Ein Gespräch mit Bischof Reinhard Marx über die politische Rolle der Kirche„Die besseren Alternativen aufzeigen“

Zumindest in bestimmten Kreisen der Gesellschaft wächst ein neues Bewusstsein für die geistigen und kulturellen Voraussetzungen einer weltanschaulich neutralen, demokratisch verfassten Gesellschaft. Dort werde man die Stimme der Kirche künftig zu schätzen wissen, betont der Trierer Bischof Reinhard Marx im Gespräch über die politischen und gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten der Kirche. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.

HK: Herr Bischof, Sie haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten vielfach und zum Teil recht pointiert in aktuellen politischen Fragestellungen zu Wort gemeldet, vom Umbau des Sozialstaates bis hin zum eindeutigen Nein zu einem Krieg gegen den Irak. Was erwarten Sie sich von solchen politischen Stellungnahmen und Einmischungen?

Marx: Ich frage gewöhnlich nicht, mit welcher Resonanz ich rechnen kann, sondern greife die Themen auf, die mir wichtig erscheinen. In Umbruchzeiten ist die Kirche gefordert, Perspektiven aus sozialethischer Sicht anzubieten, und so gehe ich auch davon aus, dass sie gehört wird. Es wird auch erwartet, dass sich die Kirche in die politische Debatte einbringt. Nicht wir drängen uns auf, sondern umgekehrt ist die Kirche ständig angefragt, sich zur Arbeitslosigkeit, zur Entwicklungspolitik oder eben aktuell zu Krieg und Frieden zu äußern. Entscheidend dabei bleibt: Hat die Kirche nur etwas Moralisch-Appellatives oder hat sie auch etwas Perspektivisch-Vernünftiges zu sagen, was in der politischen Debatte wirklich weiterhilft.

HK: Wo liegt die Grenze, jenseits derer Sie als Bischof solchen Anfragen nicht mehr nachkommen wollen?

Marx: Problematisch wird es immer dann, wenn es nur darum geht, durch die kirchliche Stellungnahme Bestätigung zu finden, wenn die Kirche nur zur Verstärkung der eigenen Position instrumentalisiert wird. Dieser Haltung sind wir seinerzeit bei der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland vielfach begegnet. Solchermaßen instrumentalisiert zu werden, bleibt eine Gefahr, der wir aber nicht ausweichen können. Ich bin da auch nicht ängstlich. Als Kirche versuchen wir ja ebenso, Argumente und Stimmen zu finden, die unsere Position stärken. Die Grenze liegt dort, wo die Kirche in ihrem Anliegen gar nicht mehr verstanden, sondern nur noch benutzt wird. Allerdings habe ich dies bislang noch nicht erlebt.

„Es gibt wenig gesellschaftliche Instanzen, die vom Ganzen her denken“

HK: Zu welchem der aktuell diskutierten Probleme muss ein katholischer Bischof denn beispielsweise wirklich nichts sagen?

Marx: Ich wurde jüngst gefragt, warum denn die Kirche nicht offiziell etwas zur Aufnahme der Türkei in die EU sagt. Aber, gibt es dazu eine katholische Position? Besteht hier wirklich sozialethischer Klärungsbedarf? Christen können zu dieser Frage ganz unterschiedlicher Meinung sein, und es gibt meines Erachtens kein ethisch zwingendes Argument dagegen oder dafür. Der Beitritt der Türkei zur EU ist überhaupt keine ethische Frage, sondern eine politische, auf die man unterschiedliche Antworten geben kann.

HK: Die Erwartung, die Kirche solle zu diesem und jenem politischen Problem Stellung beziehen, entsteht nicht im luftleeren Raum. Die Kirche in Deutschland ist doch traditionell in diesem Bereich recht auskunftsfreudig. Äußern sich die Bischöfe hierzulande zu oft auch dort, wo es eigentlich nicht sein müsste?

Marx: Ich will gar nicht bestreiten, dass es sehr viele kirchliche Stellungnahmen zu einem sehr großen Themenspektrum gibt, das reicht von der Landwirtschaft bis hin zum Frieden. Wir merken auch, dass nicht alles in gleicher Weise rezipiert wird. In der Regel ist es so: Wenn wir kommunikeehaft etwas verlautbaren, nur damit wir auch etwas gesagt haben, bleibt eine solche Stellungnahme meist ohne größere Resonanz. Wenn die Kirche aber wirklich etwas beitragen kann, was aus sozialethischer Sicht brisant ist, wenn sie eine wirklich neue Perspektive öffnet und dabei vor allem das ihr Eigene sagt, wird sie auch gehört. Sicherlich müssen wir uns immer prüfen, ob wir wirklich zu diesem oder jenem etwas sagen wollen und müssen. Da muss man sich eben auch als Bischof ein bisschen disziplinieren.

