Den Kern des Offenen Briefes von Patriarch Alexi vom 1. April 2003 bildet sein Vorschlag, die Bistümer russischer Tradition in Westeuropa, welcher Jurisdiktion auch immer, sollten sich zu einer „Metropolie Westeuropa“ zusammenschließen, die den Status einer Autonomen Kirche innerhalb des Moskauer Patriarchats haben soll. Dieser Metropolie soll der weltweit hochgeschätzte Bischof des Moskauer Patriarchats in Großbritannien, der greise und kranke Metropolit Antonij (Bloom, geb. 1914) von Surosh, vorstehen. „Autonome“ Kirchen sind von ihrer Mutterkirche weitgehend unabhängig, haben ihren eigenen Synod, eigene Statuten und weihen ihre Bischöfe selbst; lediglich die Wahl des Oberhauptes einer Autonomen Kirche muss von der Mutterkirche formell bestätigt werden. Für die Auslandsbistümer des Moskauer Patriarchats ist eine solche Regelung überaus verlockend, denn Bischöfe (und meist auch Priester) werden ihnen im Allgemeinen vom Moskauer Hl. Synod zugewiesen, ohne Rücksicht auf lokale oder regionale Bedürfnisse. Auf den ersten Blick löst die Initiative des Patriarchen freudiges Erstaunen aus. Auf den zweiten Blick drängt sich aber die Frage auf: Wenn diese Wiedervereinigung plötzlich so einfach sein soll – warum hat die russische Diaspora dann nicht schon längst wieder zusammengefunden? In nunmehr 75 Jahren der Spaltung der russischen Diaspora sind aber so tiefe ideologische und mentale Gegensätze unter den einzelnen Jurisdiktionen gewachsen, die auch ein freundlicher Brief des Patriarchen nicht mit wenigen Zeilen aus der Welt schaffen kann.
Russisch-orthodoxe Gemeinden gibt es heute in aller Welt. Bis heute zeugen Kirchen mit goldenen Zwiebeltürmen in Badeorten und touristischen Städten (Baden-Baden, Wiesbaden, Bad Homburg, Bad Kissingen, Biarritz, Nizza, Genf usw.) und in Hauptstädten (Wien, Kopenhagen, Dresden...) von mehr als hundertjähriger russisch-orthodoxer Präsenz in Mittel- und Westeuropa. Der Oktoberputsch von 1917 hatte eine Emigrationswelle zur Folge, die mehrere Millionen Russen ins Ausland trieb, die an diesen alten und an neuen Kirchen Diasporagemeinden organisierten. Eine Betreuung der Flüchtlinge durch die Heimatkirche war unter sowjetischen Verhältnissen natürlich nicht möglich, und von den Emigranten bald auch nicht mehr erwünscht: Die Russische Orthodoxe Kirche in der Sowjetunion wurde von den Bolschewiki genötigt, Einfluss auf ihre Gemeinden im Ausland zu nehmen und jene kirchlich zu maßregeln, die dort das Sowjetregime kritisierten. Im serbischen Karlowitz gründeten Bischöfe, die in den Revolutionswirren geflüchtet waren, 1921 die „Russisch-Orthodoxe Kirche außer Landes“ („Auslandskirche“). In politischer Hinsicht verfolgte diese ein antisowjetisches und nicht zuletzt auch monarchistisches Programm. In theologischer Hinsicht verstärkte das traditionelle orthodoxe Umfeld in Serbien konservative, etwa scharf antiökumenische, Positionen in der russischen Exilkirche.
