Wird der Satan wieder aktuell? Die breite Reaktion in fast allen großen deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen auf das Buch „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz“ von René Girard (Hanser, München 2002) könnte diese Vermutung auf den ersten Blick nahe legen. Dennoch liegen die Dinge komplexer, gibt es auch ganz andere Gründe für dieses breite Echo. So urteilt etwa Thomas Meyer in der Zeitschrift Literaturen, Girard sei „sicherlich einer der originellsten Autoren unserer Tage“ und sein Werk sei „eine wirksame Waffe gegen die offen auftretenden Spielformen jeglichen ,Neuheidentums’“ (November 2002, 50 f). Den letzteren Punkt hebt in der „Zeit“ auch Thomas Assheuer – in der Tradition von Jürgen Habermas – in seinem Kommentar hervor (26.9.2002). Sogar Peter Sloterdijk, der medienwirksame Gegenspieler zu Habermas, deutet alle höheren Formen der Ethik – auf der Linie von Girard – als Versuche, die Leidenschaften des „mimetischen“, nachahmenden Begehrens zu dämpfen, um das erstaunliche Werk menschlichen Zusammenlebens immer wieder zu ermöglichen.
Schon vor 20 Jahren war Girard in den Medien und intellektuellen Kreisen Frankreichs für kurze Zeit ein hervorragendes Gesprächsthema. Doch diese Mode ging rasch vorbei. Eine unauffälligere Weiterwirkung hielt aber an, wie eine ständig wachsende Zahl von Übersetzungen in viele Sprachen und Arbeiten in unterschiedlichsten Gebieten dokumentieren. Neben zahlreichen Rezeptionen im Bereich der Literaturwissenschaft, die zum primären Arbeitsgebiet Girards gehört, überraschten vor allem Publikationen aus der Wirtschaftswissenschaft. Michel Aglietta (Paris) untersuchte mittels der neuen Theorie die Gewalt des Geldes, und Paul Dumouchel (Montreal/Paris) legte zusammen mit Jean-Pierre Dupuy in „Die Hölle der Dinge“ (1978/1996) eine neue Deutung des Phänomens der Knappheit vor, die auch Ivan Illich sich zu Eigen machte. Danach wird Knappheit nicht nur durch das Fehlen von Gütern, sondern vor allem durch die Erwartungen und Begierden, die in einer Gesellschaft herrschen, bestimmt. Da die neueste Tendenz in der Wirtschaftswissenschaft dahin geht, den homo oeconomicus nicht bloß als ein rational kalkulierendes, sondern ebenso als ein nachahmendes Wesen zu verstehen, das sich sehr oft – etwa an der Börse – herdenmäßig verhält, nimmt die Tendenz zu, auf das mimetische Instrumentarium zurückzugreifen. Über den unmittelbar wirtschaftswissenschaftlichen Bereich hinaus wurde Jean-Pierre Dupuy, Professor an der École polytechnique in Paris und an der Stanford University (USA), zum Kristallisationspunkt einer breiten Girard-Rezeption, die allerdings die religiöse Dimension seines Werkes ausklammert. Dupuy vertritt im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich einen methodischen Individualismus, will aber gleichzeitig mittels der mimetischen Theorie ganzheitliche Phänomene und die „Transzendenz“ der Gesellschaft gegenüber dem Individuum erklären.
In diesem letzteren Bereich hat vor allem der französische Psychiater Jean-Michel Oughourlian in „Un Mime nommé désir“ (1982) die mimetische Theorie weiter entfaltet und sie zur Deutung von Phänomenen wie Hysterie, Hypnose, Trance und Besessenheit benützt. Die Arbeit Oughourlians hat nicht nur in Frankreich, sondern auch in den USA ein breiteres Echo gefunden und wurde dort vor allem durch „Models of Desire“ (1992) von Paisley Livingston (Kanada/ Kopenhagen) ergänzt, der das Werk Girards im weiteren Kontext heutiger Psychologie situiert. Im deutschen Sprachraum bemüht sich seit einiger Zeit Eberhard Haas, Leiter des Psychoanalytischen Instituts Heidelberg-Karlsruhe, um eine Synthese zwischen Sigmund Freud und Girard (...und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt, 2002), und in Italien widmet das „Journal of European Psychoanalysis“ den größeren Teil eines Heftes (Winter-Spring 2002) dem Werk des französischamerikanischen Anthropologen.