HK: Demnach ist die Resonanz auf die öffentliche Einmischung der Kirche vielleicht nicht mehr selbstverständlich, deswegen aber nicht unbedingt per se schlechter geworden...

Marx: Das liegt auch an einer gewissen Alternativlosigkeit. Wir haben nicht so viele Instanzen im Land, die – wie es die Kirchen selbst in ihrem Gemeinsamen Wort ausgedrückt haben – von unten und vom Ganzen her denken. Hier stoßen wir auf ein Defizit in der Politik, das auch in der klassischen Soziallehre, konkret in der Staatstheorie noch nicht ausreichend bedacht wurde: Was ist eigentlich ein Staat, was ist seine Aufgabe? Ist er ein Interessenverband, ist er Koordinator von Gruppeninteressen oder repräsentiert er eine sittliche Idee? Umgekehrt: Welches sind die Instanzen, die vom Ganzen her denken?

HK: Mit dem Wirtschafts- und Sozialwort und besonders in dem vorausgegangenen, breit angelegten Konsultationsprozess hat die Kirche auch einen Reflexionsprozess über die eigene öffentliche Rolle und ihr politisches Wirken in Gang gebracht. Allerdings scheint dieser Elan schon wieder verflogen. Sollte diese Auseinandersetzung nicht ausdrücklich forciert werden?

Marx: Ich hoffe sehr, dass beides weitergeht: Zum einen sollte diese Selbstvergewisserung der Kirche zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen in einem Konsultationsprozess zum Modell werden – ich habe seinerzeit von einer neuen ekklesiologischen Intersubjektivität gesprochen. Zum anderen bedarf es der weiteren Auseinandersetzung darüber, wie wir uns selbst im Konzert der zivilgesellschaftlichen Stimmen verstehen, welche besondere Stimme wir darin sein wollen. Dabei wird die Debatte über die Zivilgesellschaft außerhalb der Kirche ja auch erst in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren so intensiv geführt und dabei wurde wieder neu bewusst, dass Staat und Politik gesellschaftliche Voraussetzungen haben wie die öffentliche Meinung, Verbände, Organisationen und auch die Selbstartikulation von Betroffenen. Für die katholische Soziallehre ist dies eigentlich nichts Fremdes und Neues. Der Dualismus „Staat und Gesellschaft“ war immer ihr Thema; ebenso die Einsicht, dass der Staat als starker Staat wichtig ist, es aber auf der anderen Seite die Selbstorganisation der Gesellschaft braucht und die freien Organisationsformen zwischen dem Staat und dem Einzelnen unverzichtbar sind, zum Beispiel ganz entscheidend die Familie und auch die Religion.

HK: Beim Konsultationsprozess wurde aber auch moniert, dass die Kirche zwischen einem staatsfixierten und einem zivilgesellschaftlichen Politikverständnis hin und her schwankt, dass sie im einen Fall versucht, Einfluss vor allem über die politischen Eliten und Institutionen zu gewinnen, und im anderen das Bündnis mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen beschwört. War dem so?

Marx: Die Art und Weise, wie das Wirtschafts- und Sozialwort entstanden ist, war à jour. Die Kirche hat ein Forum geboten für zivilgesellschaftliche Artikulation, die in einer modernen Gesellschaft notwendig ist. An diesem Punkt muss die Auseinandersetzung sicher noch weitergehen. Die ganze Diskussion spielt ja beispielsweise auch für das kirchliche Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit und konkret in der Entschuldungsdiskussion eine große Rolle. Nehmen Sie das Beispiel Bolivien, wo die Kirche die treibende Kraft in der Entschuldungsdebatte ist und als Akteur der Zivilgesellschaft handelt, denn die zivilgesellschaftliche Kontrolle ist der Schlüssel in dem ganzen Entschuldungsprozess. Grundsätzlich geht mir in dieser Diskussion um die Zivilgesellschaft aber vieles zu sehr durcheinander. Vor allem störe ich mich an der schlichten Gegenüberstellung: die Zivilgesellschaft ist der Hoffnungsträger, der Staat dagegen marode und korrupt. Es gehört – auch das entspricht der klassischen katholischen Soziallehre – beides zusammen, starke Zivilgesellschaft und starker Staat. Die Zivilgesellschaft kann nicht den Staat ersetzen und die Kirche als zivilgesellschaftliche Gruppe kann auch nicht einfach ersetzen, was im Staat nicht funktioniert. Das gilt besonders in den Ländern der Dritten Welt.

