Ganze Bücher hat man inzwischen über Harry geschrieben – fast jedes Kind auf der Welt kennt seinen Namen (vgl. Bd. 1: Harry Potter und der Stein der Weisen, 1998 [alle Carlsen Verlag, Hamburg] 19). Diese eigenartige Prophezeiung, die vor sechs Jahren den Erfolgsroman der Jahrtausendwende eröffnete, hat sich längst bewahrheitet. Ursprünglich hatte die Autorin der Harry-Potter-Romane, Joanne K. Rowling, wohl nur ihr eigenes Werk innerhalb der fiktiven Welt des berühmtesten aller Zauberlehrlinge einordnen wollen – mittlerweile gibt es auch Sekundärliteratur in nennenswertem Umfang, die sich mit der auf sieben Bände angelegten Geschichte eines heranwachsenden Zauberers beschäftigt.
Keine wirklich überzeugende Erklärung für den außergewöhnlichen Erfolg
Dass ein viel gelesenes Jugendbuch Interpretationen, didaktische Materialien und Analysen seines außergewöhnlichen Erfolges nach sich zieht (wobei gerade die didaktischen Materialien von den Rechteinhabern Warner Bros. mit juristischen Mitteln verhindert werden sollten), ist nicht außergewöhnlich. Inzwischen haben sich allerdings auch die Fachtheologen für Harry Potter zu interessieren begonnen. Neben Akademieveranstaltungen und Fortbildungen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer ist es auch schon zu Seminaren an theologischen Fakultäten gekommen. Ausgelöst wurde die Aufmerksamkeit der etablierten Theologie durch eine in verschiedenen Medien und vor allem im Internet verbreitete Kampagne unterschiedlichster christlichfundamentalistischer Gruppen, die in den Büchern um den Zauberlehrling im günstigsten Falle verwerfliche esoterische Einflüsse aufspürten, meist jedoch wenigstens dunkle Mächte, wenn nicht gar Satan selbst am Werk sahen (vgl. HK, Januar 2002, 6 f.). Mit enormer Breitenwirkung: Publikumswirksam wurden die Romane aus Schulbüchereien verbannt, sogar zu einzelnen Bücherverbrennungen soll es – in Deutschland! – gekommen sein. Zahllose Eltern waren verunsichert. Zugleich erreichten die Bücher, deren Manuskript zuvor von mehreren Verlagen als zu umfangreich und komplex abgelehnt worden war, bis dahin ungeahnte, für unmöglich gehaltene Auflagenzahlen. Schließlich avancierte ein Kinderbuch zum Weltbestseller, es entstanden Ausgaben für Erwachsene im neutralen Schutzumschlag und Harry Potter eroberte nicht nur die Feuilletons, sondern auch die Titelseiten überregionaler Zeitungen. Dass ein Buch – ein höchst seitenstarkes noch dazu – im Zeitalter der elektronischen Medien zum Massenereignis wird, ist an sich schon bemerkenswert. Unterstrichen wird diese Besonderheit dadurch, dass der erste Band nicht durch übermäßige Werbung unterstützt wurde. Die ungeheure Merchandising-Kampagne, mit der die Verfilmung des ersten Bandes im Herbst 2001 (die des zweiten Bandes, „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ [1999] kam im Herbst 2002 in die Kinos, die des dritten, „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ [1999] ist für Juni 2004 angekündigt) kommerziell weiter ausgenutzt werden sollte, versandete wenigstens in Deutschland recht schnell. Die Fan-Artikel wurden rasch verramscht und erzielten nicht die von vielen Buch-Enthusiasten befürchtete phantasietötende Breitenwirkung. Der „Zauber des Harry Potter“ (so der Buchttitel des Literaturwissenschaftlers Paul Bürvenich) überdauerte seine Kommerzialisierung – und verwischt seine eigene Spur. Denn für den außergewöhnlichen Erfolg der Geschichten gibt es keine wirklich überzeugende Erklärung.
