Der Krieg ist vorbei – und die Christen verlassen weiter den Irak. Ob sich die Hoffnung verwirklicht, dass nach dem Sturz Saddam Husseins wirklich alles besser wird, bleibt zwar offen, aber die Euphorie mit dem Ende des Regimes ist dem bitteren Alltag gewichen. Eine bisher in großen Teilen des Landes tolerant geduldete Minderheit droht auszusterben. Immerhin sind die Hilfslieferungen christlicher Organisationen gerne im Irak gesehen, aber die Frage nach dem „Wie lange noch“ wird sich bald stellen. Keine der bisherigen multinationalen und innerirakischen Konferenzen zum Wiederaufbau des Landes hat expressis verbis die Christen als Minderheit eingeladen. Sie sind dann in den Planungsstäben für den neuen Irak präsent, wenn sie einer ethnischen Minderheit – etwa der der Kurden – angehören. Bereits vor dem Krieg waren die Christen ohne Perspektive und oft wirtschaftlich ruiniert. Von den 22 Millionen Einwohnern im Irak sind heute noch drei Prozent Christen, vor 15 Jahren waren es gut sechs Prozent. Wer im Embargo-Irak Geld hatte, verließ das Land, vor allem im ölreichen Norden des Landes, der überwiegend von Kurden bewohnt wird (17 Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Vereinten Nationen haben hier in den vergangenen Jahren die dichtesten Flüchtlingsströme – vor allem kurdischer Christen – festgestellt.
Der blutige Krieg Saddam Husseins gegen die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden hat auch die Christen aufgerieben und das, obwohl die zahlreichen Verfassungsänderungen im Irak immer das laizistische Staatssystem, wenn auch in den letzten drei Jahren massiv ausgehöhlt, nicht angetastet haben. Nach der Doktrin der bis vor kurzem herrschenden sozialistischen Baath-Partei bemühte sich die Regierung um die Trennung von Religion und Staat. Der Islam wurde als gesamtgesellschaftliches Erbe betrachtet, gewann aber in den vergangenen Jahren den Charakter einer Staatsreligion.
Die letzte Verfassung garantierte den christlichen Konfessionen den Status einer juristischen Person. Trotzdem hat Saddam massiv versucht, vor allem die Religionslehre, das Erziehungssystem und häufig auch die Kultstätten zu überwachen. Der Diktator wusste vor allem im Angesicht des drohenden Kriegs die Kräfte zu bündeln: Wo er Brüche im nationalen Bewusstsein wahrnahm, argumentierte er im Namen der Religion. Die entscheidende Frage heißt heute: Wird der Irak ein laizistisches Staatssystem behalten oder kommt es zur islamischen Radikalisierung, die bereits gegenüber den Christen auf dem Land in den letzten Jahren beklagt wurde? Das religiöse Ungleichgewicht von 57 Prozent Schiiten, die über Jahrzehnte von 39 Prozent Sunniten beherrscht wurden (vgl. HK Juni 2003, 294 ff), ist eine latente innerstaatliche Gefahr, bei der die christlichen Minderheiten schnell übersehen werden.
Kommt es zur islamischen Radikalisierung?
Bei den vielfältigen, besonders christlichen Friedensinitiativen, die einen fast ungekannten ökumenischen und über die Religionsgrenzen hinweg wahrnehmbaren Konsens erreichten, war es vor allem die Stimme von Johannes Paul II., die über die politischen Debatten hinaus zu hören war. Allerdings hat sich der Vatikan nicht erst in der angespannten Situation seit Jahresanfang zu Wort gemeldet, sondern schon vorher versucht, über die katholische Kirche hinaus seine Position in der Region geltend zu machen. Bereits im Golfkrieg der achtziger Jahre, im Krieg um Kuwait und in der aktuellen Krise hat der Papst das Regime in Bagdad, aber auch die internationale Staatengemeinschaft angerufen. Seit Jahren lässt er kaum eine Gelegenheit aus, auf die Unmenschlichkeit des Embargos hinzuweisen. Irakischen Bischöfen, die bei ihm in Rom zu Gast sind, gibt er die unmissverständliche Botschaft mit, die christliche Bevölkerung trotz der katastrophalen Situation zum Bleiben zu bewegen, um am Aufbau des Staates mitzuwirken. Die Diplomatie des Vatikans hat aus ethischer Verantwortung die gesamte Bevölkerung des Irak im Blick. Johannes Paul II. ist von einem pazifistischen Ideal getragen, das er in unüberhörbarer Deutlichkeit bereits am 13. Januar 2003 den am Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomaten einschärfte. Der Krieg sei immer eine Niederlage der Menschheit, eine Lösung sei „niemals unter Rückgriff auf Terrorismus und bewaffneten Konflikt zu erreichen(...) Und was ist zur Bedrohung durch einen Krieg zu sagen, der die Bevölkerung des Irak treffen könnte, das Land des Propheten, ein Volk, das durch mehr als zwölf Jahre Embargo bereits erschöpft ist? Krieg ist niemals ein Mittel wie andere auch, das man wählen könnte, um Differenzen zwischen Völkern zu regeln.“ Hier ist an die auffällige und mitunter hektische Diplomatie des Heiligen Stuhls zu erinnern, die er an den Tag legte, als der amerikanische Aufmarsch am Golf fast abgeschlossen war und sich die neue weltweite Friedensbewegung auf den Straßen formierte. Mitte Februar kehrte Saddams stellvertretender Ministerpräsident, der chaldäische Christ Tarek Aziz, von seiner Europareise nach Bagdad zurück. Parallel dazu war Kurienkardinal Roger Etchegaray, mit 80 Jahren einer der erfahrensten Topdiplomaten in politisch heiklen Missionen, im Irak.