In diesem Kontext kam es zu Konflikten mit jenen russischen Bischöfen, die ihre Gemeinden in Mittel- und Westeuropa sowie in Amerika betreuten: Diese lebten unter Katholiken und evangelischen Kirchen; für sie waren ökumenische Beziehungen alltäglich und überlebensnotwendig. So konnte beispielsweise das russisch-orthodoxe Institut St. Serge in Paris, 1925 gegründet, von Anfang an nur mit Fremdmitteln (beispielsweise der Anglikanischen Kirche und des YMCA) finanziert werden. Dem Metropoliten Jewlogij (Georgienski), der den Gemeinden der Auslandskirche in Mittel- und Westeuropa vorstand, warf der Karlowitzer Hl. Synod „liberale“ Positionen vor. Die Lehrtätigkeit des umstrittenen Erzpriesters Sergej Bulgakow am Pariser Institut St. Serge galt als ein Beweis unter vielen. 1926 trennte sich Metropolit Jewlogij von der Auslandskirche; die russische Diaspora in Nordamerika schloss sich an, ging aber eigene Wege. Heute bildet sie, die in ihren Anfängen bereits auf das 18. Jahrhundert zurückgeht, die selbstständige – „autokephale“ – „Orthodox Church in America“, wird allerdings nicht von allen orthodoxen Schwesterkirchen anerkannt. 1927 hat sich Jewlogij mit seinem Metropolitankreis, der ganz Mittel- und Westeuropa umfasste, dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Als die Sowjets aber versuchten, ihn mit Hilfe der Moskauer Kirchenleitung einzuschüchtern, begab er sich 1931 mit seiner Metropolie unter den Schutz des Ökumenischen Patriarchats Konstantinopel. In der Stalin-Euphorie nach dem Zweiten Weltkrieg unterstelle er sich 1946 nochmals dem Moskauer Patriarchat, doch schon wenige Monate später hat der Diözesanrat (nach dem Tode Jewlogijs) diesen Schritt rückgängig gemacht: Zu massiv waren die Versuche Moskaus, das Pariser Erzbistum der sowjetischen Kontrolle sowie den autoritären Strukturen des Patriarchats zu unterwerfen. Mit einer Unterbrechung (1965–1971) ist das „Russisch-Orthodoxe Erzbistum von Westeuropa“ unter dem Dach des Ökumenischen Patriarchats Konstantinopel geblieben. In Deutschland wurden die Gemeinden der Pariser Jurisdiktion mit indirekter Beihilfe der Nationalsozialisten, die sich ihnen nahestehender Gemeindeglieder bedienten, Ende der dreißiger Jahre in die Auslandskirche überführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Moskauer Patriarchat, dem vor 1945 nur fünf Gemeinden im Westen unterstanden, überall in Mittel- und Westeuropa sowie in Nordamerika Fuß gefasst. Die Gemeinden im sowjetisch beherrschten Teil Europas (beispielsweise in Wien und in Berlin, Leipzig, Weimar, Dresden) wurden natürlich von den Sowjets automatisch dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Andere Gemeinden traten im Zuge der Stalin-Euphorie zum Moskauer Patriarchat über. Die administrativen Zentren bildeten die Moskauer „Exarchate“ mit Sitz in Paris und (Ost-)Berlin. Die Patriarchatsgemeinden im Westen galten als Zentren der sowjetischen „Aufklärung“; man hielt Abstand zu ihnen. Metropolit Kirill (Gundjajew), der heutige Außenamtschef des Moskauer Patriarchats, bestätigte dies in einem Vortrag vor russischen Diplomaten am 27. April 2001: Die Gemeinden des Patriarchats im Ausland hätten dem sowjetischen Außenministerium stets wichtige Informationen geliefert.
In Sprache und Kultur der Gastländer unterschiedlich integriert
So präsentiert sich die russisch-orthodoxe Diaspora Mittel- und Westeuropas heute in drei Jurisdiktionen: dem Moskauer Patriarchat, dem Erzbistum Paris/Patriarchat Konstantinopel und der Auslandskirche, wobei der letzteren wohl die meisten Gemeinden unterstehen. Zwischen Moskauer Patriarchat und Auslandskirche gibt es nach wie vor starke Spannungen – trotz Dialogversuchen der beiden Erzbischöfe in Deutschland (Feofan [Galinskij]/Patriarchat Moskau und Mark [Arndt]/Auslandskirche) und trotz Annäherung in manchen Positionen, etwa durch die Heiligsprechung der 1918 ermordeten Zarenfamilie durch das Patriarchat. So erklärt die Auslandskirche, im Moskauer Patriarchat herrsche bis heute der sowjetische Geist, und das Moskauer Patriarchat sieht in der Auslandskirche nach wie vor Reaktionäre und Kalte Krieger. Nicht gerade Dialog fördernd ist es auch, wenn das Patriarchat neue Gemeinden gründet, wo es bereits Gemeinden der Auslandskirche gibt, obwohl die Erzbischöfe sich darauf verständigt hatten, keine Konkurrenzkirchen zu errichten.