Vielleicht ist ein Grund, dass die Romane für jeden etwas bieten: Mittel gegen Hausaufgabenstress für gegenwärtige (und nicht zuletzt auch gewesene) Schülerinnen und Schüler, Mythologeme und latinisierende Zaubersprüche für Altphilologen, Theorie der Zauberei für Philosophen – und ein wenig Allmachtsphantasie, Ethik und Identitätssuche für die Theologen als Zugabe. Die kunstvolle Komposition der Romane spielt mit mehreren Erzählebenen und kein verborgener textinterner Verweis läuft ins Leere. Aber abgelöst von Inhalt und Komposition, in der es offenbar keinen Zufall gibt, verblasst Harry. Die Verfilmung der ersten beiden Bände spielte zwar Millionen ein, blieb aber (nahezu notwendig) hinter der „Printversion“ weit zurück. Nicht umsonst hieß es im Herbst 2001, als Millionen Fans auf das Erscheinen des fünften Bandes warteten, die Produktionsfirma Warner Bros. habe aus Sorge um den kommerziellen Erfolg des ersten Filmes auf eine Publikationspause gedrängt. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um ein Gerücht, wie so vieles im Umfeld der Geschichte im Legendären und Vagen verharrt, denn „Harry Potter and the Order of the Phoenix“ (Bloomsbury, London) erblickte erst in diesem Sommer mit drei Jahren Verspätung das Licht der Öffentlichkeit (die deutsche Ausgabe hat der Carlsen-Verlag für den 8. November mit einem Umfang von über 1000 Seiten angekündigt). Die Spätgeburt war indes übermäßig erfolgreich: Die englischsprachige Erstauflage lag rasch bei 13 Millionen Exemplaren, von denen allein 500 000 an deutsche Endverbraucher gingen und die alle Befürchtungen widerlegten, Harry würde am eigenen Erfolg zu Grunde gehen. Die Romane um Harry Potter sind derart vielschichtig angelegt, dass sich eine kurze Nacherzählung ganz von selbst verbietet. Niemand weiß zudem, welche Bedeutung altbekannte Handlungsorte im nächsten Band bekommen werden, kein Buch ist in sich wirklich abgeschlossen.
Die Rahmenhandlung bietet nur ein grobes Orientierungsmuster
Die Rahmenhandlung bietet nur ein grobes Orientierungsmuster, mit dem Rowling virtuos zu spielen versteht, nachdem es einmal etabliert wurde: der Aufbruch aus dem dekadent-bürgerlichen Ligusterweg (engl. Privet Drive) über den inzwischen berühmtesten Bahnsteig Londons, das Gleis 9 3/4 in King’s Cross, zur Zauberschule Hogwarts irgendwo im dunklen Norden Schottlands, das Schuljahr mit seinen nur anfangs eigentümlichen Unterrichtsfächern (Geschichte der Zauberei, Verwandlung, Zaubertränke, Zauberkunst und anderes mehr), diverse gattungstypische und sujetspezifische Abenteuer, schließlich die Rückkehr über King’s Cross in die Welt der Menschen, Muggel genannt. Jeder Band beschreibt neue Details aus der Zaubererwelt, und nicht wenige dieser Details sind geeignet, eine völlig neue Sicht auf die Selbst- und Welterfahrung Harrys zu werfen. Und rasch greifen die Irritationen auf die Leser über, die sich soeben halbwegs häuslich in Rowlings Paralleluniversum eingerichtet hatten. Warum kann Harry plötzlich Zugtiere vor den vier lange Bände lang zuverlässig und scheinbar pferdelos fahrenden Kutschen sehen? Harry Potter beansprucht seine Fans – und diese Verunsicherung wächst mit, begleitet über Jahre. Dass ein Jugendbuch zum Lebensbegleiter, ein Romanheld zum Lebensabschnittsgefährten wird, ist in der Dimension eines Massenphänomens bislang einzigartig. In der „Zauberwelt der J. K. Rowling“ (Jörg Knobloch) gibt es wenig, was bedeutungslos bliebe. Doch damit nicht genug. Zugleich entwirft die Autorin die Topologie einer Welt mit je unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen, die weiter zur Verunsicherung nicht nur der Romanfiguren beitragen. Was bedeuten Harrys Träume? Ist es Zufall, dass einige seiner Traumbilder ein „reales“ Pendant haben – und was heißt das in einer Romanwelt? Brechungen und Spiegelungen von Realität finden sich allerorten. Man muss nur akzeptieren, dass es neben unserer Alltagserfahrung, neben der langweilig-gewöhnlichen Welt des Ligusterwegs, eine andere Welt gibt (und sei es die Zaubererwelt, für die wir alle nur nichtmagische Muggel sind). Mit Harry, dem elternlosen Durchschnittskind, der an seinem elften Geburtstag erfährt, dass es eine Zauberwelt gibt und er sie gleich als lebendige Legende betreten wird, lernen wir ständig mehr über das zufalllose „Reich der Notwendigkeit“ jenseits unserer Alltagserfahrung.