Trotz des römischen Engagements an Tigris und Tiber für eine friedliche Lösung, blieb eine offizielle Einladung an den Papst aus, nach Bagdad zu reisen. Aber sowohl der Besuch von Aziz bei Johannes Paul II. am 14. Februar wie das lange Gespräch Etchegarays mit Saddam Hussein einen Tag später zeigen, dass die Kirche in einer internationalen Krisensituation eine Stimme hat. Sie hat sich mit ihrer diplomatischen Initiative ihrem gesellschaftspolitischen Auftrag nicht entzogen. Wo europäische und nordamerikanische Politik vorsichtig taktierte und lange debattierte, von wem Aziz empfangen werden könne, griff der Vatikan zu und gewährte ihm die vierte Audienz beim Papst. Und während die Botschaften der Europäischen Union überlegten, ihr Personal auf eine Rumpfbesetzung zu reduzieren, schickte Johannes Paul II. seinen Sondergesandten für alle Fälle in die Straßen von Bagdad.
Kardinal Etchegarays Besuch galt als Hoffnungszeichen für die Menschen. Der Audienztermin bei Saddam dauerte mit anderthalb Stunden überraschend lang. Der Gast aus Rom betonte dabei das zutiefst im ganzen Denken und Handeln Johannes Pauls II. verwurzelte Ideal. Saddam sei für ihn ein schwieriger Gesprächspartner gewesen, es habe aber einen echten Dialog während der Begegnung gegeben: „Der Irak braucht dringend Frieden“, meinte Etchegaray, „ein Friede, der dauerhaft und gerecht ist, nach all den Jahren des Leids.“ Die Kirche spreche nicht nur vom Frieden, sie setze sich auch für den Frieden ein. Letztlich sei die Sorge um den Frieden ein Appell an das Gewissen, „an das Gewissen, das stärker ist als alle Strategien, als alle Ideologien, ja selbst als alle Religionen“, so der Kardinal kurz vor seiner Rückkehr nach Rom: „Mein Wunsch war es, Saddam Hussein zu bewegen, nachzudenken und offener zu sein und sich mit all seinen Kräften für die Vermeidung des bewaffneten Konflikts einzusetzen.“ Während das tägliche Leben auf den Straßen Bagdads weiterging, wussten die Menschen – Muslime und Christen – eines sicher: Der Kardinal aus Rom war für sie ein Zeichen, dass der Westen und der Papst sie nicht vergessen haben. Natürlich mehrten sich die kritischen Stimmen, ob ein Kardinal mit einem Despoten zusammentreffen dürfe. Etchegaray wies jeden Vorwurf der Instrumentalisierung zurück. Er war sich des symbolischen Charakters der Reise bewusst. Aufträge des Papstes haben ihn unter anderem in die Krisenregionen des Südsudan, nach Sarajewo und – vor einem Jahr – zur israelischen und palästinensischen Regierung geführt, um beide zu einer Befreiung der Geburtskirche in Betlehem zu bewegen. Zu wenig ist in der Öffentlichkeit beachtet worden, dass Etchegaray im Hintergrund einen größeren Einfluss hatte, als ihm politische Kräfte selbst in europäischen Ländern zutrauten.