Die Beziehungen der Auslandskirche zum russisch-orthodoxen Erzbistum in Paris sind kühl. Für die Auslandskirche sind die „Pariser“ nach wie vor „Liberale“ und Ökumeniker, die die Orthodoxie verraten, wohingegen man im Pariser Erzbistum weiterhin die theologisch ultrakonservativen Positionen der Auslandskirche zurückweist. Zwischen Moskau und Paris bestanden bisher offizielle, aber doch recht kühle Beziehungen, die nicht zuletzt die Spannungen zwischen Konstantinopel und Moskau reflektierten. In der alten Pariser Emigration sind die Erfahrungen von 1927/31 und 1946, als Moskau versuchte, Paris an die „kurze Leine“ zu nehmen, noch in Erinnerung. Man zog es im Pariser Erzbistum vor, unter dem Schirm des Patriarchats Konstantinopel, das ihm sogar den Status eines Exarchats zugebilligt hatte, in völliger Freiheit zu leben, als von Moskau gegängelt zu werden.
Für die Diasporagemeinden russischer Tradition, welcher Jurisdiktion auch immer ist ein unterschiedlicher Grad der Integration in Sprache und Kultur der Gastländer kennzeichnend. Während die Auslandskirche jegliche Form der Assimilierung, beispielsweise der sprachlichen, entschieden zurückweist und sich als russische Insel in der westlichen Welt versteht, war im Pariser Erzbistum bisher die gegenteilige Tendenz dominierend: Für die Romanisierung eines Großteils der Gemeinden war der Übergang zur französischen Liturgiesprache charakteristisch, der dadurch gefördert wurde, dass immer wieder Franzosen konvertierten und Glieder orthodoxer Gemeinden russischer Tradition wurden. Beispielsweise gibt es am orthodoxen Institut St. Serge in Paris heute kaum noch Dozenten mit russischen Wurzeln. Unterrichtssprache ist durchgängig das Französische und das Erlernen des Kirchenslawischen nur noch fakultativ. Allerdings müssen die Studierenden Russisch lesen können. Ähnlich ist die Situation in den Patriarchatsgemeinden in Großbritannien (Bistum „Surosh“). Hier kommt hinzu, dass diesem Bistum seit seiner Gründung 1962 eine der markantesten Persönlichkeiten der heutigen Orthodoxie vorsteht: Metropolit Antonij. Seine Predigten und theologischen Betrachtungen werden in der ganzen Welt geschätzt (vgl. Metropolit Anthony: Lebendiges Beten, Verlag Herder, Freiburg 1976). Obwohl Moskau unterstehend, hat er Distanz zum Moskauer Patriarchat gehalten, keine Geld- und sonstigen Mittel und keine Geistlichen aus der Sowjetunion akzeptiert, um nicht in wirtschaftliche Abhängigkeit Moskaus und der Sowjetunion zu geraten. Er hat, um ideologische Infiltration zu vermeiden, Hierarchen und Geistliche aus der Sowjetunion selten nach London eingeladen. Trotzdem – oder deswegen – war er 1990 bei der Moskauer Patriarchenwahl als Kandidat im Gespräch. Da er aber einen britischen und keinen sowjetischen Pass hatte, kam er nicht in die engere Wahl.
Die Anglisierung der Gemeinden in Großbritannien und in Irland ist womöglich noch weiter fortgeschritten als die Romanisierung im russischen Erzbistum Paris. Vermutlich werden in den meisten Gemeinden die ursprünglich russischen Gesänge und die gesprochenen und vorgelesenen Texte in Englisch vorgetragen, auch ist die Zahl der Konvertiten erheblich. Nicht zuletzt konvertierte eine Anzahl anglikanischer Geistlicher zur Orthodoxie, nachdem ihre Kirche der Frau das Priesteramt zugestanden hatte. Für das Bistum „Surosh“ ist charakteristisch, dass die Gemeinden sich sowohl ihre Priester als auch ihre Bischöfe selbst wählen, das Gemeindeleben „synodal“ strukturiert ist und absolut demokratisch funktioniert. In den meisten Gemeinden des Moskauer Patriarchats außerhalb Englands dürfte die Situation der in der Auslandskirche entsprechen: Man versteht sich nicht als orthodoxe Gemeinden mit vagen russischen Wurzeln, sondern als definitiv russische Gemeinden, die auch von Konvertiten erwarten, dass sie in das russischer Sprache gestaltete gottesdienstliche Lebens hineinwachsen.