Ein Reich der Notwendigkeit: Tatsächlich gibt es, und das macht die Zauberwelt aus, hier keinen Zufall. Jede Wirkung muss eine deutlich bestimmbare Ursache haben, gewöhnlich einen Zauberspruch. Falsch aufgesagte, gar nur falsch betonte Sprüche haben eine zuweilen ganz fatale Folge. Rowlings Zauberwelt ist eine Welt, in der alles kausal erklärbar sein soll, in der vielleicht noch nicht jeder mögliche Zauberspruch bekannt und erforscht ist, in der aber ein Zauberspruch als universaler Weltveränderungsschlüssel unfehlbar seine Wirkung haben wird. Dies ist ein Grund für das Interesse, das die Bücher in einer technologisch verunsicherten Spätmoderne nicht nur bei Geisteswissenschaftlern gefunden haben. Harry Potters Eintritt in die Zauberwelt ist die Literatur gewordene Dialektik der Aufklärung. Wissenschaftliche Allmachtsphantasien werden hier gekonnt remythisiert, zuweilen auch kritisiert und persifliert: Für jedes technische Gerät der Welt der Muggel gibt es mindestens ein Pendant in der Zauberwelt. Und Arthur Weasley, Vater des Potter-Freundes Ron und Mitarbeiter des Zaubereiministeriums mit einer schrulligen Vorliebe für Muggelartefakte, stellt immer wieder staunend fest, dass die einfältigen Muggel tatsächlich für manchen Zauberspruch ein technisches Substitut erfunden haben. Zauberei wird zur Metapher der modernen Wissenschaften. Indem sie auf die Verführungskraft der magischen Welt hinwiesen, haben die fundamentalistischen Kritiker damit tatsächlich einen Kernpunkt der Romane getroffen. Ihre Kritik bewegt sich allerdings auf einem erbärmlichen Niveau – und spiegelt nicht selten eine offensichtlich heute noch weit verbreitete und ganz reale Furcht vor magischen Praktiken, Zauberkünsten und Hexereien wieder. Wie eine überhaus heftige Leserbriefkontroverse in der Freiburger Bistumszeitung „Konradsblatt“ in diesem Sommer belegt, rechnen auch innerhalb der etablierten Kirchen manche mit der Möglichkeit von bösen Flüchen, schwarzer Magie und der Verführungskraft der Zauberei, vor der Kinder und Jugendliche um jeden Preis bewahrt werden müssen. Harry Potter wird hier zum Katalysator der Angst.
