In Antakya, dem antiken Antiochia am Orontes, gibt es die Petrusgrotte, in der sich schon die ersten Christen versammelt haben sollen. Reste alter Mosaike, mutmaßlich aus dem fünften Jahrhundert, sind noch erhalten; die Kreuzfahrer haben die Höhle mit einer gotischen Fassade verkleidet. Schon an diesem ältesten Ort christlicher Präsenz in Kleinasien sind die Schwierigkeiten nicht-muslimischer Minderheiten in der Türkei auch ein Jahr nach dem Regierungswechsel sichtbar. Es gibt die individuelle Religionsfreiheit: Die Ausübung privater Frömmigkeit ist möglich, sogar Gottesdienste können an jenem erinnerungsgeschichtlich bedeutsamen Ort abgehalten werden. Die gesamte Anlage jedoch wird vom staatlichen Kulturministerium als Museum betrieben. Selbst am 29. Juni, wenn der Gedenkgottesdienst für die Apostel Petrus und Paulus gefeiert wird, so wird geklagt, müssen die christlichen Pilger das für türkische Verhältnisse stolze Eintrittsgeld von derzeit umgerechnet rund drei Euro bezahlen.
Auch ein Jahr nach dem erdrutschartigen Sieg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des früheren Bürgermeisters von Istanbul, Recep Tayyib Erdogan (vgl. HK, Januar 2003, 42 ff.), ist die Bilanz aus Sicht der christlichen Minderheiten insgesamt recht durchwachsen. Schon seit einigen Jahren ist der Exodus der verbliebenen, mit einem guten Promille Bevölkerungsanteil inzwischen stark dezimierten Christen in der Türkei weitgehend gestoppt; die Stimmung hat sich ein wenig aufgehellt. Wie westliche Diplomaten und Vertreter politischer Stiftungen heben sie den Reformwillen der neuen Regierung mit islamischen Hintergrund hervor und zeigen sich von der Konsequenz beeindruckt, mit der in Erwartung baldiger EU-Beitrittsverhandlungen weitere vier Reformpakete mit EU-Harmonisierungsgesetzen durch das Parlament verabschiedet wurden. Erdogan konnte nicht zuletzt bei seinem Deutschlandbesuch Anfang September mit Verweis auf diese Gesetzesänderungen für einen Beitritt zur Europäischen Union werben. Allein die Umsetzung vor Ort lässt weiterhin auf sich warten. „Auch die Lage der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften sowie die freie Religionsausübung allgemein sind wenig zufriedenstellend“, bestätigt ein Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages nach einer Reise durch die Türkei im Mai. Immer noch sind der fehlende Rechtsstatus, die leidigen Eigentumsstreitigkeiten und die Auflagen für das Personal und dessen Ausbildung die größten Hindernisse auf dem Weg zur Normalität (vgl. HK, Mai 2001, 254 ff.).
So spricht Mesrob Mutafyan, als armenisch-orthodoxer Patriarch von Istanbul mit schätzungsweise 60 000 Gläubigen im Rücken Vertreter der größten christlichen Kirche in der Türkei, auf der einen Seite von der „großen Hoffnung“, die er angesichts der jüngsten Entwicklungen hege, und lobt die „großen Veränderungen in der Atmosphäre“. Man könne inzwischen freier sprechen und werde auch von staatlicher Seite angehört. Nach mehreren Vertröstungen wurde der Patriarch Ende September selbst beim Ministerpräsidenten vorgelassen. Dieser hat weitere Veränderungen angekündigt und um Geduld gebeten, bis die vor allem drängenden Fragen des Kirchenbesitzes wie der Schulen gelöst seien. Auch habe Erdogan versprochen, dass die zuständigen Ministerien angewiesen werden, die offiziellen Schulbücher mit Blick auf die negative Darstellung der Armenier zu überarbeiten. Zugleich berichten Menschenrechtler auf der anderen Seite, dass noch Ende vergangenen Jahres, also bereits unter der neuen AKP-Regierung, ein Aufsatzwettbewerb ausgelobt wurde, in dem die aus türkischer Sicht feindliche Gesinnung der Armenier herausgearbeitet werden soll. Die dabei zu verwertenden Quellen sind genau angegeben. Ohne auf diesen Fall einzugehen, gesteht der Patriarch zu, dass es wohl mehr als zwölf Monate dauern werde, bis im Verhältnis zwischen Türken und Armeniern ein wirklicher Bewusstseinswandel greift. Das Patriarchat setze sich jedenfalls voll für die türkisch-armenische Versöhnungsarbeit ein. Vorwärtsgewandt fordert er darüber hinaus selbstbewusst eine christlich-theologische Fakultät, die wie im angelsächsischen Raum ökumenisch organisiert und an einer staatlichen Universität angesiedelt sein soll. Nur so sei der „Teufelskreis“ zu durchbrechen, dass die religiöse Erziehung in den 13 armenisch-orthodoxen Schulen (zu denen noch vier armenisch-katholische kommen) ohne eine entsprechende Lehrerausbildung geleistet werde und dadurch zunehmend an Qualität verliere.
