Von Gretchen in Marthens Garten zur Rede gestellt, wie er’s mit der Religion halte, antwortet Faust nach einigem Hin und Her, Gefühl sei alles, Name Schall und Rauch. Ungefähr so hatte es wenige Jahre zuvor der Berliner Charitépfarrer Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher auch gesagt. In seinen 1799 erschienenen „Reden über die Religionan die Gebildeten unter ihren Verächtern“ bestimmt er das Wesen der Religion als Anschauung des Universums und Gefühl. Im Endlichen das Unendliche wahrnehmend wird die Religion des ganzen ungeteilten Daseins inne, wohingegen das theoretische und praktische Alltagsbewusstsein in der Gefahr steht, sich ans Partikuläre zu verlieren. Vor konfuser Zerstreuung bewahrt werden kann der Mensch nur durch religiöse Sammlung, die auf jene Mitte hin konzentriert ist, welche die Welt und jedes Einzelleben im Innersten zusammenhält und in einen umfassenden Sinnzusammenhang stellt. Mit der Vorstellung eines transzendenten Gotttes oder gar dem unter Donnerschall und Feuerrauch offenbaren Jahwenamen muss Religion dabei keineswegs verbunden werden. Es ist im Gegenteil so, „dass eine Religion ohne Gott besser sein kann, als eine andre mit Gott“ (KGA I/2, 244, 16 f).
Die klassischen Religionstheorien der Goethezeit
In seiner Dogmatik „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ von 1821/22 (2. Aufl.: 1830/31) hat Schleiermacher diese Auffassung zwar modifiziert, ohne deshalb von seiner Wesensbestimmung der Religion grundsätzlich abzurücken. Mit den Wendungen „unmittelbares Selbstbewusstsein“ und „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ wird nun umschrieben, was Religion im Wesentlichen ausmacht. Sie ist präreflexives, wenngleich reflexionsoffenes Innesein des Menschen, welches des unendlichen Grundes und der Ewigkeitsdimension endlichen Daseins in der Zeit gefühlsunmittelbar gewiss ist. Notwendig auf Sozialität hin angelegt hat sich das eine Wesen der Religion im Verlaufe der Menschheitsgeschichte zu verschiedenen historischen Religionsgemeinschaften ausdifferenziert, von denen Islam, Judentum und Christentum nach Schleiermacher die höchste Entwicklungsstufe einnehmen, weil sie die Abhängigkeit alles Endlichen vom Unendlichen auf monotheistische Weise explizieren. Was hinwiederum das Christentum anbelangt, so ist es nach der berühmten Definition der Glaubenslehre (§ 11, 2. Aufl.), „eine der teleologischen“ – also auf ein eschatologisches Endziel hin angelegten – „Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise, und unterscheidet sich von andern solchen wesentlich dadurch, dass alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“. Obwohl Schleiermacher nicht müde wurde zu betonen, dass man religiös nur im Kontext einer konkreten („positiven“) Religion sein könne, ist gleichwohl unübersehbar, dass seinem Religionsbegriff eine generalisierende Bedeutung eignet, deren Allgemeinheit die einzelnen Religionen in ihrer Besonderheit zugeordnet werden.
Das gilt entsprechend auch für die beiden anderen klassischen Religionstheorien der Goethezeit, so unübersehbar ansonsten ihre Unterschiede sind. Nach Schleiermacher ist Religion weder Denken noch Handeln, sondern Sinn und Geschmack fürs Unendliche jenseits von Metaphysik und Moral. Kant hingegen hat die Religion dezidiert in den Dienst der Moral gestellt und zu deren Funktion erklärt. Nachdem die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit gemäß kritischer Erkenntnislehre in ihrer Objektivität als theoretisch unbeweisbar zu gelten hatten, wurden sie der praktischen Vernunft überantwortet, um als Postulate der Moral zu sittlicher Gewissheit geführt zu werden. Im Interesse der Realisierung der Moral sei es nicht nur erlaubt, sondern geboten, jene Hoffnungsgründe zu pflegen, welche Inhalt und Wesen vernünftiger Religion ausmachen: Es ist ein Gott, der als allmächtiger Schöpfer der Welt und oberster Sittenrichter die schließliche Übereinstimmung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität gewährleistet. Der Mensch soll seiner sittlichen Freiheit der sinnlichen Natur gegenüber nicht nur entsprechen, er kann dies auch und darf, sofern er immer strebend sich bemüht, seiner unsterblichen Teilhabe am kommenden Gottesreich realisierter Moral gewiss sein. An diesen Zentralgehalten vernünftiger Moralreligion haben sich nach Kant alle historischen Religionen einschließlich des geschichtlichen Christentums zu orientieren. Die Vernunftreligion bildet in Kritik und Konstruktion den Maßstab von deren Geltung; in der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 ist dieses Programm in Bezug auf dogmatische Bestände der christlichen Tradition im Einzelnen durchgeführt.
