten Vorträge von Anselm Grün ebenso wie die Homepage von Pierre Stutz. Der vielleicht konventionellste Erfolgsautor ist inzwischen der Dalai Lama mit einer globalisierten Spiritualität. Bei seinen neueren Titel gewinnt man den Eindruck, dass er der Gefahr der Trivialisierung immer häufiger erliegt. Ohne den Autorennamen hätten seine Bücher wohl in kaum einem Lektorat eine Chance. Immerhin bieten sie eine charmante Liaison von Östlichem und Banalem. „Bleiben Sie ruhig, gelassen und vernünftig“, rät das religiöse und geistige Oberhaupt der Tibeter seinen Lesern. Daran will auch der Rezensent sich halten. Außerdem hält der Friedensnobelpreisträger einen Hinweis parat, der in vielen Büchern stehen könnte: „Falls Sie nicht denken, dass etwas für Sie von Nutzen sein könnte, dann legen Sie das Buch getrost zur Seite.“ Wer ein Buch zur Hand nehmen will, das den west-östlichen Dialog aus eigener Erfahrung beschreibt, sollte zu dem Schweizer Jesuiten und Zen-Meiser Niklaus Brantschen greifen. Sein autobiografisches Buch „Auf dem Weg des Zen. Als Christ Buddhist“ erschien bei Kösel (2002).
Werden die Möglichkeiten des religiösen Buches überschätzt? Zunächst ist zu berücksichtigen, dass es im Buchhandel keine Sparte gibt, in der die zu vermutende Divergenz zwischen den zahlreichen Käufern und den real existierenden Lesern so eklatant ist wie beim Geschenkbuch. Die unter Erfolgsdruck stehenden Verlage unterstützen dies durch immer neue Anthologien. Wenn der Autor kein neues Buch vorlegt, wird ihm aus seinen bisherigen ein neues zubereitet, für das er nach Möglichkeit zumindest ein Voroder Nachwort beisteuert. Über Erfolg oder Misserfolg entscheidet das Publikum. Allerdings werden die Rahmenbedingungen dieser Entscheidung immer komplexer, nicht nur beim religiösen Buch. Förderlich für die Zukunft ist neben einer zurück zu gewinnenden Bandbreite von Themen und Autoren auch das stimmige Verhältnis von Inhalt und Aufmachung. Hinter die Öffnung religiöser Themen auf eine breite Leserschaft hin kann und will kein Verlag mehr zurück, der überleben will. Langfristiger Erfolg beruht auf glaubwürdigen Autoren ebenso wie auf überzeugenden Programmen.