Konkreter ist da die Hoffnung in der griechisch-orthodoxen Kirche, wieder mit der theologischen Ausbildung in der 1971 geschlossenen Hochschule in Halki auf der Insel Heybeliada im Marmara-Meer beginnen zu können. Bartholomäus I., der Ökumenische Patriarch von Istanbul, und der für Rechtsangelegenheiten zuständige Metropolit Meliton Karas, die ebenfalls beide im September mit Erdogan, einigen Ministern sowie Vertretern des Menschenrechtsausschusses in Ankara sprechen konnten, berichten von entsprechenden Signalen, haben aber noch keine schriftlichen Zusagen (vgl. auch die Äußerungen von Kultusminister Husein Celik Ende August in der Zeitung „Miliyet“). Wenn selbst die finnisch-orthodoxe Kirche inzwischen eine Hochschule ihr eigen nenne, so Bartholomäus, müsse auch das Ökumenische Patriarchat eine entsprechende Ausbildungsstätte haben dürfen.
Restriktive Auslegung der jüngsten Gesetze
Die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs ist nicht nur für das Überleben der griechisch-orthodoxen Kirche in der Türkei unabdingbar, sondern würde auch die Akzeptanz der Vorrangstellung des Patriarchats in der orthodoxen Welt unterstreichen, betont Bartholomäus. Auch gebe es in der orthodoxen Welt einen Bedarf an guter Theologie, mit der die Engstirnigkeit in manchen orthodoxen Kirchen überwunden werden könne. Gerade die Türkei mit ihrem großen Nationalbewusstsein sollte ja tatsächlich stolz darauf sein, das Oberhaupt der 250 Millionen orthodoxen Christen beherbergen zu dürfen. Die Sorge, es könne eine Art zweiter Vatikanstaat mit Ansprüchen auf Exterritorialität entstehen, wirkt demgegenüber vorgeschoben und ist nach der Überzeugung des Patriarchen auch nicht mit der orthodoxen Theologie vereinbar.
Wie die Armenier und alle anderen christlichen Kirchen im Land müssen auch die Griechisch-Orthodoxen immer wieder ihre Eigentumsrechte vor Gericht durchsetzen. Selbst das Grundstück, auf dem sich das Gebäude des Ökumenischen Patriarchats befindet, hat laut Grundbuch keinen Eigentümer – was in gewisser Weise konsequent ist, da die Kirche als solche rechtlich gesehen nicht existiert. 12 000 Grundstücke hat die griechisch-orthodoxe Kirche in der Türkei im Jahr 1911 besessen. Heute erhebt sie Anspruch auf 1736, von denen der Staat inzwischen 392 anerkannt hat (38 davon erst in der zweiten Instanz). Auch wenn die rund 2000 Gläubigen im ganzen Land die einzelnen Gebäude nie allesamt nutzen könnten, sind die Rechte an ihnen von Bedeutung, um mit der Vermietung oder auch mit dem Verkauf einiger die anderen Kirchen und Gebäude zu unterhalten. Es ist weiterhin offen, welche Konsequenzen das am 3. August 2002 geänderte Recht für die Stiftungen, die das Eigentum verwalten, in der Praxis wirklich haben wird. Alles in allem bezeichnet Metropolit Meliton die Lage als „besser, aber nicht gut“. Er klagt über eine restriktive Auslegung der jüngsten Gesetze, nachdem ausschließlich jener Eigentumsbestand anerkannt wird, der nach dem Stiftungsgesetz von 1935 im Jahr 1936 gemeldet wurde. Es gibt aber sowohl rechtmäßig erworbenes Eigentum aus der Zeit vorher als auch aus den Jahren danach. Wie damals wurde das Gesetz auch diesmal nur unzulänglich bekannt gemacht, inzwischen aber immerhin die Frist für eine weitere Registrierung verlängert.