Nach Hegel verkennt die Beschränkung der Religion auf die Realisierung moralischer Zwecke deren wahres Wesen, das nicht nur auf die Aufhebung der Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft, sondern auf die Erhebung über den (Un-)Geist der Entzweiung, wie er die kantsche Reflexionsphilosophie bestimmte, überhaupt angelegt sei. Der Verstand müsse, statt sich auf seine Beschränktheit zu fixieren, zur Vernunft gebracht werden, wozu ihm Religion verhelfe, indem sie das Endliche über seine Schranken hinausführe und zum wahrhaft Unendlichen als der dialektischen Einheit von Transzendenz und Immanenz erhebe. Die Durchführung dieser religionsphilosophischen These ist nichts Geringeres als Hegels Gesamtsystem, aus dem sie resultiert. Das vermittels der Wissenschaft der Logik im Durchgang vom Sein über das Wesen zum Begriff in seiner idealen Reinheit entwickelte Denken entäußert sich an die Natur als Anderes der Idee, um sich in der Weise subjektiven und objektiven Geistes zum absoluten Geist zu erheben, wie er sich in Kunst, Religion und zuletzt in der Wissenschaft als dem Wissen des Wissens manifestiert, welche im absoluten Begriff sich vollendet. Der konzeptionelle Unterschied des hegelschen Systems zu demjenigen Kants, aber auch Schleiermachers ist evident, nicht zuletzt in religionsphilosophischer Hinsicht. Von einer begrifflichen Aufhebung der Religion etwa kann weder bei Kant noch bei Schleiermacher die Rede sein, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Aufhebungsbegriff in hegelscher Terminologie eine dreifache Denotation besitzt und Negation, Bewahrung und Erhebung zugleich bedeutet. Dennoch verbleiben elementare Gemeinsamkeiten, sofern der Prozess der religiösen Erhebung, der in der Geschichte der besonderen Religionen seine materiale Entsprechung findet, um in der absoluten Religion sich zu vollenden, auch noch bei Hegel bestimmt ist von einem auf Allgemeinheit hin angelegten Begriff der Religion, dessen generelle Bedeutung sich in allen religiösen Besonderheiten zur Geltung bringt.
Die knappe Skizze dreier großer Systementwürfe der Goethezeit erweist den Religionsbegriff nicht nur als einen Zentralterminus neuzeitlicher Selbstverständigung, sondern zeigt zugleich, dass eine generalisierende Tendenz charakteristisch ist für seinen modernen Gebrauch. Dass diese Verwendungsweise modernitätsspezifisch ist und für den Begriff der Religion keineswegs von Anfang seiner Terminologiegeschichte an kennzeichnend war, hat Ernst Feil in großangelegten Untersuchungen detailreich erschlossen. Er belegt in minutiöser und außerordentlich kenntnisreicher Weise, dass von einer kontinuierlichen Geschichte des Religionsbegriffs nicht die Rede sein kann, da sich dessen moderne Verwendung signifikant von der Bedeutung unterscheidet, die dem Terminus in der Antike und im Mittelalter bis weit in die Frühneuzeit eignete. Erst in der Moderne wird der Begriff der Religion in der uns vertrauten Weise generalisiert und zu jenem Allgemeinbegriff, der nicht nur die konfessionellen Differenzen der christlichen, sondern die Gegensätze aller historischen „Religionsparteien“ umgreift, um eine menschheitsgeschichtliche Angelegenheit von tatsächlicher oder vermeintlicher universalanthropologischer Relevanz zu bezeichnen.
