LeitartikelKampf um Kinder

Leere Staatskassen und Massenarbeitslosigkeit, marode Sozialsysteme und eine lang anhaltende konjunkturelle Schwäche haben an vielen Stellen Verteilungskonflikte aufbrechen lassen. Müssen wir uns damit aber auch auf den Kampf zwischen Kinderlosen und Kinderhabenden einstellen? Jetzt sind politische Führungskraft und zivilgesellschaftliche Courage gefordert.

Deutlich härter ist er geworden, der Ton in unserem Land, das doch seinen bisherigen wirtschaftlichen und politischen Erfolg zu einem Gutteil der festen Orientierung an gesellschaftlichem Konsens und Ausgleich zu verdanken glaubt. Jetzt aber haben leere Staatskassen und Massenarbeitslosigkeit, marode Sozialsysteme und eine lang anhaltende konjunkturelle Schwäche an vielen Stellen Verteilungskonflikte aufbrechen lassen. Ein breiter und stetiger Wohlstandszuwachs in den zurückliegenden goldenen Jahrzehnten hatte diese gezähmt oder doch zumindest verdeckt. Da aber allenthalben spürbar ist, dass es so einfach nicht mehr weitergehen kann, und man hierzulande wohl doch über seine Verhältnisse gelebt hat, gerät die öffentliche Debatte zunehmend schriller.

Sind Kinder nur Privatsache?

So sind in politischen Kommentaren mittlerweile Anführungs- und Fragezeichen verschwunden, wenn vom drohenden Generationenkrieg, dem absehbar erbitterten Verteilungskampf zwischen Jung und Alt die Rede ist. Der Rücken der nachkommenden Generationen ist mittlerweile zu schmal geworden, als dass sie die über Sozialsysteme und Staatsverschuldung aufgebürdeten Lasten schultern könnten. Und gleich welche familienpolitischen Maßnahmen in nächster Zeit auch ergriffen werden, Trendumkehr ist nicht zu erwarten, rechnet das Statistische Bundesamt nach den jüngsten im Juni veröffentlichten Vorausberechnungen auch für die nächsten Jahrzehnte mit nur 1,4 Geburten je Frau.

Müssen wir uns damit aber auch auf den Kampf zwischen Kinderlosen und Kinderhabenden einstellen? Seitdem die Nation von ihren Kassenwarten gezwungen wird, sich endlich dem doch seit langem absehbaren demographischen Wandel zu stellen, und vielen langsam zu dämmern beginnt, welche gravierenden Folgen die massive Überalterung unserer Gesellschaft oder besser deren „Unterjüngung“ (Ursula Lehr) durch zu wenige Kinder hat, ist zumindest auch hier der Ton vernehmbar härter geworden. Schließlich geht es ja keineswegs nur um die umlagefinanzierten Sicherungssysteme, die mit Sicherheit in ihrer heutigen Form nicht mehr zu halten sind. Unsere ganze kulturelle und natürlich auch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit scheint auf dem Spiel zu stehen, wo innovativer und ideenreicher, qualifizierter Nachwuchs fehlt. Und mehr noch, ist doch die Kinderzahl auch ein verlässlicher Stimmungsbarometer: Wo der Mut zu Kindern fehlt, fehlt auch der Mut zur Zukunft. Was Soziologen und Demographen nüchtern als weitere Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung sozialer Lebensformen beschreiben, hat noch bis vor wenigen Jahren zu keinen größeren gesellschaftlichen Diskussionen geführt: Da erzürnten sich gelegentlich konservative Leitartikler über die Schleifung des wichtigsten Fundamentes unserer Gesellschaft. Im Gegenzug freuten sich andere über die gesprengten Fesseln der Nachkriegsfamilienideologie. Die männliche Fachwelt überließ diesen ganzen Themenbereich ohnehin lieber der Frauenforschung, schließlich wollten sich ja die Frauen von traditionellen familiären Rollenkonzepten emanzipieren. In deutschen Wohnzimmern wurde die Diskussion zwar geführt, beschränkte sich aber bis vor kurzem auf stummes Kopfschütteln der Alten und belanglose Witzchen über die nun Single heißenden Junggesellen, Hagestolze und Übriggebliebenen. Mit kaum verhohlener Bewunderung wurde getadelt, wer, wie es so treffend hieß, mit seiner Firma verheiratet war und daher für Ehe und Familie keine Zeit hatte. Mit etwas Neid und manchmal auch ein bisschen entrüstet begegnete man den zunehmend anzutreffenden DINKs (double income, no kids), empörte man sich über arbeitende „Rabenmütter“, die wahlweise eben auf Selbstverwirklichungstrip waren oder Geld dazuverdienen mussten, weil ihre Männer nicht richtig taugten. Den überbehüteten, verwöhnten und selbstredend kontaktgestörten Einzelkindern der verspäteten und meist doppelberufstätigen Eltern gewährte die „richtige“ Familie in der Nachbarschaft mitfühlend angemessene Sozialisationsbedingungen. Die von Soziologen und Demographen prophezeite Singlegesellschaft hatte das reizende Gesicht importierter US-amerikanischer TV-Serienheldinnen.