Der Zusammenbruch des Kommunismus hat in der früheren Sowjetunion eine Emigrationswelle auslöst, die uns in Deutschland vor allem in den 2,5 Millionen Russlanddeutschen (nebst russischen Gatten) begegnen, die in den vergangenen 15 Jahren eingewandert sind. Auf Russen stößt man aber auch sonst in der Welt. Viele der „Neu-Russen“ benutzen orthodoxe Gemeinden russischen Ursprungs als Ausgangspunkt für ihre Aktivitäten. Die Zahl der Glieder solcher Gemeinden ist seit 1990 in Europa und Amerika mächtig angewachsen – aber auch die Probleme. Bekanntlich klagen auch traditionelle jüdische Gemeinden in Deutschland über die Überfremdung und Russifizierung (sogar „Sowjetisierung“) durch die jüngste Massenzuwanderung. Die alten orthodoxen Diasporagemeinden russischer Tradition werden plötzlich aus ihrem gemächlichen Gemeindeleben gerissen. Die „Neu-Russen“, denen in den allermeisten Fällen echte Glaubenstraditionen fehlen, spielen oftmals sowjetische Machtkämpfe im kirchlichen Rahmen weiter, wobei es meist darum geht, die alten, kultivierten und in die Mentalität der Gastländer hineingewachsenen Emigrantenfamilien zu verdrängen, die acht Jahrzehnte lang Kirche und Gemeinde getragen haben. Mehr oder weniger nationale oder gar nationalistische Parolen übertönen oft die Worte des Priesters. Und die Russische Botschaft hilft durch Busladungen herbeigekarrter Neu-Russen zuweilen, Wahlvorgänge zu manipulieren. Die Wiener Gemeinde des Moskauer Patriarchats ist ein trauriges Musterbeispiel für solche Vorgänge, dort hat sich ein Teil der alten Gemeindeelite in die bulgarisch-orthodoxe Gemeinde zurückgezogen. Handelt es sich innerhalb von Patriarchatsgemeinden darum, aus den alten, kultivierten und inkulturierten Gemeinden Bollwerke des russischen Nationalismus zu machen, so sind diese Vorgänge in den nicht Moskau unterstehenden Gemeinden (der Auslandskirche und des Erzbistums Paris) darauf angelegt, letztlich die Rückführung dieser Gemeinden in das Moskauer Patriarchat vorzubereiten. Seit etwa einem Jahrzehnt ist zu beobachten, wie „Neu-Russen“ Unruhe in viele Gemeinden des Pariser Erzbistums und der Auslandskirche tragen, indem sie die Unterstellung unter das Moskauer Patriarchat propagieren (in Genf, Kopenhagen, in Paris und anderswo).
Von hohem Interesse sind für das Moskauer Patriarchat offenkundig kirchliche Gebäude solcher Gemeinden, die Moskau (noch) nicht unterstehen. Es wird berichtet, dass Metropolit Kirill sich bei Besuchen sowohl in London als auch in Paris in erster Linie für die Kirchengebäude interessiert habe. So bemühte sich der im Sommer 2002 in London weilende Vikarbischof Ilarion (Alfejew) unverhohlen darum, den Immobilienbesitz der britischen Gemeinden auf das Moskauer Patriarchat übertragen zu lassen. Daraufhin traf mindestens eine Gemeinde Vorkehrungen dagegen. Und sogleich ließ sich Patriarch Alexi vernehmen, der Klage darüber führte, dass die Statuten der Gemeinden in Großbritannien nicht mit denen des Patriarchats in Einklang stünden: In den Moskauer Statuten heiße es ausdrücklich, dass von Gemeinden genutzte Immobilien, beispielsweise Kirchen, a priori Eigentum des Moskauer Patriarchats seien.