„Das Christentum ist eben nicht zuerst eine moralische Veranstaltung“

HK: Wie versteht die Kirche ihre Rolle in der Zivilgesellschaft, was macht ihre besondere Stimme im Konzert der vielen unterschiedlichen Gruppen aus? Als eine Nichtregierungsorganisation unter vielen – wie das gerade auf internationaler Ebene immer wieder geschieht – will sie sich ja wohl nicht definieren lassen...

Marx: Natürlich nicht – das entspricht nicht unserem Selbstverständnis, zu dem eben wesentlich dazugehört, dass wir zwar von unten, aber aufs Ganze schauen. Wir wollen nicht Interessenvertreter sein, keine Gruppe, die nur für sich spricht, für ein bestimmtes Thema steht. Kirche versteht sich anders. Sie bringt in den öffentlichen Diskurs etwas ein, was nicht interessengeleitet in Bezug auf sich selbst, auf ihre eigene Institution ist.

HK: Wird dies von außen auch so wahrgenommen? Sind die Chancen, dieses Selbstverständnis öffentlich zu vertreten und dabei auch verstanden zu werden, schlechter geworden?

Marx: Das hängt davon ab, wie wir uns artikulieren. Wir können uns nicht hinstellen und dekretieren: Das dürft ihr nicht von uns behaupten. Die Kirche muss immer wieder von neuem zeigen, dass ihr Beitrag nicht einfach der einer x-beliebigen Nichtregierungsorganisation ist. Sie bleibt ein besonderer gesellschaftlicher Akteur, denn sie ist auch Zeugin der Wahrheit Gottes, schaut auf das Ganze des Menschen und der Gesellschaft. Aber sie muss zur Kenntnis nehmen, dass sie für viele ein zivilgesellschaftlicher Akteur unter vielen ist – im Grunde eine banale Erkenntnis voller Realitätssinn.

HK: Der Prozess hin zu dieser banalen Erkenntnis war für die Kirche doch stets auch von Verlusterfahrungen und Bedrohungsängsten begleitet...

Marx: Es wäre völlig rückwärtsgewandt, diesen Prozess der Moderne, die Entwicklung zur Erweiterung des Freiheitsraumes des Einzelnen als Irrweg zu bezeichnen. Die Moderne bleibt ein gewaltiger geistiger Fortschritt. Dies zu bestreiten, entspricht nicht unserer Vorstellung vom Menschen. Aber es bleibt ein gewagtes Unternehmen, dem Menschen so viel Freiheit, die Verbindung von Freiheit und Verantwortung, die Unterscheidung von Gut und Böse zuzutrauen. Der Prozess der Moderne bleibt mit Risiken verbunden, so wie auch viele Fragen über den gemeinwohlorientierten Staat noch offen sind: Was bedeutet es, wenn sich der Staat aus dem Bereich privater Moral ganz zurückzieht, nur noch Fragen der Gerechtigkeit klärt? Der moderne Staat hat dem einzelnen seinen Freiheitsraum immer weiter geöffnet. Auf der anderen Seite aber lebt er von positiven Freiheitsentscheidungen hin auf Bindung, Verantwortung, Treue, Vertrauen und Solidarität.

HK: Diese Fragen bilden den Subtext der aktuellen Auseinandersetzung über die Zukunft unseres Sozialstaates. Mit ihrem Wirtschafts- und Sozialwort wollten die Kirchen diese Grundsatzdebatte unter dem Anspruch, Politik möglich zu machen, initiieren und ihr ein Forum bieten. So recht wollte und will diese Debatte aber nicht in Gang kommen. Stattdessen liegt eine lähmend schlechte Stimmung über dem Land, und politische Gestaltung scheint geradezu unmöglich geworden zu sein. Wie lässt sich gegensteuern?

Marx: Die Politik bleibt noch im Vorfeld stehen, weil es vordergründig nur darum geht, wer was verliert, und wer wo verzichten muss. Der Leidensdruck ist aber in den letzten Jahren sicher gestiegen. Die Situation hat sich verschärft. Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem zuerst geklärt werden muss, was das Notwendige ist, das der Staat organisieren und langfristig garantieren muss, und was der Einzelne tun kann und muss. Jetzt geht es um langfristige politische Rahmenprogramme. Mit alle vier Wochen wechselnden „Reformen“ kommen wir nicht mehr weiter. Die sozialen Sicherungssysteme sind so zu organisieren, dass der Eigenverantwortung ein viel höherer Stellenwert eingeräumt wird. Zugleich ist aber dafür zu sorgen, dass die Risiken in Solidarität getragen werden. Die Marktwirtschaft schafft langfristig für alle Vorteile, das kann niemand bestreiten. Aber sie kann für den Einzelnen kurzfristig eben auch Katastrophen, Arbeitslosigkeit, Konkurse bringen. Das Risiko der Arbeitslosigkeit soll der Arbeitnehmer aber ebenso wenig allein tragen wie der Sozialversicherte das Risiko einer Krebserkrankung. Die Kirche kann zu dieser Auseinandersetzung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie deutlich macht, dass es eben bestimmte Voraussetzungen gibt für das Funktionieren des Sozialstaats.