Ein Irak ohne Christen wäre das Ende von 2000 Jahren Kultur
In den Tagen unruhiger Diplomatie hatte sich auch Aziz ungewöhnlich lang beim Papst aufgehalten. Johannes Paul II., so hieß es in der vatikanischen Verlautbarung – habe an die „Dringlichkeit erinnert, getreu und mit konkreten Verpflichtungen die Resolutionen der Vereinten Nationen zu beachten.“ Die Kirche wisse sich verpflichtet, ihren Beitrag für die Erziehung zum Frieden und das Zusammenleben der Völker zu leisten, „um in allen Situationen zu Friedenslösungen zu kommen.“ Im Herbst 1999 hatte die vatikanische Diplomatie mit Hochdruck an einer Reise des Papstes nach Bagdad gearbeitet, die damals aus „Sicherheitsgründen“ von irakischer Seite kurzfristig abgesagt wurde. Vatikansprecher Joaquin Navarro-Valls betonte unmittelbar vor Kriegsbeginn gegenüber Journalisten, ein Blitzbesuch sei nicht Gegenstand des Gesprächs gewesen. Rom schien mit der Entsendung Kardinal Etchegarays zunächst einmal genügend symbolische Momente gesetzt zu haben.
Diese Initiativen sind gescheitert, selbst die kämpferische Aussage des Papstes am 19. März 2003 („Es gibt keinen gerechten Krieg“) konnte den Konflikt nicht verhindern. Die irakischen Bischöfe verurteilten das Vorgehen der Alliierten als „Faustschlag gegen die Bevölkerung“. Der lateinische Erzbischof von Bagdad, Jean Sleimann, sprach von einer Gefahr nicht nur für den Irak sondern den gesamten Nahen Osten. Basras chaldäischer Erzbischof Djibrail Kassab sah während des Krieges vor allem die guten Beziehungen zu den muslimischen Nachbarn gefährdet. Noch während des Krieges standen Christen und Muslime nebeneinander, der arabisch-irakische Nationalstolz einte plötzlich. Nuntius Francesco Filoni bestätigte nach den ersten zwei Wochen des Krieges, dass „Hunderte, gleich ob Christen oder Muslime Zuflucht in den Kirchen gesucht haben.“ Und das Oberhaupt der chaldäischen Christen, Patriarch Raphael Bidawid I., predigte Sonntag für Sonntag, das kein Iraker den Krieg gewollt habe, jeder aber verpflichtet sei, in seinem Vaterland zu bleiben.
Die teilweise abenteuerlichen Einsätze der christlichen und anderer humanitärer Hilfsorganisationen während des Krieges waren oft die einzige Unterstützung, die den Irak vor allem über den Landweg von Jordanien aus erreichte. Während es vor dem Krieg noch Schwierigkeiten der Koordination und sogar teilweise der Akzeptanz zum Beispiel der Caritas und der Diakonie gab, ließ der Krieg auch hier die Menschen zusammenrücken. Martin Salm, Leiter von Caritas International, bemerkte: „Es gab nach der Gründung der Caritas Irak nach dem ersten Golfkrieg starke Diskussionen, ob wir nur Christen helfen sollten. Heute ist klar: Die Caritas orientiert ihre Unterstützung allein an der Bedürftigkeit. Das hat uns Ansehen verschafft, war aber bei bestimmten Personen in der Kirche des Irak auch umstritten. Die Auseinandersetzungen haben sich gelohnt: Wir könnten sonst jetzt nicht angemessen helfen.“ Ein Irak ohne Christen wäre das Ende eines 2000 Jahre alten kulturellen Erbes. Es war vor allem die Lehre des Nestorius, die zum Konzil von Ephesus 431 führte und im irakischen Kernland viele Anhänger fand. Zunächst als Nestorianer bezeichnet, werden diese Christen seit dem 19. Jahrhundert Assyrer genannt. 1553 ging eine Gruppe die Union mit Rom ein, sie heißt heute Chaldäer. Die orthodoxen Assyrer erlebten unter sich noch 1972 ein Schisma. Die größten christlichen Konfessionen bilden die Chaldäer (400 000) und die Assyrer (120 000). Hinzu kommen kleine Gruppen von syrisch-orthodoxen, armenischen und griechisch-orthodoxen Christen sowie katholische Syrer, Armenier, Lateiner und Griechen (insgesamt rund 120 000) und auch rund 15 000 Protestanten.