Vom frühen Christentum zur Reformation
Der Untersuchungsgegenstand des ersten Bandes von Feils Monumentalwerk umfasst die Zeit vom frühen Christentum bis zur Reformation. Als ein Oberbegriff für ein Allgemeines, das allen subsumierten Größen trotz und unbeschadet ihrer spezifischen Besonderheit gemeinsam ist, war „religio“ den Römern unbekannt. Der – im Griechischen äquivalenzlose – Begriff bedeutet, wie sich exemplarisch an Cicero zeigen lässt, kein anthropologisches Universale, sondern vor allem die penible Sorgfalt bei der Durchführung jener Vollzüge, welche der Mensch aus Gerechtigkeitsgründen der Allmachtstellung der Gottheit schuldet. Religion ist die Tugend, Gott oder den Göttern die gebührende Verehrung durch Gebet, Opfer und dergleichen zu erweisen. Die frühchristliche Rezeption ändert daran im Grundsatz nichts, außer dass sie das Christentum als vera religio von der falsa religio heidnischer Gottesverehrung unterscheidet, die in Wahrheit nur superstitio, also Götzendienst zu leisten vermag. Selbst wenn man die den Römern bekannte etymologische Ableitung des Religionsbegriffs von religare als Bindung an Gott bzw. Göttliches für bedeutsamer erachtet als Feil, ändert das nichts daran, dass religio in der vorchristlichen und frühchristlichen Antike keinen Sammelbegriff mit universalanthropologischer Allgemeinbedeutung darstellt.
Begrifflichen Umbruch im 18. Jahrhundert
Das bleibt auch unter mittelalterlichen Bedingungen so. Wenn im Mittelalter ein Sammelbegriff zur Bezeichnung diverser transzendenzbezüglicher Überzeugungsbestände verwendet wird, dann ist entweder von sectae im (von sequi abgeleiteten) Sinne von Gefolgschaften oder von leges die Rede, nicht aber von religiones. Religio bleibt primär Bezeichnung einer frommen Tugend, welche angemessen keineswegs alle sectae, sondern nur die Gefolgschaften Christi zu üben vermögen, wohingegen diejenigen, welche anderen leges Folge leisten, nur Idolatrie hervorbringen. Besonders deutlich tritt die klassisch-christliche Konzeption nach Feil bei Thomas von Aquin zutage, der religio im Anschluss an Cicero den virtutes morales zurechnet und als Untertugend der Kardinaltugend iustitia aufführt, welche im Wesentlichen das der Gerechtigkeit Gottes naturgemäß geschuldete kultische Verhalten betrifft.
Eine seinen Rahmen sprengende Ausnahme von dem skizzierten begriffsgeschichtlichen Befund scheint allerdings ein bemerkenswerter Text von Philipp Melanchton aus dem Jahre 1540 zu machen. Es handelt sich dabei um eine von Martin Luther mitunterzeichnete Eingabe an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, in der von französischen „Weltweisen“ die Rede ist, unter denen die Meinung kursiere, „es sey aller völcker zu allen zeitten ein religion gewesen, allein die namen sind geendert“ (WA Br 9, 24, 151 f). Dass dieses Konzept, welches der praeceptor Germaniae dezidiert ablehnte, von Humanisten im damaligen Frankreich tatsächlich vertreten wurde, hat sich bisher nicht verifizieren lassen. Unzweifelhaft indes ist, dass es im Laufe der Frühneuzeit und der werdenden Moderne außerordentlich einflussreich werden sollte und zwar aus Gründen, die mit der Reformation ursächlich zusammenhängen.