Ähnliche Rezeptionen erfolgten und erfolgen im Bereich der Erziehungswissenschaften, Ethnologie und politischen Philosophie. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der von Jacques Derrida inspirierten Postmoderne eröffnete Andrew McKenna (Chicago) mit seiner Arbeit „Girard, Derrida, and Deconstruction“ (1992). Eric Gans (Los Angeles) benützte die mimetische Theorie für die Frage nach dem Ursprung der Sprache, Tobin Siebers (Ann Arbor/Michigan) für „The Ethics of Criticism“ (1988) und Gil Bailie (San Francisco) im preisgekrönten Buch „Violence Unveiled“ (1995) zur Deutung der nordamerikanischen Gesellschaft. Eine Dokumentation, die Arbeiten mit und über Girard festhält, in keinem Bereich aber auch nicht annähernd vollständig ist, umfasst bereits etwa viertausend Eintragungen (http://theol.uibk.ac.at/mimdok/). Die Web-Seiten mit Themen zu Girard sind ebenfalls kaum mehr zu übersehen. Eine erschöpfende Übersicht über die Rezeption seines Werkes ist folglich längst nicht mehr möglich; dennoch lassen sich gewisse Trends festhalten. Die ersten großen Erfolge Girards weckten rasch Gegenreaktionen. Viele Forscher in Einzeldisziplinen reagierten allergisch auf den „Generalisten“, der sich ihrem Empfinden nach mit einer anmaßenden Sprache in ihr Arbeitsgebiet einmischt, ohne die nötigen Einzelheiten zu kennen. Noch belastender war, dass hier plötzlich Texte eine große Bedeutung gewannen, die in der intellektuellen westlichen Welt eher tabu waren: Texte der Bibel. François Lagarde sprach im Blick auf Girard von einer Christianisierung der Humanwissenschaften („René Girard ou la christianisation des sciences humaines“, 1994). Mit einem so suspekten Programm wollten sich viele nicht kompromittieren. J.-P. Dupuy bemerkte in einer Besprechung, er kenne zahlreiche Kollegen, die heimlich Girard lesen, aber schon bevor der Hahn einmal kräht, bereit seien, dreimal zu schwören, dass sie ihn nicht kennen.
Christianisierung der Humanwissenschaften?
Begünstigte dieser Gegenwind seine Rezeption in der christlichen Welt? Zunächst kaum, denn auch hier passte er nicht in die herrschenden Denkmuster. Viele Exegeten waren wenig erfreut, sich von einem Fachfremden etwas sagen zu lassen, der ihre vielen komplexen Methoden und Einzelprobleme nicht genügend ernst zu nehmen schien. Theologen und Theologinnen, die den Anschluss an die Moderne suchten, wollten sich auch nicht auf eine Christianisierung der Humanwissenschaften einlassen und plädierten eher für das Gegenteil, für eine Anpassung der Theologie an die säkularen Methoden. Manche hielten seine Sicht des Menschen für zu pessimistisch, warfen ihm einen Monismus der Gewalt vor und kritisierten ihn später, als sich dieser Vorwurf als haltlos erwies, wegen seines Festhaltens an der Erbsündenlehre. So kam es auch in christlichen Kreisen zu keiner modischen Rezeption. Sachlich stellte sich vor allem das Problem, ob der Versuch einer Christianisierung der Human- und Sozialwissenschaften ein sinnvolles Unterfangen ist.