Moskauer Ansprüche handstreichartig durchgesetzt
Viele der einst russischen Kirchen wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert meist in illustrer städtischer Lage errichtet und besitzen heute in vielen Fällen einen unermesslichen Wert. Ob nun auf Druck der russischen Regierung oder aus Eigeninteresse jedenfalls bemüht sich das Patriarchat weltweit darum, solche Immobilien im Ausland an Russland zu binden. Tatsächlich sind die meisten dieser Kirchen im Ausland aus der russischen Staatskasse oder von der Zarenfamilie finanziert worden. Man vergisst in Moskau gern, dass die russischen Emigranten und ihre Nachkommen nunmehr 80 Jahre lang diese Kirchen gepflegt und erhalten haben, was bei solchen Gebäuden Unsummen kostet. Mit diesen großen Opfern haben sich auch die Emigranten ein Anrecht auf diese Kirchen erworben. Und es wäre fair, wenn das Moskauer Patriarchat mit den betreffenden Gemeinden in Verhandlungen träte, statt mit Hilfe von Prozessen, die offenbar von den russischen Botschaften finanziert werden, oder aber im Zuge handstreichartiger Aktionen die Moskauer Ansprüche durchzusetzen.
Am erschreckendsten in dieser Hinsicht waren zwei Vorfälle im Heiligen Land. Dort hat das Moskauer Patriarchat zwei Klosteranlagen der Auslandskirche handstreichartig besetzt: Jeweils, kurz nachdem Patriarch Alexi in Palästina und Israel heilige Stätten besucht hatte (Pfingsten 1997 und 1. bis 6. Januar 2000), besetzten bewaffnete Milizen Yassir Arafats in Begleitung von russischen Konsularbeamten aus Gaza und Vertretern des Moskauer Patriarchats Klöster der Auslandskirche bei Hebron (5. Juli 1997) und bei Jericho (15. Januar 2000). Die Mönche wurden vertrieben (im Kloster bei Jericho kam es zu einem „Kompromiss“: ein bis zwei Mönche oder Nonnen der Auslandskirche dürfen in einer Ecke des Anwesens in einem Container Stallwache halten), während die Moskauer sich in den Gebäuden eingerichtet haben. Das Interesse des Patriarchats an diesen Immobilien im Ausland ist so offenkundig, dass alle Rechtfertigungsversuche von dieser Seite unglaubwürdig klingen.
Der Offene Brief und seine Vorgeschichte
Metropolit Kirill hatte in dem erwähnten Vortrag vom 21. April 2001 die engen Beziehungen der Kirche zum Staat, namentlich zum Außenministerium, hervorgehoben und ausdrücklich das staatliche und kirchliche Interesse an „unserem ausländischen Besitz“ bekundet: Dieser sei wegen des Desinteresses der Sowjets der Jurisdiktion der Russischen Kirche entglitten. „Kirche und Außenministerium arbeiten zusammen und bemühen sich gemeinsam, die Folgen [des sowjetischen Desinteresses] zu beseitigen. Es ist unser Ziel, die Architekturdenkmäler und Kunstschätze, die mit Geldern unseres Volkes(...) geschaffen worden sind, für unser Vaterland zurückzugewinnen. Mit anderen Worten: Die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit ist eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zusammenarbeit mit dem Außenministerium. Ich betone: Wir kämpfen um den russischen Besitz.“ Und mit Blick auf die postsowjetische Zeit generell meinte Kirill: „Gerade in dieser schwierigen Zeit [nach 1991] entwickelte sich ein ständiger Dialog zwischen der Leitung des Kirchlichen Außenamtes und der Leitung des russischen Außenministeriums. Wir können mit dem Außenminister, mit seinen Stellvertretern sowie mit den Leitern der einzelnen Ressorts in direkten Kontakt treten. Mittlerweile treffen wir uns zum täglichen Arbeitsgespräch.“