Nach geläufiger Sicht der Dinge bilden die Antagonismen des konfessionalistischen Zeitalters den entscheidenden geschichtlichen Hintergrund nicht nur für die Moderne insgesamt, sondern auch des modernen Allgemeinbegriffs der Religion, dessen Anfänge zumindest der Sache nach, die er bezeichnet, nicht erst in der Goethezeit zu suchen und zu finden sind. Ursprünglich und von ihrer Intention her war die Reformation eine Bewegung zur Reform der Kirche, deren Einheit sie keineswegs auflösen wollte. Gleichwohl erbrachte der Verlauf des 16. Jahrhunderts die Konfessionalisierung und schließliche Spaltung der westlichen Christenheit. Damit war eine im Vergleich zur relativen Einheitskultur des Mittelalters grundlegend neue Situation gegeben. Das Bewusstsein einer bisher nicht gekannten Differenz bestimmte den Geist der Zeit. Da sich die konfessionellen Gegensätze kommunikativ nicht dauerhaft beheben ließen, kam es in Europa zu einer Vielzahl blutiger Konflikte, die durch die besagten Konfessionsgegensätze zwar nicht ausschließlich verursacht, aber doch erheblich mitbedingt waren. Auf diese Situation, so will es scheinen, ist der moderne Religionsbegriff wesentlich bezogen. Funktionsanalog zur fortschreitenden Emanzipation etwa des Rechts von Bekenntnisprämissen versucht er die Folgelasten konfessioneller Auseinandersetzungen dadurch zu bewältigen, dass er ein dem konfessionellen Streit enthobenen allgemeinchristlichen, ja allgemeinmenschlichen Standpunkt benennt und erschließt. Die Devise lautet: Es gibt eine religiöse Bindung über konfessionelle Verpflichtungen hinaus und jenseits dieser. Vermittelt ist die generalisierende Verwendung des Religionsbegriffs in der werdenden Moderne durch das Erbe der theologia naturalis, mit deren Hilfe traditionellerweise die Besonderheit geoffenbarter Gotteserkenntnis auf die Allgemeinheit der Menschenvernunft bezogen wurde.
Indes verlief der begriffsgeschichtliche Prozess offenbar langsamer als die sachliche Entwicklung, die er terminologisch reflektiert. Das belegen die Bände II und III von Feils Religionsprojekt. Sie umfassen die Zeit von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Nicht nur in der Zeit zwischen 1540 und 1620 verläuft die Terminologiegeschichte des Religionsbegriffs den Ergebnissen Feils zufolge weitgehend kontinuierlich und in den Bahnen der Konvention. Auch im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts lässt sich bis ins 18. Jahrhundert hinein kein begrifflicher Umbruch verzeichnen. Religio wird weiterhin vor allem auf die sorgsame Verehrung Gottes gedeutet, wohingegen ein universalanthropologisch generalisiertes Verständnis im neuzeitspezifischen Sinne die seltene Ausnahme bleibt. An einer erstaunlichen Fülle von Belegen wird dies exemplifiziert. Eigens erwähnt sei nur noch, dass Feil den regionalen Entwicklungen in Frankreich und England besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das geschieht aus gutem Grund, weil das Konzept einer auf allgemeiner Menschenvernunft basierenden religio naturalis in Sonderheit mit Denkern dieser Länder in Verbindung gebracht wird, wobei dem durch konfessionspolitische Auseinandersetzungen besonders gezeichneten England eine Führungsrolle zukommt. Bemerkenswert ist vor allem die charakteristische Beschreibung, die Edward Lord Herbert von Cherbury dem transkonfessionellen Vernunftallgemeinen zuteil werden lässt, welches nach seinem Urteil den wesentlichen Inhalt natürlicher Religion vor aller Offenbarung ausmacht. Fünf „Notitiae communes circa Religionem“ werden eigens benannt: 1. Es gibt ein höchstes „Numen“. 2. Ihm gebührt Verehrung. 3. Wesentlicher Teil des „cultus divinus“ ist die Tugendübung. 4. Verfehlungen sind durch Reue und Umkehr zu büßen. 5. Aus Gottes Gerechtigkeit und Güte folgen zeitlicher und ewiger Lohn sowie zeitliche und ewige Strafe. Bleiben in der um Vermittlung bemühten gemäßigt rationalistischen Religionslehre John Lockes die kritischen Spitzen noch verdeckt, so treten sie im so genannten englischen Deismus offener zutage, auch wenn dessen Repräsentanten ihrerseits um Ausgleich in aller Regel durchaus bemüht waren. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang etwa ein Mann wie John Toland, dessen Hauptwerk von 1696 den programmatischen Titel trägt: „Christianity Not Mysterious.“ Das Christentum sollte frei und abgesehen von supranaturalen Wundern beziehungsweise wunderbaren Offenbarungen zu vernünftiger Darstellung kommen.