Die meisten Forscher in diesen Bereichen gehen davon aus, dass die gesellschaftliche Ordnung, in der sie leben und arbeiten, wie selbstverständlich vorgegeben ist und für das Objekt ihrer Untersuchungen keine Fragen stellt. Girard ist hier ganz anderer Ansicht. Seine Arbeiten zum modernen Roman, zu Shakespeare und zu den griechischen Tragödien sowie seine breite Lektüre der ethnologischen Literatur haben ihn überzeugt, dass die menschliche Gesellschaft ein sehr fragiles Gebilde darstellt und leicht in eine Krise geraten kann. Es gebe deshalb eine Frage, die alle Human- und Sozialwissenschaften transzendiere und sich zugleich in jeder Einzeldisziplin auswirke: Wie ist die Gesellschaft, in der wir spontan leben und arbeiten, überhaupt möglich? Große Dichter, denen er eine scharfe Beobachtungsgabe des menschlichen Verhaltens zutraut, machten Girard darauf aufmerksam, dass jedes Begehren, das in einem ,Vorbild‘ wahrgenommen wird, instinktiv ähnliche eigene Reaktionen weckt. Wegen dieser spontanen Nachahmung von Idolen oder Vorbildern konvergieren immer wieder verschiedene Strebungen auf gleiche Objekte, was leicht zu Rivalitäten führt, die ihrerseits die Beteiligten mitreißen und zu Aggressionen verleiten. Alle Menschen wollen zwar je für sich friedlich sein, ein Mechanismus zwischenmenschlicher nachahmender Reaktionen verführt sie aber leicht zum Gegenteil. Vernunft und guter Wille genügen deshalb nicht, um eine halbwegs stabile gesellschaftliche Ordnung zu garantieren. Diese ergab sich in vorstaatlichen Gesellschaften vielmehr, wie Girard aus der ethnologischen Literatur ableitet, durch kollektive Entladungen von Aggressionen auf mehr oder weniger zufällige Opfer (Sündenbockmechanismus). Dabei trafen sich Erfahrungen des Schreckens wegen der Gewalt mit Erlebnissen der Faszination wegen des plötzlichen Auftauchens von Ruhe aus dem Chaos, und beides zusammen ließ mythisch-sakrale Vorstellungen (tremendum und fascinosum) entstehen.
Die regelmäßige Wiederholung solch schauererregender Entladungen in rituellen Opfern garantierte – so Girard – den Fortbestand der prekären gesellschaftlichen Ordnung. Beim Übergang zu Staaten und Reichen mit zentraler Autorität und Gewaltmonopol entwickelten sich später neue Formen der Gewalteindämmung, in denen aber der untergründige Sündenbockmechanismus auf transformierte Art weiter wirksam blieb. Mythische Vorstellungen verdeckten dabei die untergründige Welt, wiesen aber zugleich indirekt auf sie hin. Ihre Aufdeckung geschah schrittweise in den Hochreligionen, vor allem aber in den jüdisch-christlichen Offenbarungstexten. Das in ihnen enthaltene Wort Gottes spricht nicht bloß von Gott, sondern enthüllt zugleich das Untergründige im Menschen. Die Offenbarung Gottes schließt auf diese Weise eine Offenlegung des Menschen und damit eine spezifische, aus dem Religiösen stammende Anthropologie ein, der das ganze Interesse Girards gilt. Das ist es, was Lagarde – im Blick auf die Sündenbocktheorie – als Christianisierung der Humanwissenschaften beschreibt und was Auswirkungen für alle Einzeldisziplinen hat.
Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, eine religiös fundierte Anthropologie könne alle Einzeluntersuchungen ersetzen. Wohl aber vertritt Girard – wie manche kritisieren, in „grandioser Monotonie“ (Peter Sloterdijk) –, dass die reichen Aspekte des menschlichen Lebens und die bunte Vielfalt gesellschaftlicher Vorgänge einer stabilisierenden Grundstruktur bedürfen, um nicht ins Chaos und in selbstzerstörerische Gewalt zurückzufallen; diese Grundstruktur bleibt an das Religiöse zurückgebunden. Die moderne Welt habe zwar – so vor allem Dumouchel und Dupuy im Anschluss an Girard – gesellschaftliche Mechanismen (Markt, Demokratie mit Gewaltenteilung, etc.) geschaffen, um mit Rivalitäten und Spannungen auf nicht-religiöse Art umzugehen. Sie bleibe aber an den Mechanismus „Einigung durch Feinde“, wie Wahlkämpfe oder der „Krieg gegen den Terror“ zeigen, zurückgebunden. Bei größeren Krisen bricht auch das Mythisch-Religiöse wieder spontan hervor, transformiert sich jedoch im Bereich der monotheistischen Religionen ins Satanische.