Entwicklungspsychologisch glaubhafte Schilderungen der Herausforderung Pubertät
Auf der anderen Seite ist die Angst vor dem Bösen tatsächlich ein beherrschendes Thema des Rowling-Universums. Harry, der sich zunächst als ein Waisenkind glaubt, dessen Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien, erfährt nach und nach, dass seine Eltern im Kampf mit dem Schwarzen Lord, mit „Du-weißt-schon-wem“, dem, dessen Name nicht genannt werden darf, getötet worden sind. Lord Voldemort, ein machtbesessener Zauberer, der die Rationalität der Zauberwelt in den Dienst seines Machtstrebens stellen wollte und damit zum Gegen-Paradigma der neuzeitlichen Allmachtsphantasie avanciert, verliert seine Macht in dem Moment, als sein Harry zugedachter tödlicher Fluch auf ihn selbst zurückfällt. Nur eine blitzförmige Narbe erinnert Harry – zuweilen buchstäblich schmerzhaft – an seine erste, lebensprägende Begegnung mit Voldemort. Weitere sollen aber folgen. Sie führen Harry in mehrere Krisen. Entwicklungspsychologisch glaubhaft schildert Rowling in der Auseinandersetzung Harrys mit Voldemort die Herausforderungen der Pubertät. Aber darüber hinaus gelingt es ihr, die Konfrontation Harrys mit dem schwarzen Lord als moderne Versuchungsgeschichte zu zeichnen. Harry, der von den Romanfiguren, den Leserinnen und Lesern und von sich selbst zunächst eindeutig der guten Seite zugerechnet wird, entdeckt in sich selbst immer neue Verlockungen des Bösen – bis er selbst den unverzeihlichsten der „Unverzeihlichen Flüche“, Voldemorts Todesfluch „avada kedavra“, wenn auch erfolglos, gegen seine Gegner anwendet.
Die Bildersprache eines Mythos der neuzeitlich verunsicherten Freiheit
Das Identitätsdrama um den Zauberschüler Harry Potter erhält vor diesem Hintergrund eine ganz neue Dimension. In der klinisch rein rationalen Zauberwelt modelliert Rowling das Drama eines jungen Menschen heraus, der über sein eigenes Leben selbst entscheiden muss. Umstände, Beeinflussungen, natürliche Grenzen – alles das spielt in einer Welt keine Rolle, in der Hindernisse durch einen Zauberspruch, gegebenenfalls durch ein wenig Forschungsarbeit in der umfangreichen Bibliothek der Zauberschule beseitigt werden können. Entscheidend sind die Entscheidungen. „Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich sind“, erklärt der Leiter der Zauberschule, Professor Dumbledore, dem verunsicherten Harry (Bd. 2, 343). Er lastet damit die ganze Mühe der Identitätssuche auf die Schultern eines Zwölfjährigen. Er hat es in der Hand, der zu sein, der er sein will – und kennt doch seine eigenen Möglichkeiten noch gar nicht, ahnt nur das Geheimnis seiner Herkunft.
Rowlings Roman wird zum Abbild der bedrohten Freiheit: zu einem Mythos, in dem zahlreiche Figuren ohne weiteres als Allegorien der Selbstentzogenheit menschlicher Freiheit zu deuten sind. Unterstrichen wird die eindrucksvolle psychologische und freiheitsanalytische Dimension durch zahlreiche ganz außergewöhnliche Einfälle der Autorin. Die Dementoren, die Harry erstmals im dritten Band begegnen und jegliches Glück aus einem Menschen saugen, gehören genauso dazu wie der Spiegel Nerhegeb, der die uneingestandenen Wünsche des Hineinschauenden abbildet (Bd. 1, 212 ff.), oder der Irrwicht, der die Gestalt der größten Angst annimmt (Bd. 3, 163). All dies sind Figuren, die auch manchen Leser nicht ganz unbeteiligt lassen, sondern die Verwirrung, die in der Anlage der Geschichte grundgelegt ist, weiterführen. Dass da zuweilen das Böse, die unbedingte Machtausübung über andere, die Dienstbarmachung der Zaubererrationalität zum alleinigen Nutzen der eigenen Interessen als durchaus verlockende Möglichkeit erscheint, ist so einleuchtend wie lebensnah. Wer kennt nicht die süßen Gedanken der Rache, die Stunden des Hasses, den Wunsch, einen anderen zu vernichten? Wen hätte noch nie die Wut übermannt, die Angst gefesselt, der eigene Wunschtraum realitätsblind und eigensüchtig gemacht? Rowling erzählt von diesen Gefühlen in der eigentümlich authentischen, verführerischen Bildersprache eines Mythos der neuzeitlich verunsicherten Freiheit, der ohne Götterfiguren, aber nicht ohne die geheimnisvolle, bedrohliche Realität des Bösen auskommt. Die Geschichte vom Zauberlehrling mutiert zur überraschend realistischen Darstellung menschlicher Freiheit. Weil diese gleichsam konstitutiv verunsichert ist, hat die Geschichte sowohl den Erwachsenen allgemein als auch den Theologen im Speziellen etwas zu sagen.