Seit aber die „vergreisende“ Gesellschaft ihr Menetekel an der Wand entdeckt hat, herrscht auch hier, zwischen Familien und den vielfältigen kinderlosen Lebensformen, oftmals ein richtig giftiger Ton in Kommentaren, Leserbriefen oder einschlägigen Chat-Foren. Wie viel wechselseitiges Unverständnis, Empfindlichkeiten und Verletzungen schaffen sich da Luft. Anlass findet sich reichlich: Etwa wenn wieder jemand vorschlägt, wie jüngst die CDU-Parteivorsitzende, Kinderlose zur Finanzierung der Rente stärker ranzunehmen. Da stehen Kinderlose pauschal als verantwortungslose, karriere- und genussfixierte Egoisten am Pranger. Im Gegenzug sehen sich Eltern dem Vorwurf ausgesetzt, ihr privates Glück gesellschaftlich alimentieren zu lassen. Dass Kinder zwar eine höchst persönliche Angelegenheit sind und auch bleiben sollen, Kinderhaben deswegen jedoch noch lange keine Privatsache ist, lässt sich kaum noch vermitteln in einer hoch individualistischen Gesellschaft, nach deren unverrückbarer Lebensregel jeder doch selbst seines Glückes Schmied zu sein hat.

Die neuerliche Aufmerksamkeit der Politik für die Familie

„Meine Kinder erwirtschaften Euch allen einmal die Rente“, verweisen Eltern demgegenüber oft recht hilflos auf ihren besonderen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft und listen dann doch nur auf, was ihr privates Glück denn kostet: vom höheren Wohnraumbedarf über viel zu teure Kinderschuhe bis hin zur kostspieligen Musikstunde. Dagegen verweisen Singles und DINKs auf ihre doch jetzt schon zu hohen Beiträge, mit denen sie ein stattliches Kindergeld, zahlreiche Steuervorteile, die Mitversicherung des Nachwuchses in der Krankenversicherung, aber auch die verbilligte Familienkarte fürs Freischwimmbad finanzieren müssen – ganz zu schweigen von der häufigen Mehrarbeit am Arbeitsplatz, wenn sich die Kollegin (selten ein Kollege) wieder einmal um ihre kranken Kinder kümmern muss.