Obwohl Girard seine Hypothesen von der Literatur und Ethnologie her entwickelt und im Zusammenhang mit biblischen Texten entfaltet hat, meint er in einer nachträglichen Reflexion, sein Forschen sei auch durch die moderne Welt der atomaren Waffen bedingt. Zwar hätten bereits die apokalyptischen Texte der Bibel klar auf eine mögliche menschliche Selbstvernichtung hingewiesen und damit die grundlegende Fragilität der Gesellschaft angesprochen, erst die modernen Waffen würden aber eine präzise und kritisch nachvollziehbare Deutung der biblischen Bilderreden ermöglichen und die volle Tragweite einer möglichen Selbstvernichtung erkennbar machen. Dieser gesamtgesellschaftliche Kontext, in dem Girard sein eigenes Werk deutet („Wenn all das beginnt...“, 1997), spielt auch in der Rezeption seiner Arbeiten eine Rolle. Während des Kalten Krieges sprach man zwar viel von der atomaren Bedrohung, ihre Tragweite für das Selbstverständnis der Human- und Gesellschaftswissenschaften blieb aber stark verschleiert, weil die Meinung vorherrschte, nur der böse Feind im Osten verhindere eine Welt des Friedens. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und den neuen Konflikten in vielen Teilen der Welt, vor allem aber seit der wachsenden Bedrohung durch den Terror wird das Bewusstsein, in einer fragilen Welt zu leben, immer lebendiger. Das Werk Girards gewinnt deshalb in den letzten Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit, was auch die Reaktionen zu seinem neuesten Buch belegen. Gleichzeitig wird ihm jedoch vorgehalten, sein Appell an die christlich verstandene Gewaltlosigkeit bleibe angesichts der Gewaltmechanismen, die er selber aufzeige, eine hilflose Geste. Bei diesem Einwurf geht es jedoch nicht bloß um Girard, sondern ebenso um die allgemeinere Frage, ob die christliche Botschaft politisch umsetzbar ist. Wolfgang Palaver (Innsbruck) hebt im Kontext dieser Frage die Bedeutung „katechontischer“ Mächte hervor. Er übernimmt diesen Begriff von Carl Schmitt und Dietrich Bonhoeffer, der ihn seinerseits von 2 Thess 2,6f. her aufgegriffen hat. Dort ist mit dem „Katechon“ eine Macht in der Zeit nach dem Kommen Christi gemeint, die das Chaos der Gesetzlosigkeit, die weiterhin in der Welt herrscht, eindämmt und die Welt in der Spannung zwischen anbrechendem Reich Gottes und stets drohender Gewalt vorläufig strukturiert. Girard hat sich diese Weiterführung seiner Theorie in seinem neuesten Buch selber zu eigen gemacht („Satan“, S. 232), und auch andere Autoren sprechen heute vom Staat als einer katechontischen Macht angesichts ständig drohender Bürgerkriege.
Zur Eindämmung des Chaos braucht es das Opfer
Die mimetische Theorie gewinnt gegenwärtig auch in der Werbe-, Film- und Medienwelt zunehmend an Bedeutung. Die Moderne betreibe, so Peter Sloterdijk im Nachwort zu „Ich sah den Satan vom Himmel fallen“, eine systematische Aufreizung des Begehrens. Die „Feuer des Neides“ seien von der Konsumgesellschaft in Dienst genommen und zu Kraftwerk-analogen Energiekreisen zusammengeschaltet worden (S. 252). Auch der mediengewandte Medientheoretiker Norbert Bolz urteilt in „Das konsumistische Manifest“ unter einigen Rücksichten ähnlich. Das Entstehen der Gewalt ohne Grund beschreibt er in girardscher Weise: „Wenn ein Kind einem anderen das Spielzeug wegreißt, weiß der Erwachsene: Es geht nicht um Objekte eines Bedürfnisses, sondern um die Rivalität des Begehrens; die Gewalt wertet die Objekte auf. Deshalb ist es naiv, das gesellschaftliche Leben als Inbegriff von Subjekt-Objekt-Beziehungen zu modellieren. Vielmehr dringt in die Subjekt-Objekt-Beziehung der Dritte ein – er mag nun Parasit heißen (wie bei Michel Serres), Partisan (wie bei Carl Schmitt) oder Rivale (wie bei René Girard)“ (S. 53 f.). Auch bezüglich der Fragilität menschlicher Gesellschaft urteilt Bolz – Nietzsche zitierend – wie Girard: „Kultur ist tatsächlich nur ein dünnes Apfelhäutchen über glühendem Chaos, und wenn es platzt, bewegt sich der Acheron und unser archaisches Erbe geht in Führung“ (S. 53). Das Chaos wird eingedämmt durch Opfer, wie Bolz ebenfalls im Anschluss an Girard festhält.