Die christlichen Initiativen vor dem Krieg und in den ersten Wochen nach dem Krieg prägen das Land: Die vorhandene, wenn auch in vielen Teilen marode soziale Infrastruktur ist ohne christliches und oft westliches Engagement kaum denkbar. Insbesondere die Caritas und das Hilfswerk „Kirche in Not“ finanzieren Krankenhäuser, Schuleinrichtungen und die Theologenausbildungsstätte „Bable-College“ in Bagdad. Die Einrichtungen genießen in allen Bevölkerungsschichten einen guten Ruf und haben in der Vergangenheit dazu beigetragen, die Analphabetisierungsquote von derzeit rund 40 Prozent zu senken. In der ersten Phase des Wiederaufbaus mutet es jetzt besonders fragwürdig an, wenn die ersten freikirchlichen Missionare in den zerstörten Irak strömen, um mit Brot und Bibel ihren Beitrag für einen neuen Irak zu leisten: Die „Samaritan’s Purse“, eine Hilfseinheit der US-amerikanischen Southern Baptist Church versucht mit Unterstützung des amerikanischen Militärs Einfluss im Irak zu gewinnen. In einem Beitrag der „Welt“ (13.6.2003) wird angeführt, dass auch aus Deutschland die Organisation „Geschenke der Hoffnung e. V.“ (Berlin) als eines der acht internationalen Partnerhilfswerke von „Samaritan’s Purse“ im Irak mithilft. Die „Welt“ zitiert den Baptisten Albert Mohler mit den Worten: „Der Christ muss auf den Irak schauen und Menschen wahrnehmen, die dringend das Evangelium benötigen. Wir Christen werden versuchen, das Evangelium auf einem liebevollen und behutsamen, aber sehr direkten Wege zu den Irakern zu bringen.“ Diese Haltung birgt neuen religiösen Sprengstoff in sich, weil die christlichen Minderheiten im Irak weniger missionarischen Geist aus dem Westen importiert brauchen, als vielmehr auf jene internationale Unterstützung hoffen, durch die sie in der künftigen Verfassung als gleichberechtigte Partner des neuen Staates anerkannt sein wollen. Insgesamt werden von vielen christlichen Seiten diese Missionsstrategien mit berechtigtem Argwohn betrachtet.
Gemeinsame Appelle der irakischen Kirchenoberhäupter
Auch der Vatikan setzt auf sinnvollere Methoden der direkten Hilfe und des Mutmachens. So schickte Johannes Paul II. vom 28. Mai bis zum 3. Juni Kurienerzbischof Paul Josef Cordes, Präsident des Päpstlichen Rates Cor unum, in den Irak. Sein Auftrag sei es gewesen, so Cordes nach der Reise, „die geistige Nähe des Papstes jenen kundzutun, die am meisten unter den tragischen Folgen des Krieges in den vergangenen Monaten zu leiden hatten.“ Neben Gottesdiensten ging es vor allem um mögliche Hilfsaktionen: „Ich konnte mich persönlich von den Notwendigkeiten im Land für entsprechende Hilfen überzeugen, in die die internationalen humanitären katholischen Organisationen involviert werden sollen“, so Cordes. Diese Einrichtungen hätten schon beim Nötigsten mit ihrer Hilfe begonnen, dazu gehören „Nahrungsmittel, Wohnraum, Medikamente und Ausbildung.“ Auch der jüngste Besuch von US-Außenminister Colin Powell bei Johannes Paul II. unterstrich diese Haltung: Auf diplomatisch-politischer Ebene die Situation erörtern, um die Position der Christen zu stärken, die als Bürger im Irak ihren Beitrag gelebter interreligiöser Koexistenz leisten möchten.