Die massive Geringschätzung der Elternarbeit

Tief verletzt wehren sich Eltern zurecht gegen die weitverbreitete Geringschätzung ihres Rund-um-die-Uhr-Jobs in Familienarbeit und verweisen auf die Fülle von Aufgaben, die Familie zu erledigen hat, darunter eine zunehmend schwierigere Werteerziehung, die doch für ein gedeihliches Zusammenleben unverzichtbar ist. Und tatsächlich gerät die besondere, nicht zu delegierende Verantwortung der Eltern meist nur in den Blick, wo diese scheitern: Etwa wenn deutsche Kinder und Jugendliche unser doch ziemlich teures Bildungswesen vor einer internationalen Öffentlichkeit blamieren, wenn einer von ihnen bis an die Zähne bewaffnet Amok läuft oder andere Hetzjagden auf Ausländer veranstalten. Nicht minder gekränkt erinnern dagegen Singles und DINKs daran, dass ihre Kinderlosigkeit keinesfalls immer freigewählt ist. Vor allem aber dürfe was im einen Fall die Natur und im anderen der Flexibilität und totale Verfügbarkeit fordernde Arbeitgeber verwehrt, nicht auch noch von der Gesellschaft geächtet und vom Staat bestraft werden. Soll Letzterer doch einfach das Sozialversicherungssystem umstellen, so dass ab morgen und insgesamt viel zeitgemäßer jeder mit seinen eigenen Beiträgen für sich selber sorgt. Rasch gerät schon die ausdrückliche Würdigung oder allzu offensive Parteinahme für die Familie unter den Pauschalverdacht, andere, kinderlose Lebensformen minder zu bewerten oder gar zu diskriminieren – die grundgesetzlich festgeschriebene Förderung von Ehe und Familie hin oder her. Und dann gibt es ja auch noch all die Totschlag-Argumente: Etwa den Hieb mit dem Mutterkreuz, wenn Eltern an ihren Beitrag zum schieren Fortbestand unserer Gesellschaft erinnern oder den wohlfeilen Hinweis, die Erde sei mit bald sechs Milliarden Bewohnern doch ohnehin schon reichlich voll.

Der ungewohnten Vehemenz und hohen Emotionalität ist durchaus etwas Gutes abzugewinnen. Dieser Auseinandersetzung müssen sich Kinderhabende und Kinderlose stellen, sollen letztere für die Einsicht gewonnen werden, dass um der Stabilität unserer Gesellschaft und natürlich auch ihrer Wirtschaft willen eine stärkere Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Eltern unverzichtbar ist. Angesichts der Kassenlage müssen dazu Prioritäten politisch neu gesetzt, können vorhandene Ressourcen nur umverteilt werden; Wachstumszuwächse lassen sich derzeit und wohl noch auf längere Zeit hin nicht mehr verteilen. Hier ist politische Führungskraft und zivilgesellschaftliche Courage gefordert. Die drohende „demographische Katastrophe“ hat zumindest bewirkt, dass die Familie vom „Gedöns“ (Gerhard Schröder) zu einem richtigen politischen Thema arrivierte. Zumindest scheint jene eigentümliche Achtlosigkeit gebrochen, mit der man sich irgendwie auf die Familie als Fundament unserer Gesellschaft verließ, ohne ihr jedoch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings werden da auch weiterhin Rückschläge zu verkraften sein, wie im Bundestagswahlkampf 2002: Zuletzt hatten doch wieder existenziellere Themen Kinder und Familien von der Agenda gedrängt, trotz vieler familienpolitischer Seiten in den Wahlprogrammen aller Parteien, vollmundiger Ankündigungen zur künftigen finanziellen Unterstützung und öffentlichkeitswirksamer Personalien. Zum politischen Megathema taugt die Familie offenkundig immer noch nicht, obwohl sich hier doch die entscheidenden politischen Fragen und Probleme des Landes geradezu brennglasartig bündeln: von der künftigen Gestaltung der Sozialversicherungssysteme bis hin zur Bewältigung des deutschen PISA-Schocks.

Der Kinderwunsch wird häufig nicht mehr realisiert

Die hohe Emotionalität, die wechselseitige Verletzlichkeit und der offenkundig hohe Rechtfertigungsdruck bei Kinderhabenden wie Kinderlosen stellen dabei nur die Kehrseite einer höchst spannungsvollen und widersprüchlichen Situation dar. Warnen Demoskopen und Soziologen doch seit Jahren, die niedere Geburtenrate in Deutschland mit fehlender Wertschätzung für Familie und Kinder gleichzusetzen. Denn diese ist in der „reproduktiven“ Generation ungebrochen, das zeigen einhellig auch die jüngsten Jugendstudien. Der Kinderwunsch muss offenkundig nicht erst geweckt werden. Vielfach beschrieben und belegt ist aber ebenso eine schon seit Jahren anhaltende Entwicklung, nach der die Realisierung dieses Kinderwunsches immer weiter verschoben wird; oft bis zu dem Punkt, an dem sich die einzelne Frau oder das Paar Kinder nicht mehr zutrauen oder die schiere biologische Möglichkeit nicht mehr besteht. Denn der Kinderwunsch – überdies mit sehr hohen Ansprüchen an die eigene Elternrolle gepaart – konkurriert bei jungen Frauen und Männern mit einer gleichrangig hohen Orientierung an einem befriedigenden Beruf, dem Streben nach beruflicher Verantwortung und beruflichem Erfolg.