Zur Bewertung des Offenen Briefes von Patriarch Alexi vom 1. April 2002 muss man einige Ereignisse im Vorfeld bedenken. So hatte im Sommer 2002 Bischof Ilarion auf Weisung des Moskauer Hl. Synods in London geweilt, um dem greisen Metropoliten Antonij als Vikarbischof zur Seite zu stehen. Es kam aber bald zu erheblichen Spannungen und schließlich zum Bruch, als Metropolit Antonij, seine Vikarbischöfe Basil (Osborne) und Anatolij (Kusnezow) sowie der Klerus den Eindruck gewannen, der junge Bischof aus Moskau wolle die Gemeinden mit Unterstützung der „Neuen Russen“ etwa mit Blick auf die englische Liturgiesprache wieder auf russisch-nationalen Kurs bringen, straffe hierarchische Strukturen einführen und die Eigentumsrechte an den Immobilien der Kirchgemeinden auf das Moskauer Patriarchat übertragen. Die massiven Proteste namentlich von Metropolit Antonij, der auch befürchtete, Moskau wolle dem britischen Bistum Ilarion als Antonijs Nachfolger aufzwingen, veranlassten den Moskauer Hl. Synod, Ilarion nach vier Monaten zurückzurufen. Die Ereignisse hatten Metropolit Antonij aber so mitgenommen, dass er später seinen Rücktritt bekannt gab. Es bestand Einvernehmen im Bistum darüber, dass Vikarbischof Basil, ein Engländer, von der Bistumsversammlung zu seinem Nachfolger gewählt werde. Moskau hat die Wahl aber noch nicht bestätigt. Das zweite wichtige Ereignis im Vorfeld des Offenen Briefes war der Tod von Erzbischof Sergij (Konovaloff, geb. 1941) am 22. Januar 2003. Die bevorstehende Wahl eines Nachfolgers mobilisierte jene Kräfte (beispielsweise den „Cercle Métropolite Euloge“), die die Zukunft des Erzbistums lieber unter dem Dach Moskaus denn unter dem Konstantinopels sehen. Das Erzbistum befand sich in höchster Aufregung. Schließlich erwies sich auch die Auslandskirche, die sich bisher als resistent gegenüber Moskauer Lockrufen erwiesen hatte, nun verunsichert. Eine scharf antimoskowitische Front hatte sich Ende 2001 verselbständigt und hinterließ die Gesamtkirche irritiert. In Genf, dem derzeitigen Sitz des Bischofs von Westeuropa, hatte es in den vergangenen Jahren schon Auseinandersetzungen zwischen Pro- und Contra-Moskau-Positionen gegeben, die nur mühsam beigelegt worden waren. Aber der Spaltpilz frisst weiter, zumal Bischof Amwrosij (Cantacouzène) in Genf aus Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit an Rücktritt denkt, so dass dann auch hier neue Personalentscheidungen anstehen.
In dieser Situation veröffentlichte Patriarch Alexi seinen Offenen Brief, der kirchenrechtlich keinerlei Bedeutung hat. Aber der Zeitpunkt war ausgezeichnet gewählt, mitten in den Vorbereitungen zur Wahl des Erzbischofs in Paris (1. Mai). Hier löste der Brief offene Kontroversen zwischen den zwei Lagern aus. Auch wenn die Bischofswahl den Status quo (Zugehörigkeit zu Konstantinopel) zu bestätigen scheint, so heißt das keineswegs, dass sich die Moskau-Fraktion nun geschlagen gibt. In London wartet man auf die Bestätigung von Bischof Basil als neues Oberhaupt des Bistums, auch hier sind die „Neuen Russen“ nach wie vor daran, die Unruhe in der Eparchie zu schüren. Außerdem scheint Metropolit Antonij geschmeichelt zu sein, dass er auf Vorschlag von Patriarch Alexi das erste Oberhaupt der neuen Metropolie sein solle. Schließlich scheint auch die Auslandskirche in Westeuropa außer Tritt geraten zu sein.
Drei Ziele der Außenpolitik des Moskauer Patriarchats lassen sich also festmachen: Rückgewinnung einst russischen Immobilienbesitzes; Re-Russifizierung der sprachlich und kulturell in die Gastländer integrierten orthodoxen Gemeinden russischer Tradition und ihre Verwandlung in russisch-nationale Bastionen im Westen; Rückgewinnung der Moskau zur Zeit nicht unterstehenden Gemeinden russischer Tradition. Der Offene Brief von Patriarch Alexi kaschiert diese Ziele, indem er eine „Autonome Metropolie Westeuropa“ vorschlägt, die nur eine lockere, eher ideelle Anbindung an das Patriarchat Moskau haben soll, wobei der Auslandskirche, dem Erzbistum Fankreich und dem britischen Bistum des Patriarchats „Surosh“ und anderen Patriarchatsgemeinden ihre je eigene Prägung zugestanden wird. Nun wird man abwarten müssen, ob sich der nationale, autokratische Kurs von Außenminister Kirill oder aber die irenische Konzeption des offenkundig sehr kranken Patriarchen durchsetzt. Oder handelte es sich bei dem Offenen Brief von Patriarch Alexi nur um ein taktisches außenpolitisches Manöver?