Entwarnung gegeben hat als erster der Salzburger Dogmatiker Gottfried Bachl. Er sprach von „guter Unterhaltung“ ohne weitergehende „religiöse Botschaft“. Sie „enthält auch keine antireligiöse Tendenz“ („Gefährliche Magie? Religiöse Parabel? Gute Unterhaltung“, in: Kaspar H. Spinner [Hg.], Im Bann des Zauberlehrlings? Zur Faszination von Harry Potter, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2001, 42–59, 57). Das ist richtig, auch wenn sich Rowling hin und wieder christlicher Motive bedient. Vor allem aber ist das Werk ein durch und durch postmodernes Potpourri mit einer bemerkenswerten ethischen Perspektive, eine geistesgeschichtlich eindrucksvolle Sammlung von Zitaten und Anspielungen, teilweise aufgeladen mit neuer, überraschender Bedeutung, die nahezu kritiklos nebeneinander gestellt werden. Der Freiburger Fundamentaltheologe Hansjürgen Verweyen geht noch deutlich weiter und interpretiert die „Aufnahme des Mythischen“ in den Romanen als Versuch Rowlings, „vergessene und neue Horizonte“ zu öffnen, „ohne ihre Leserschaft einem grenzenlosen Oberflächenpluralismus zu überlassen“ („Tod – Liebe – Eros. Archetypische Symbole bei J. K. Rowling“, in: Theologie und Glaube 92 [2002] 315– 324, 318). Nicht zuletzt solche Einschätzungen trugen dazu bei, dass die Kritiker ihre vehementen Warnungen und Verurteilungen inzwischen teilweise zurückgenommen haben. Neben dieser ersten Perspektive theologischer Deutungen, die die Motive, die Handlung und das Inventar (Begriffe, Zaubersprüche, Figuren) der Harry-Potter-Romane eher religionswissenschaftlich als im eigentlichen Sinne theologisch betrachtete und zu dem Schluss kam, dass die Bücher mythisches Material, vor allem den Mythos des besonderen Kindes, auf interessante Weise neu beleben (so kürzlich und zusammenfassend: Gundel Mattenklott, „Harry Potter – phantastische Kinderliteratur. Auf den Spuren eines globalen Erfolges“, in: Stimmen der Zeit, Heft Nr. 1/2003, 39–51, 42), finden sich mindestens zwei weitere.
Praeparatio evangelii?