Einige große Filmregisseure und Kulturschaffende haben die Bedeutung der Opferproblematik in einer Zeit erahnt, in der manche Theologen und Theologinnen meinten, sich ganz von ihr verabschieden zu müssen. Mittels der mimetischen Theorie kann diese Problematik auch einem modernen Verständnis erschlossen werden. Sogar einige Schriftsteller haben das inspirierende Potential Girards für ihre eigenen Arbeiten erkannt. Daniel Pennac benützt es ausdrücklich für seine Kriminalromane, die in einem nördlichen Stadtteil von Paris spielen und in denen regelmäßig ein Pechvogel vom Dienst als Lückenbüßer und Sündenbock erscheint. Christa Wolf setzt Zitate von Girard als Motto über zwei Kapitel ihres Romans „Medea“, in dem sie den griechischen Mythos neu deutet und dabei die fremde Priesterin nicht mehr als Mörderin ihrer eigenen Kinder darstellt, sondern als Verfolgte, deren Kinder getötet werden und der vom erregten Pöbel die Mordtat angedichtet wird. Neben solchen und ähnlichen Rezeptionen der Nachahmungs-, Sündenbock- und Mythostheorie Girards, bei denen nicht selten Teile seines Werkes gegen seine Grundintention ins Feld geführt werden, erfolgt seit 1991 eine systematische Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten in der wissenschaftlichen Gesellschaft „Colloquium on Violence & Religion“. Ziel dieser internationalen Gesellschaft, die etwa dreihundert Mitglieder zählt, ist es, das mimetische Modell bezüglich Religion und Gewalt beim Entstehen und in der Entwicklung von Kulturen zu erforschen, zu kritisieren und weiterzuentwickeln (vgl. http://theol.uibk.ac.at/cover/). Im Rahmen des Colloquiums treffen sich Vertreter und Vertreterinnen der unterschiedlichsten humanwissenschaftlichen und theologischen Disziplinen mit christlichem, jüdischem oder agnostischem Hintergrund zu jährlichen Symposien, die abwechselnd in den USA und in einem europäischen Land organisiert werden. Bei diesen Treffen wird jedes Mal ein größeres Thema angeschnitten und mit Vertretern anderer Denkschulen konfrontiert. COV&R gibt auch die Zeitschrift „Contagion. Journal of Violence, Mimesis, and Culture“ heraus, die eine kontinuierliche Forschungsarbeit dokumentiert.
Im theologischen Bereich gibt es – trotz kritischer Stimmen – zahlreiche systematische Rezeptionen der mimetischen Theorie. Zu nennen sind vor allem Jim Williams, erster Sekretär von COV&R, Anthony Bartlett, Charles Bellinger, Bruce Chilton, Robert Hamerton-Kelly, Cheryl Kirk-Duggan, Michael Kirwan, Leo Lefebure, Martha Reineke oder Willard Swartley. Befreiungstheologen aus Südamerika haben Girard eingeladen (vgl.: „René Girard com teólogos da libertação“, 1991), und Praktiker, die sich in ihrer pastoralen Arbeit von ihm anregen lassen, treffen sich regelmäßig in den USA. Besonders zu erwähnen sind mehrere Veröffentlichungen von James Alison (Raising Abel, 1996; „The Joy of Being Wrong“, 1997; „Faith Beyond Resentment“, 2001), der sich bemüht, mittels Girard eine eschatologische Imagination freizulegen, die durch die Gottesherrschaft und die Auferweckung Jesu in die Freiheit Gottes einschwingt und nicht mehr von den offenen oder subtilen Gewaltstrukturen des Alltags, die unser Denken prägen, unterdrückt wird. Dabei hebt Alison in den biblischen Schriften eine „Subversion von innen heraus“ hervor, durch die überlieferte Themen schrittweise transformiert werden. Neben Theologen und Theologinnen greifen auch christlich beeinflusste Philosophen wie Paul Ricœur, Charles Taylor und Giuseppe Fornari auf Ideen von Girard zurück, und der Italiener Gianni Vattimo scheint durch ihn sogar zu einer wenn auch eigenwilligen Form des Christentums zurückgefunden zu haben („Glauben – Philosophieren“, 1997). Die systematischste Girard-Rezeption im theologischen Bereich fand jedoch in Innsbruck statt. Sie begann mit einer Deutung biblischer Texte aus der Perspektive Girards (R. Schwager, „Brauchen wir einen Sündenbock?