Inzwischen wieder vier Klosterschulen im Südosten
Schwieriger ist die Situation für die syrisch-orthodoxen Christen, die wie andere nach der gängigen türkischen Interpretation des Lausanner Vertrags von 1923 nicht zu den dort anerkannten nicht-muslimischen Minderheiten auf türkischem Staatsgebiet gehört. In Istanbul, wo inzwischen mit 10 000 Syriani der Großteil der Gläubigen wohnt, ist nur eine Kirche ihr Eigentum, weitere acht Kirchen werden von der römischkatholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche zur Verfügung gestellt. Der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Istanbul, Yusuf Cetin, ist einer von jenen, die trotz der verbesserten Stimmung über die alltägliche Diskriminierung klagen. So habe es jüngst eine Zeitungskampagne gegen den Dekan der medizinischen Fakultät der IX.-September-Universität in Istanbul, ein Gemeindemitglied, gegeben. „Wir wissen, dass er ein Armenier ist“: Die Schlagzeile offenbart die Haltung, aufgrund der alle Minderheiten offenkundig weiterhin mit der Unterstellung einer für das türkische Volk bedrohlichen Gesinnung rechnen müssen. Während es in Istanbul keine eigenen Schulen gibt und die katechetische Unterweisung am Samstag im Gemeindesaal erfolgt, finden sich im Südosten der Türkei weiterhin Klöster mit Schulen. Knapp 70 Schüler werden in Mor Gabriel, Deyr-ul-Zafaran, Mor Yacoub und inzwischen auch wieder in Mor Melki unterrichtet – wobei die schulpflichtigen Jungen tagsüber selbstredend die nächst gelegene türkische Schule besuchen. Neben den täglichen Gebetszeiten stehen dann jedoch am Wochenende und in den Ferien Liturgie, Geschichte und das Erlernen des Aramäischen auf dem Programm. Auch wenn der Staat sein Verbot 1997 noch einmal erneuert hat, wird der Unterricht offenbar geduldet. Gleichwohl wäre gerade hier die Umsetzung der im Reformpaket beschlossenen Sprachfreiheit wie die Erlaubnis zu entsprechenden Ausbildungsstätten wichtig, um etwa offiziell Zeugnisse ausstellen zu können und der Ausbildung so ein größeres Gewicht zu verleihen. Letztlich sind die Klöster mit insgesamt 18 Nonnen, acht Mönchen, sieben weiteren Lehrern samt ihren Familien und nicht zuletzt den beiden Erzbischöfen Filüksinos Saliba Özmen (in Deyr-ul-Zafaran für Mardin) und Samuel Aktas (in Mar Gabriel für den Tur Abdin) kulturelle Aktivposten im Stammland der Christen in der Türkei, das nicht preisgegeben werden soll. Allein die weitgehend abgeschlossenen Renovierungsarbeiten am Kloster Mar Gabriel inmitten der verkarsteten Landschaft sind bemerkenswert. Sie dokumentieren freilich auch im kurdischen Umfeld eine wirtschaftliche Stärke, die neue Spannungen provozieren könnte. Nach eigenen Angaben leben zur Zeit noch 400 Familien in Midiyat, Mardin und den verbliebenen 14 Dörfern mit christlicher Bevölkerung (die Hälfte davon sind ausschließlich von Christen bewohnt). Aber auch die Besuche in der alten Heimat von jenen, die wie andere altorientalische Christen vor allem nach Deutschland, die Schweiz, Belgien oder Schweden geflohen sind, werden derzeit aufgrund der seit einigen Jahren deutlich ruhigeren Lage im Kurdengebiet wieder häufiger. Es gibt sogar erste Rückkehrwillige unter den mehreren zehntausend syrisch-orthodoxen Christen in Europa. Auch wenn die Finanzierung noch auf wackeligen Beinen steht, werden beispielsweise in einem 1995 aus Angst vor der kurdischen Arbeiterpartei PKK verlassenen Dorf südlich von Midyat, dessen aus dem 5. Jahrhundert stammende Kirche augenscheinlich von türkischen Soldaten verwüstet wurde, wieder die ersten Häuser gebaut. Andernorts freilich wurden die verlassenen Dörfer vollständig von der kurdischen Bevölkerung übernommen, so dass etwa das in Salach verbliebene Kloster Mor Yacoub allein auf weiter Flur steht.