Die Tatsache, dass Harry Potter ein Massenphänomen geworden ist, erlaubt weitere Annahmen von theologischer Relevanz: Heute kennen mehr Menschen die Geschichten des Zauberschülers als die des Gottessohnes. Vielleicht hat dieses sperrige und umfangreiche, aber dennoch erfolgreiche Konvolut der Postmoderne über die von Mattenklott genannte Parallele der „Erzählung von Harry Potters frühester Lebenszeit [mit] der christlichen Weihnachtsgeschichte“ (43) hinaus etwas, was der Verkündigungsabsicht der Kirchen gut anstände. Vor diesem Hintergrund dringt eine zweite Deutungsperspektive tiefer in die Tiefenstruktur der Romane ein. Sie entdeckt Parallelen zur christlichen Tradition und ihrer Erlösungshoffnung, interpretiert die Romane als Ausdruck einer Erlösungssehnsucht (so zum Beispiel Christa Meves im Rheinischen Merkur, 24.11.2000), sieht in ihnen gar eine so genannte praeparatio evangelii (Axel Schmidt, „Die Suche nach dem rechten Lebens-Mittel. Harry Potter als Beispiel einer modernen praeparatio evangelii“, in: Theologie und Glaube 92 [2002] 353–366). Sie berücksichtigt angesichts des bemerkenswerten Phänomens Harry Potter die geistige Situation der Leserinnen und Leser, die die Romane um den Zauberlehrling zu diesem beispiellosen Erfolg getragen haben. Sofern Harry Potter ethische Fragestellungen anspreche und zu einer Anleitung zum Nachdenken über die rechte Lebensführung werde, fülle der Roman eine Leerstelle der Moderne. Die christliche Botschaft, die die Antworten auf diese und weitere Grundfragen von modernen Menschen bereithalte, könne an den Sehnsüchten, die Harry Potter fokussiert, ohne weiteres anknüpfen. Eine dritte Perspektive will so weit nicht gehen, weil sie entscheidende theologische Prämissen dieser Auffassung nicht teilt. Für sie sind die Romane um den Zauberschüler Harry Potter jedoch das Projekt der sich auch in Mythen und Phantasien über sich selbst verständigenden Freiheit – ähnlich hatte sich auch Verweyen geäußert. Auch hier werden die Romane zeitdiagnostisch gelesen und auf ihre anthropologische Funktion für das Selbst- und Weltverständnis ihrer Leser hin untersucht. Schließlich haben wir fast alle von Harry Potter etwas gelernt. Wir alle sind eben Muggel: kontingente Wesen. Welche Aussage der modernen Anthropologie sonst darf sich solcher Verbreitung, Akzeptanz und Plausibilität rühmen?
Der Konsens der Theologen über die anthropologische Relevanz, die theologische Anschlussfähigkeit und die hoch stehende Ethik der Romane könnte nun allerdings brüchig werden. Vielleicht waren einige der Interpretationen doch ein wenig zu glatt und zu voreilig.
Die Versuchung faschistoider Ideologien
Thomas Steinfeld kritisiert in seiner Besprechung des fünften Bandes in der Süddeutschen Zeitung die implizite „Rassentheorie“ und zitiert einen Satz, „für den man Martin Walser alle Furien der Aufklärung hinterher jagen würde“ (Süddeutsche Zeitung, 23.6.2003): „The bond of blood [is] the strongest shield“ (Bd. 5, 737) – deshalb muss schließlich der verhasste Ligusterweg, an dem das Blut der Mutter in Gestalt ihrer Schwester, Tante Petunia, weiterlebt, Harrys Heimat bleiben. Wenn auch der bisherige Verlauf der Geschichte Raum für die Hoffnung lässt, dass sich alles nach weiteren dramatischen Verwicklungen doch noch im Sinne einer mehr als nur pragmatischen Moral lösen wird – die Versuchung faschistoider Ideologien wird tatsächlich zunehmend zum Leitmotiv der Geschichte (ähnlich Mattenklott, 49). Sie klingt schon im ersten Band an, wenn beiläufig erwähnt wird, dass Professor Dumbledore den „schwarzen Magier Grindelwald“ im Jahre 1945 besiegt habe (Bd. 1, 114). Aus der Grundkonstellation Muggel gegen Zauberer ergeben sich mit Notwendigkeit Probleme: Zwischen Zauberern mit „reinblütiger“ Abstammung und Mischlingen, abwertend „Schlammblüter“ (engl. „Mudblood“) genannt, wuchert ein Konflikt, dem sich nur wenige wirklich entziehen können. Dieser Konflikt reicht bis in Harrys unmittelbare Nähe: Hermine, Kameradin über fünf Bände, stammt von Muggel-Eltern ab. Voldemort selbst, Harrys alter ego, hat einen Nichtmagischen zum Vater. Und stammt nicht Harrys Mutter selbst aus einer reinblütigen Muggelfamilie?