“, 1978), die wie Alison innerbiblische Transformationen und Reinterpretationen problematischer Texte nachzeichnet. Dann wurde auf dem Hintergrund theologischer Altmeister wie von Balthasar, Rahner oder auch Pannenberg und gestützt auf historische Studien zur Erlösungslehre schrittweise eine dramatische Theologie entwickelt, die sich nach dem Modell von fünf Akten um eine systematische Bibelhermeneutik bemüht und den großen Themen im Geschick Jesu (Basileia-Botschaft, Gerichtsworte, Kreuz, Auferweckung, Geistsendung) auf gleiche Weise gerecht zu werden sucht (vgl. R. Schwager, „Jesus im Heilsdrama“, 1991, J. Niewiadomski u. a. [Hg.], „Dramatische Erlösungslehre“,1992).Im Kontext der Opferkritik Girards will die dramatischeTheologie das biblische Opferverständnis neu erarbeiten,wobei sie besonderes Gewicht darauf legt, dass beim Kreuzesgeschehen die Taten der drei zentralen Akteure (Jesus, seine Feinde, himmlischer Vater) genau unterschieden und zugleich in ihrer Interaktion gesehen werden. Das kollektive Tun der Feinde macht – durch eine Analogie mit dem Sündenbockmechanismus – verständlich, wie Jesus mit den Sünden anderer beladen wurde. Seine Reaktion auf das ihm angetane Böse erklärt, weshalb das Kreuz heilswirksam ist, und das Schweigen des himmlischen Vaters hält den Spannungsbogen zu den nachfolgenden Akten aufrecht. Die Grundstruktur dieser biblischen Hermeneutik hat sich inzwischen zwar von Girard gelöst, die dramatische Theologie benützt seine Theorie aber weiterhin, um die Relevanz biblischer Aussagen für die heutige Welt zu verdeutlichen.
Durch Diskussionen zwischen Innsbruck und Girard hat dieser selber seine frühere Ablehnung eines transformierten Opferbegriffs zur Deutung des Todes Jesu zurückgenommen und seine Gewalttheorie nicht mehr nahtlos in der Linie der Evolution, sondern im Kontext einer neu verstandenen Erbsündenlehre situiert (vgl. R. Girard, „Mimetische Theorie und Theologie“, in: Niewiadomski, „Vom Fluch und Segen der Sündenböcke“, S. 15–30). Eine Theologie, die sich um die Zeichen der Zeit bemüht, findet in Girard ein sehr hilfreiches Instrumentarium, um gegenwärtige Ereignisse aus einer tieferen und längerfristigen Sicht zu deuten und mit zentralen biblischen Themen in Verbindung zu bringen. Auf derartige Möglichkeiten deutet auch eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Religion und Gewalt“ hin (9.9.2003). Durch kritische und reflektierte Verbindungen zwischen Religion und Politik können einerseits kleine Beiträge zu möglichen Bewältigungen von schweren und tragischen Konflikten geleistet werden; anderseits erlauben spätere Rückblicke – aus der Distanz von zehn, 20 oder 50 Jahren – auf heutige theologische Analysen der Weltsituation eine empirische Prüfung, ob alle entscheidenden Faktoren richtig gewertet wurden. Die Theologie unterwirft sich so schrittweise auch der empirisch-geschichtlichen Prüfung ihrer Aussagen. Damit wird vielleicht Wirklichkeit, was der Kirchenkritiker Adolf Holl den Theologen und Theologinnen ins Stammbuch schreiben möchte: „Mit den Büchern Girards unterm Arm werden Theologen mit einem weltgeschichtlichen Minderheitskomplex künftighin etwas zuversichtlicher auftreten dürfen“ („Die Presse“, 23.11.2002).