Dreißig Prozesse um Grund und Boden der ehemaligen italienischen Schule in Iskenderun
Die verbliebenen syrisch-katholischen Christen sind demgegenüber fast ausschließlich in Istanbul anzutreffen. Patriarchalvikar Yusuf Sag, als einziger Priester der Kirche wie die Vertreter der anderen unierten Kirchen Mitglied der türkischen Bischofskonferenz, schätzt die Zahl seiner Gläubigen auf rund 2000. Das ursprünglich in Mardin angesiedelte Patriarchalvikariat hat seinen Sitz jetzt in Istanbul, von den sechs Kirchen im Südosten sind fünf geschlossen.
Ähnlich ist die Situation der ebenfalls unierten Chaldäer. Ihnen ist in Südostanatolien kein einziges Dorf geblieben. Fran¸cois Yakan, der Generalvikar der chaldäisch-katholischen Erzdiözese Amida (Diyarbakir), deren Verwaltung jetzt ebenfalls in Istanbul sitzt, klagt freilich vor allem über die schwierige Lage für die chaldäischen Flüchtlinge aus dem Irak. Im Unterschied zu den anderen Kirchen gebe es für die Chaldäer keine Nation, die hinter ihnen stehe und auf politischer Ebene Druck ausübe. Da es in der Türkei nur einen dreimonatigen Flüchtlingsstatus gibt, werden die mit großen Hoffnungen nach Istanbul gekommenen Migranten, so man sie nicht wieder in ihr Heimatland abschiebt, innerhalb von kurzer Zeit in die Illegalität getrieben. Die von allen christlichen Kirchen in Istanbul getragene Initiative zur Hilfe der Flüchtlinge ist deshalb von besonderem Wert, zumal für die meisten Christen aus den Dörfern im Südosten schon die wuchernde Metropole Istanbul mit rund 13 Millionen Einwohnern eine Existenz in der Fremde bedeutet. Die derzeitige Situation für die Christen in der Türkei ist auch aus Sicht von Yakan zwiespältig. Auf der einen Seite gibt es weiterhin viele Händler, die etwa im Basar ihren christlichen Namen verschweigen, um ihre Geschäfte nicht zu gefährden. Auf der anderen Seite sind die Muslime der Stadt inzwischen durchaus hilfsbereit, wenn die Neuankömmlinge beispielsweise nach der Adresse des einzigen Schweinemetzgers in Istanbul fragen. Noch vor gar nicht so langer Zeit sei dies undenkbar gewesen.
Ähnlich gemischt ist schließlich die Bilanz aus Sicht der römisch-katholischen Kirche mit ihren 15 000 bis 20 000 Gläubigen, die aufgrund eines Zusatzprotokolls zum Lausanner Vertrag bessere Konditionen für ihr Wirken hat. Ruggero Francheschini, Apostolischer Vikar von Anatolien und Vorsitzender der Türkischen Bischofskonferenz, kann stolz darüber berichten, dass man – zusammen mit türkischen Rechtsanwälten – alle dreißig Prozesse um einzelne Parzellen des Grund und Bodens der ehemaligen italienischen Schule in Iskenderun gewonnen hat. So gibt es jetzt für die rund 1600 Christen des dort seit drei Jahren ansässigen Apostolischen Vikariates ein Diözesanhaus, das in der Zwischenzeit zum Pilgerzentrum beziehungsweise Exerzitienhaus ausgebaut wurde. In Antakya befindet sich die „Türk [!] Katolik Kilisesi“ in der Altstadt im Schatten des Minaretts und kann doch auf eine gute Nachbarschaft verweisen. Der typisch antiochenische Häuserkomplex mit romantischen Innenhöfen, in dem sich eine Art Hauskirche befindet, wird seit einigen Jahren zum Weihnachtsfest auch vom Präfekten und dem Polizeichef, der Bürgermeisterin wie dem Mufti besucht. Wie bei Moscheen in der Türkei üblich, werden zumindest hier keine Gebühren für Wasser, Strom und Müll verlangt. Francheschini berichtet auch von einer größern Zahl von so genannten verdeckten Christen, die sich nach der Beruhigung der Lage hier und da wieder zu erkennen gäben. Es handelt sich dabei um ehemalige Christen oder deren Nachfahren, die aufgrund des Drucks der islamischen Mehrheit auf der einen oder der türkischen Politik auf der anderen Seite von einer Ausübung ihrer Religion abgesehen haben. Auch wenn die Größe dieser Gruppe wohl kaum an die Millionen