Mit einem Mal gewinnt im fünften Band die Rassenfrage an existenzieller Brisanz, gegen die die bisherigen Anspielungen harmlos waren. Zumal Dumbledore „the bond of blood“ zugleich als Heilmittel gegen die allgegenwärtige Bedrohung Harrys durch Voldemort preist. Natürlich klärt sich damit zunächst nur einmal Harrys merkwürdiges Exil in der bürgerlichen Scheinidylle des Ligusterweges. Aber schon längst hat da der neue Roman zahllose Grenzen verschoben, die bis dahin für eingefleischte Fans als unverrückbar galten. Schließlich ist es kein geringerer als der gütige und nahezu allwissende Professor Dumbledore, dessen filmische Umsetzung wohl nicht zufällig an eine Karikatur von Gottvater höchstselbst erinnert, der seine Ethik des „Entscheide dich, wer du sein willst“ zu revidieren scheint. Schließlich taucht noch eine das Leben Harrys bestimmende Prophezeiung auf. Es verbleibt ein zunächst nur sehr kleiner Rest an Unsicherheit, ob wirklich Harry gemeint ist, aber das Ende der Geschichte könnte bedrohlicher – sowohl für Harry selbst als auch die implizierte Ethik insgesamt – nicht formuliert werden: „He must be either murderer or victim, there was no other way“ (Bd. 5, 749). Harry wird Mörder oder Opfer Voldemorts werden. Rowling entlässt ihre Leser gern mit solchen Andeutungen in die lange Zeit zwischen den Bänden. Wahrscheinlich hält sie hinsichtlich der Deutung dieser Prophezeiung noch die ein oder andere Überraschung bereit. Doch zusammen mit dem Blut-Gefasel Dumbledores ergibt sich ein recht eigenartiges Bild. Für die Handlung ist das nämlich gar nicht zwingend notwendig, wenn Harry nur so lange durch die Blutsbande geschützt bleiben soll, bis er für sich selbst sorgen kann und erwachsen ist, Blut also ein nur vorläufiger und zu überwindender Schutz ist. Aber ein Spiel mit dem Feuer ist diese Versuchung, alles nach dem eigenen Willen und den entlastenden Kategorien des Blutes zu klassifizieren, in Deutschland allemal.
Oder lassen sich etwa sinnvolle Gründe dafür finden, dass Rowling sich mit dieser Versuchung auseinandersetzt? Die durch nichts belegte und gerade dadurch unwiderlegliche Behauptung der Inferiorität aller anderen ist schließlich der verzweifelte Versuch freier Wesen, sich selbst ohne Hilfe anderer zu behaupten. In der Konsequenz kennt dieser Versuch tatsächlich nur Täter und Opfer, zuweilen beides in einer Gestalt. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, erhält seinen Platz in ihm. Rowling zeichnet jedoch gerade im jetzt vorliegenden fünften Band ein wenig optimistisches Bild von der Möglichkeit freier Gesellschaften, mit Bedrohungen, Gefahren und Krisen umzugehen. Wird es ihr gelingen, eine Alternative zum tödlichen Dualismus der Potter-Welt aufzuzeigen?
Ob Harry Potter als Literatur und Mythos gewordene Faschismustheorie in die Geschichte eingeht, doch noch zur Skandalgeschichte oder schlicht vergessen werden wird, ist noch nicht abzusehen. Einige Jahre wird er uns in jedem Fall noch begleiten. Bis dahin gehört zum Gesamtkunstwerk der Geschichte, dass Rowling durch gezielt gestreute und interessierten Fans leicht zugänglich gemachte Hinweise die Aufmerksamkeit ihres Publikums weiter steuert und gekonnt hinters Licht führt: Rowlings frühere Ankündigung, im fünften Band werde eine Hauptperson sterben, wird erst beinahe, dann noch einmal beinahe und dann eher beiläufig in Szene gesetzt. Voreilige Interpretationen dieses Mythos sind sicher fehl am Platze. Kritische Begleitung des Rezeptionsprozesses dagegen ist weiterhin notwendig.