„Das öffentliche Zeugnis nicht zivilreligiös anpassen“

HK: In den von außen an die Kirche herangetragenen Erwartungen steckt immer auch ein bestimmtes Image von Kirche: Dieses reicht von der professionellen Wertevermittlung über die Institution der „Gutmenschen“ bis hin zum Lieferanten für den „Kitt“, der die Gesellschaft zusammenhalten soll. Wie gelassen darf die Kirche mit diesen Rollenerwartungen umgehen?

Marx: Sorgen bereitet mir, wenn die Kirche als Ganze auf solche Images reduziert wird, man die Kirche ausschließlich als Organisation wahrnimmt, die für alle guten Dinge eintritt, selbstredend karitativ, sozial und auch für Frieden ist, wenn sie auf die Rolle des Wertevermittlers oder moralischen Anwalts beschränkt wird. Das Christentum ist eben nicht zuerst eine moralische Veranstaltung, sondern der Raum, in dem wir Gott finden. Gott zu suchen ist das Wichtigste, was der Mensch tun kann. Als Bischof macht es mir am meisten zu schaffen, wenn ich merke, dass man mich auf eine bestimmte Rolle festlegt, der Quellgrund aber, aus dem wir als Kirche politisch und gesellschaftlich agieren, ausgeklammert wird. Jesus hat die Jüngergemeinschaft nicht zusammengerufen, damit sie Kitt für die Gesellschaft ist. Solche Wirkungen und Kräfte können Folge von Religion sein. Menschen, die wirklich Christen sind und sich gläubig dem Evangelium öffnen, sind – das ist meine tiefe Überzeugung – wirklich friedlicher und gehen achtsamer miteinander um; im Tiefsten führt das Evangelium den Menschen zum Frieden. Aber wir dürfen nicht die Folge mit dem Kern unseres Christseins verwechseln lassen.

HK: Haben in dieser diffusen Erwartungshaltung gegenüber den Kirchen zivilreligiöse Vorstellungen insgesamt zugenommen?

Marx: Zumindest scheinen mir diese sehr verbreitet, weil in weiten Teilen der Bevölkerung unseres Landes die fehlende Alternative gespürt wird. Der Staat konnte am 11. September die Fahnen auf Halbmast setzen lassen. Ansonsten aber war er darauf angewiesen, dass – wie etwa auch nach dem Amoklauf in dem Erfurter Gymnasium – zur Bewältigung des Erlebten ein ökumenischer Gottesdienst stattfindet. Es gibt keine andere Gruppe oder Institution als die Kirchen, die in solchen existenziellen Situationen einen öffentlichen Raum anbieten, in dem sich Betroffenheit, Angst und Trauer ausdrücken können. Der Staat stößt hier an eine unüberwindbare Grenze, und die Gesellschaft spürt ihre eigene Leere.

HK: Für die Kirchen bleiben solche Anfragen eine schwierige Gratwanderung. Sollten sie sich womöglich in solchen Situationen verweigern?

Marx: Es wäre geradezu töricht, diesem Verlangen nicht nachzukommen! Für die Kirchen liegt hierin die Chance, öffentlich den Glauben zu bekennen, und wir sollen uns durchaus auch freuen, wenn die Leute wieder in die Kirche kommen. Wir dürfen dieses öffentliche Zeugnis nur eben nicht zivilreligiös angepasst, quasi entschlackt geben und im Gottesdienst beispielsweise auf die Rede von Gott verzichten und stattdessen nur Betroffenheit artikulieren. Dann ließen wir uns wirklich missbrauchen. Wenn wir aber die gebotene Gelegenheit nutzen, um auch vom Evangelium zu reden, vom Glauben an den gekreuzigten Erlöser und von unserer Hoffnung angesichts des Todes, ist dies ein öffentliches Zeugnis.

HK: Wie kann die Kirche ihren ureigenen Auftrag und ihr Selbstverständnis gegenüber den zivilreligiösen Ansinnen behaupten?