heranreicht, die mit Blick auf ehemals 20 Prozent Christen in der Türkei auch nach Abzug der Vertriebenen noch vermutet werden könnten, gibt es offenkundig doch eine Reihe solcher Kryptochristen, die in der Regel nicht getauft sind, trotzdem das Brauchtum pflegen, indem sie beispielsweise im Familienkreis die Hochfeste feiern, und jetzt auch wieder in den Gemeinden vorsprechen. Trotz dieser positiven Entwicklungen sind auch aus römischkatholischer Sicht Schikanen zu beklagen: So sollte im Oktober des vergangenen Jahres in der Residenz des Erzbischofs von Izmir ein Kongress des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) stattfinden. Eine Woche vor Beginn verlangte der Präfekt, dass eine eigens zu gründende Stiftung als Träger der Veranstaltung notwendig sei. Die Katholiken mit türkischer Staatsbürgerschaft wurden zwar gefunden, die Veranstaltung musste dann allerdings in einem fensterlosen Hinterzimmer eines Hotels stattfinden, bei ständiger Anwesenheit von mehreren Mitarbeitern des „Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet), die mitstenographierten und Tonband- sowie Filmaufnahmen machten. In Deutschland wartete man den Sommer über auf die Erlaubnis für einen katholischen Priester, sich um die deutschen Touristen in Antalya kümmern zu dürfen, während ein evangelischer Kollege für zwei Monate zum gleichen Zweck lediglich als Tourist einreisen konnte. Anfang September hat es allerdings mit Blick auf diese Fälle eine Gesetzesänderung gegeben.
Schriftlich fixierte gemeinsame Forderungen der christlichen Kirchen
Insgesamt ist angesichts der Entwicklungen des vergangenen Jahres erfreulich, dass sich durch die neue Situation auch die Zusammenarbeit der christlichen Kirchen verbessert hat. Nachdem die nicht-muslimischen Gemeinschaften vor einem Jahr vom Gouverneur in Istanbul dazu aufgefordert wurden, haben die christlichen Kirchen am 23. September diesen Jahres gemeinsame Forderungen schriftlich fixiert, die dem Ausschuss für Menschenrechte der türkischen Nationalversammlung und der Regierung vorgelegt wurden. Im Einzelnen gehören dazu: die Anerkennung der Patriarchate und Kirchen als Rechtspersönlichkeiten sowie die Gewährung von Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische Priester, die Möglichkeit, Seminare für die Priesterausbildung einzurichten sowie Eigentum erwerben zu können. Außerdem sollen konfiszierte Grundstücke und Gebäude zurückgegeben werden. In jeder Stadt, in der Christen leben, soll der Betrieb von mindestens einer Kirche erlaubt sein. Zu berücksichtigen ist dabei freilich die Argumentation der Regierung, dass die Anerkennung des Rechtsstatus der Kirchen den türkischen Staat zwingen würde, neben dem offiziellen sunnitischen Islam auch andere muslimische Gemeinschaften bis hin zu sektenähnlichen Gruppierungen und islamistischen Splittergruppen anzuerkennen. In einem Brief des türkischen Außenministeriums an das vatikanische Staatssekretariat vom 20.12.2002 wird hinsichtlich der römisch-katholischen Kirche in der Türkei deshalb festgestellt, dass der Rechtsstatus einer religiösen Gemeinschaft in der Türkei wegen des Verfassungsgrundsatzes des Laizismus prinzipiell nicht möglich sei. Angesichts der staatlichen Organisation des sunnitischen Islam über das Präsidium für die Religiösen Angelegenheiten, das rund 90 000 Mitarbeiter beschäftigt und im Jahr 2000 über einen Etat von 471 Millionen Euro verfügen konnte, kann auf der anderen Seite von einem Laizismus in der Türkei freilich kaum die Rede sein (vgl. Otmar Oehring, Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei – Laizismus = Religionsfreiheit?, 2. Auflage, Missio, Aachen 2002, 40). Immerhin ist der seit kurzem zuständige Staatsminister, Mehmet Aydin, ein dialogoffener islamischer Theologe, auf dem viele Hoffnungen ruhen.