Das betonen vor allem die christlichen Kirchenoberhäupter des Irak in aller Deutlichkeit. Noch vor der Visite von Erzbischof Cordes hatten sie einen gemeinsamen Appell am 29. April 2003 veröffentlicht. Darin unterstrichen sie die Bereitschaft der christlichen Minderheit, am Aufbau des Landes mitzuwirken: „In diesem Augenblick, in dem der Irak eine Wende eingeleitet und ein neues Kapitel seines 1000jährigen Bestehens aufgeschlagen hat, wollen wir, die Patriarchen und Bischöfe der christlichen Kirchen des Irak, auch auf Betreiben unserer Gläubigen hin, unsere Erfahrungen hinsichtlich der Zukunft dieses Landes bekunden. Dies geschieht in der Hoffnung, dass das ganze irakische Volk, das auf eine lange, von Niederlagen wie von Erfolgen gekennzeichnete Geschichte zurückblickt, ohne Unterschiede der Religion oder der Rasse in Freiheit, Gerechtigkeit und im Respekt vor einer interreligiösen und multiethnischen Koexistenz leben kann.“
Exodus oder Akzeptanz durch die Mehrheit
Genau daran wird sich der neue Irak aber vor allem auch der in ungewohnter Weise erstarkende schiitische Islam messen lassen, ob er dieser Koexistenz beipflichten kann. Weiter schreiben die Patriarchen: „Als Hammurabi seinen Kodex in den Stein dieses Landes meißelte, wurde das Recht die Grundlage der Entwicklung der Zivilisation. Als Abraham den Himmel über Ur betrachtete, öffnete dieser sich, und eben durch diese Offenbarung wurde Abraham der Vater vieler Völker. Als das Christentum und der Islam einander begegneten, leiteten ihre jeweiligen ,Heiligen‘ die beiden Religionen zu einem Zusammenleben in gegenseitigem Respekt an.“
Spätestens hier wird offensichtlich, dass die westliche Missionsstrategie einer Minderheit im Irak nicht gewünscht ist, eben weil der gegenseitige Respekt als Grundvoraussetzung eines miteinander gelingenden Lebens betont wird. Während die Patriarchen diesen Respekt einfordern, beanspruchen sie ebenso deutlich, kraft ihrer „ursprünglichen Zugehörigkeit zu den ältesten Völkern dieser Erde(...) mit voller Berechtigung für uns und für alle, die heute hier leben – ob Mehrheit oder Minderheit, eine lange Geschichte des Zusammenlebens vereint uns –, in einem Rechtsstaat in Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit gemäß der Charta der Menschenrechte zu leben.“ Als Christen mit unterschiedlichen Konfessionen bilde man „eine einzige christliche Gemeinschaft“. Ihre Forderungen formulieren die Patriarchen in einem vier Punkte umfassenden Plan, nach dem die neue irakische Verfassung die „religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Rechte anerkennt, ein Rechtsstatut vorsieht, nach dem jede Person – unter Berücksichtigung ihrer Eignung und ohne Diskriminierung – das Recht hat, aktiv an der Regierung und am Dienst für das Land teilzuhaben, die Christen als irakische Bürger im vollen Sinne betrachtet, uns das Recht garantiert, unseren Glauben nach unseren alten Traditionen und unseren religiösen Geboten zu bekennen; das Recht, unsere Kinder nach den christlichen Prinzipien zu erziehen; das Recht, uns frei zu organisieren, Kultstätten zu errichten und das Recht auf weiteren Freiraum für kulturelle und soziale Aktivitäten nach unseren Bedürfnissen.“
Letztlich ist mit diesem deutlichen Aufruf der irakischen Patriarchen der Wille der christlichen Minderheit ebenso umschrieben, wie – zwischen den Zeilen – die Befürchtungen ausgedrückt sind. Es liegt jetzt nicht nur am irakischen Volk und insbesondere den sunnitischen und schiitischen Muslimen, diesen Appell ernst zu nehmen, es liegt auch an der internationalen Staatengemeinschaft, in solidem Umfang die Rechte und verfassungsrechtlich anerkannte religiöse Freiheit von Minderheiten zu garantieren. Ob das die politischen Aufbauköpfe an Euphrat und Tigris – obwohl sie überwiegend aus dem Westen importiert worden sind – verstanden haben, bleibt offen.
Nach dem Krieg existiert er, der Spagat der Christen zwischen Hoffnung auf Akzeptanz und Perspektivlosigkeit. Denn es sind auch jetzt die Minderheiten, die als erste leiden, wenn sich soziale Unzufriedenheit nach einem Krieg auf Randgruppen auswirkt, trotz deren beachtlicher karitativer Leistung für die Gesamtbevölkerung. Die neue religiöse Freiheit vor allem für den schiitischen Islam wird dann zur tödlichen Bedrohung, wenn an den lange Zeit geschlossenen Heiligtümern der Schiiten die Begriffe „Toleranz“ und „Koexistenz“ nicht gepredigt werden. Es bleibt zu wünschen, dass alle den Aufruf der Patriarchen hören, an die er gerichtet war. Zum Schluss haben die Kirchenführer nämlich noch einmal jene genannt, die in und für den Irak Verantwortung tragen: „Wir richten diesen Appell vor allem an das irakische Volk, das reich an Volksgruppen und Religionen ist, dann an die politischen und religiösen Verantwortlichen sowie an alle, denen das Wohl unseres Landes am Herzen liegt, und schließlich an die Führer der internationalen Gemeinschaft.“ Keiner kann sich diesem Aufruf entziehen. Die Christen im Irak stehen am Scheideweg zwischen einem endgültigen Exodus oder der Bereitschaft des irakischen Volkes, die christlichen Minderheiten als einen entscheidenden Baustein für Gesellschaft, Politik und das religiöse Lehren im Zweistromland anzuerkennen.