Marx: Nur, indem sie selbst wieder lebendiger wird. Es nutzt doch nichts, wenn wir öffentlich angefragt, unsere Gottesdienste aber immer leerer werden, immer weniger Menschen kontinuierlich vom Glauben ergriffen sind und ihn stattdessen nur in bestimmten Krisensituationen abrufen. Natürlich kommt die Kirche, wenn sie gerufen wird, weil sonst niemand da ist. Aber sie braucht einen Kern von Christen und Christinnen, die wirklich mit Überzeugung und Freude glauben. Da geht es nicht um große Zahlen. Die Christen haben von frühester Zeit an, als die Kirche noch sehr klein war immer auch Verantwortung für das Ganze übernommen. Ein Standpunkt, was gehen uns der Staat, die Nichtchristen oder Nichtgläubigen an, ist nicht die Sache der Kirche. Umgekehrt darf sie sich nie von einem Gebrauchtwerden durch die Gesellschaft her definieren und organisieren. Sonst gerät sie auf eine abschüssige Bahn.

„Es geht um so etwas wie ein kritisches Naturrecht“

HK: Sollte sich die Kirche dann aber nicht lieber in einer Art öffentlicher Askese regenerieren, sich, wie das so schön heißt, angesichts der eigenen Probleme erst einmal aufs Kerngeschäft konzentrieren?

Marx: Natürlich müssen wir uns insgesamt fragen, ob wir

alles aufrechterhalten müssen, was wir über Jahrzehnte für sinnvoll erachtet haben. An unseren Zahlen – von den Priesterweihen über den Gottesdienstbesuch bis hin zu Trauungen und Taufen – gibt es sicherlich nichts schönzureden. Es wäre verheerend, diesen Schrumpfprozess als Heilung zu betrachten. Die Kirche findet ihre Kraft nicht im Schrumpfen, sondern indem sie ihre Aufgabe, ihre Sendung erfüllt. Diese Sendung beschränkt sich ja gerade nicht darauf, dass wir Christen unser eigenes ewiges Heil finden. Es ist das Kerngeschäft der Kirche, das Evangelium in die Welt zu bringen. Eine Kirche, die erst einmal an sich selbst denkt, die sich vom Stress der letzten Jahrzehnte erholen möchte, wird zur Kuschelecke und verfehlt ihren Weg. Wir müssen in alle Bereiche des menschlichen Lebens hineingehen, aber mit der Stimme des Evangeliums. Dies sollte in einer menschenfreundlichen Weise geschehen, indem wir dem Zeitgenossen vom Glauben her die besseren Alternativen aufzeigen, ohne ihm unsere Position aufzudrängen.

HK: Welche Hilfestellung erwarten Sie im öffentlichen, gesellschaftlich-politischen Engagement der Kirche von der Theologie, welche Botschaft hat der Bischof an seine ehemalige Zunft der christlichen Ethiker?

Marx: Viel stärker noch als bisher müssen wir uns künftig der Frage widmen, ob es in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft Grundwerte, Grundüberzeugungen geben kann, die für alle, Christen oder nicht, einsichtig sind. Wie lassen sich der Staat oder die Menschenrechte als sittliche Ideen begründen, wenn wir als Christen und Nichtchristen nicht über eine Basis verfügen, die nicht abhängig ist von Mehrheitsentscheidungen? Wie lässt sich ein Punkt finden, von dem aus die Idee der Gerechtigkeit unhintergehbar begründet werden kann? Es geht also um so etwas wie ein kritisches Naturrecht.

HK: Welchen Beitrag kann die katholische oder christliche Soziallehre dazu leisten?

Marx: Die traditionelle katholische Soziallehre hat stets daran festgehalten, dass normative Sätze wie etwa „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ rational, ohne den Glauben begründbar sein müssen. Ob sie wirksam werden, ob aus der Ethik eine Moral des Alltags wird, das ist noch einmal etwas anderes. Aber zunächst muss es möglich sein, die großen normativen Sätze so zu formulieren, dass auch ein Nichtchrist sie einsehen kann. Zu dieser Auseinandersetzung gibt es keine Alternative, wenn wir nicht in der Aporie enden, nicht letztlich doch die normative Kraft des Faktischen akzeptieren und das sich Durchsetzbare als das Wahre hinnehmen wollen. Die Kirche hat die Alternative dazu stets behauptet. Ich habe den Eindruck, dass zumindest in bestimmten Kreisen ein neues Bewusstsein für die vielen geistigen und kulturellen Voraussetzungen einer weltanschaulich neutralen, demokratisch verfassten Gesellschaft gewachsen ist und ein neues Gespür dafür, welch ein Wagnis Freiheit darstellt. Zumindest dort wird man die Stimme der Kirche künftig zu schätzen wissen.

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