Die Tatsache, dass sich die christlichen Minderheiten auf gemeinsame Forderungen einigen konnten, ist umso wichtiger, als viele Christen auch in verantwortungsvoller Position die Rechtslage nicht genau kennen und sich deshalb schnell abweisen lassen. Dass dies jetzt nicht mehr so ohne weiteres möglich ist, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Christen in ihrer extremen Minderheitenposition zusammengerückt sind. Allesamt loben sie die guten Beziehungen untereinander – wenn auch hinter vorgehaltener Hand weiterhin die ein oder andere Differenzierung vorgenommen wird. In Antakya beispielsweise feiert die lateinische Minderheit mit der griechisch-orthodoxen Mehrheit seit Jahren gemeinsam das Osterfest am Termin der östlichen Kirchen. Dafür beteiligen sich die Orthodoxen trotz der Feierlichkeiten an Epiphanie auch am Weihnachtsgottesdienst in der Grotte und laden danach in ihre Kirche ein. Demgegenüber ist der Dialog zwischen Christen und Muslimen in der Türkei eine verständlicherweise schwierigere Angelegenheit. Es gibt ihn auf der akademischen Ebene zwischen Professoren, Studenten und Lehrern, beispielsweise durch die seit drei Jahren in Ankara ansässige Jesuitenkommunität. Ansonsten beschränkt sich das in den vergangenen Jahren entspannte Verhältniss auf die alltäglichen Begegnungen, die gegenseitigen Besuche bei den jeweiligen Feierlichkeiten wie etwa auf muslimischer Seite das Fastenbrechen am Ende des Ramadan. Thema ist dann vor allem das gemeinsame Bemühen um ein friedliches Zusammenleben, nicht aber ein interreligiöser Dialog im eigentlichen Sinne. Patriarch Mutafyan gibt dazu zu bedenken, dass er von seinen 18 Priestern kaum jemand für eine solche Aufgabe freistellen könne. Mit Blick auf die von der Türkei angestrebten Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union kristallisiert sich insgesamt als Kernfrage hinaus, ob es gelingt, die bereits erfolgten wie die weiterhin zu leistenden Gesetzesänderungen durch die Ausarbeitung und Einhaltung entsprechender Verwaltungsvorschriften tatsächlich wirksam werden zu lassen. Letztlich sind die Probleme, mit denen die christlichen Minderheiten weiterhin zu kämpfen haben, abhängig von der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit nach westlichen Standards insgesamt. So beklagen verschiedene Menschenrechtsorganisationen wie der Türkische Menschenrechtsverein (IHD) oder Amnesty International, dass es trotz der Entschlossenheit der Regierung zu einer „Null-Toleranz“ bei Folter und anderen Verletzungen der Menschenrechte (Erdogan) immer noch zu Übergriffen kommt – wenn auch subtiler. Es versteht sich von selbst, dass alle Christen einen EU-Betritt befürworten, weil sie davon ausgehen, dass sich ihre rechtliche wie ihre gesellschaftliche Position durch die notwendige Beachtung der so genannten Kopenhagener Kriterien nur verbessern kann. Umgekehrt ist unklar, welche Auswirkungen eine Absage der Europäischen Union an die Türkei für die nicht-muslimischen Minderheiten hätte. Genauso unsicher ist jedoch, inwieweit die Ansätze zu einer Beschneidung der Macht der Geheimdienste und des Militärs, etwa bei der Neudefinition des Nationalen Sicherheitsrates, Erfolg haben werden. Hier wie da ist es, von anderen politischen oder wirtschaftlichen Fragen und der Herausforderung einer funktionierenden Verwaltung einmal ganz abgesehen, nur schwer vorstellbar, dass sich der notwendige Mentalitätswechsel im verbleibenden Zeitraum bewältigen lässt, der bis zur Entscheidung der Europäischen Union in einem starken Jahr verbleibt.