Erfreulicherweise scheint sich zur Abhilfe eine breite Allianz zu formieren, von kirchlichen Familienverbänden bis hin zu einzelnen Wirtschaftsvertretern. Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass die potenziellen Eltern aus dieser individuell gerade von jungen Frauen oft als sehr belastend empfundenen Zwangslage befreit werden müssen, sich nämlich zwischen Beruf und Familie alternativ entscheiden zu müssen. Entsprechend betonen mittlerweile Familienpolitiker aller Couleur, dass Deutschland, was die Kinderbetreuung vor allem der Jüngsten angeht, Entwicklungsland ist – auch und gerade im europäischen Vergleich. Allerdings wird die reale Benachteiligung von Vätern und vor allem Müttern auf dem Arbeitsmarkt angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Lage weiter wachsen. Dem totalen Flexibilitäts- und Mobilitätsdiktat können sie nicht genügen. Der unabhängige Single ist der zeitgemäße Norm-Arbeitnehmer. Reflexhaft wurden die gesetzlichen Regelungen zur Förderung familienfreundlicher Teilzeitarbeit von Arbeitgeberseite als Standortnachteil, Konkurrenzbremse und Arbeitsplatzvernichtung verurteilt.

So begrüßenswert die neuerliche Aufmerksamkeit für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als einem wichtigen Aspekt der Geburten- und Familienförderung ist und alles getan werden muss, (potenzielle) Eltern aus dieser sinnlosen Konkurrenz zwischen beruflichen und familiären Bedürfnissen, zwischen beruflicher und elterlicher Verantwortung zu befreien – das Problem liegt tiefer. Denn entmutigend wirkt doch vor allem die kaum zu leugnende kinderfeindliche Stimmung im Land, diese Mentalität nach der Kinder Privatsache, das ausschließliche Problem ihrer Eltern sind. Wie hoffnungsvoll und zuversichtlich können sich junge Frauen und Männer auf das Wagnis Kinder einlassen, wenn sie mit so wenig Verständnis für ihre Leistung und ihre Belastung, für den gesellschaftlichen Wert von Kindern rechnen können? Kinderfeindlich und für potenzielle Eltern entmutigend ist ebenso diese weitverbreitete „Nach mir die Sintflut“-Haltung, mit der ein Gutteil unserer Zeitgenossen auf die enormen Herausforderungen reagieren, die in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommen werden. Die Frage nach den Lebensperspektiven der künftigen Generationen wird einfach verdrängt. Selbstverständlich ist die Rede von der kinderfeindlichen Gesellschaft auch wieder angreifbar. Es wird ja unbestreitbar viel Geld für Kinder und Familien ausgegeben. Aber finanzielle Transfers – deren Wirksamkeit und gerechte Verteilung noch einmal ein eigenes Problem darstellen – sind eben nicht alles: Was nützen first-class-Spielplätze, wenn Eltern sich zugleich mit Bürgerinitiativen gegen den Kinderlärm auf diesen Spielplätzen herumzuschlagen haben.

Wollten wir eine entschiedene Geburten- und Familienförderung, ist neben finanziellen Anreizen oder Maßnahmen zur deutlichen Verbesserung der Kinderbetreuung – eine Strategie, die etwa Frankreich relativ erfolgreich verfolgt – auch ein Mentalitätswechsel erforderlich: Hin zu so etwas wie einer „elterlichen“ Gesellschaft, in der ein neues Bewusstsein für den Wert von Kindern herrscht, in der sich Kinderlose wie Kinderhabende auf ihre je eigene Weise für Kinder verantwortlich fühlen. Eine harte aber faire Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kinderlosen kann durchaus ein Schritt auf dem Weg zu einem solchen Mentalitätswechsel sein.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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