Den Standpunkt des ausgereiften Deismus repräsentiert sodann ein – in Religio IV abzuhandelnder – Mann wie Matthew Tindal mit seinem 1730 in London erstmals erschienenen unvollendeten Werk: „Christianity as Old as the Creation“. Auch diesem Titel lässt sich die Grundthese der ganzen Schrift unschwer entnehmen. Die Wahrheit des Christentums ist identisch mit der Ursprungsnatur der Vernunft, Offenbarung nichts anderes als aktuelle Manifestation natürlicher Religion, wie sie im Wesen der Vernunft gründet, als deren Ursprungsmythos, wenn man so will, der Schöpfungsgedanke fungiert.
Weil aber für Tindal der christliche Monotheismus als vernunftgemäß zu gelten hat, deutet er den Polytheismus ebenso wie alle anderen vernunftabweichenden Gehalte, wie sie sich in der geschichtlichen Entwicklung positiver Religion beziehungsweise positiver Religionen ausgebildet haben, als historischen Abfall von der uranfänglichen Vernunftwahrheit der Schöpfung. Die Grundmaxime lautet stets, dass eine Offenbarung und die ihr entsprechende positive Religion niemals durch einen formalen Autoritätsbeweis als göttlich erwiesen werden können, sondern nur durch ihren der Vernunft unmittelbar einleuchtenden Sachgehalt. Da dies nach seinem Urteil auch für das Christentum als positive Religion gilt, scheute Tindal sich nicht, dessen Wesensgehalt als grundsätzlich allen Vernunftbegabten zugänglich zu behaupten.
Deutsche Aufklärung unter christlichen Vorzeichen
War das lediglich in seinen Grundzügen umrissene neue Denken, wie es sich in der Ausbildung des Allgemeinbegriffs natürlicher Religion dokumentiert, anfangs eine vorrangig westeuropäische, namentlich englische Angelegenheit, so verschaffte es sich mit einer insbesondere durch die sozioökonomischen Folgelasten des Großen Krieges bedingten Verspätung auch in Deutschland Eingang. Kennzeichnend hierfür ist vor allem das Leibniz-Wolffsche System. Mit der Grundannahme, dass zwischen fides und ratio fundamentale Übereinstimmung herrsche, ein Widerspruch zwischen Offenbarungsaussagen und Vernunftwahrheiten mithin auszuschließen sei, bildete es die Basis der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die weithin christlich bestimmt blieb und mit der pietistischen Bewegung trotz mancher Spannungen eine differenzierte Einheit bildete, jedenfalls kaum je radikal religionskritische und christentumsfeindliche Gestalt annahm, wie das andernorts gelegentlich der Fall war. Für England ist in diesem Zusammenhang auf Einzelgestalten wie David Hume zu verweisen, der als kritischer Positivist die natürliche Religion und eine ihr entsprechende Theologie konsequent zu destruieren trachtete, für das vorrevolutionäre Frankreich auf die große Schar der Religions- und Kirchenkritiker, die sich im Kreis der „Enzyklopädisten“ sammelte und in Voltaire ihren bekanntesten Vertreter fand.
Im Unterschied hierzu schritt die Aufklärung in Deutschland mit zumeist christlichem Vorzeichen bedächtiger und unter weitgehender Wahrung von Traditionskontinuität fort. Folgt man den Untersuchungen Feils, der zu den meisten der hier nur gestreiften Sachverhalte reiche Belehrung bietet, dann gibt der Religionsbegriff selbst und aufs Ganze gesehen den besten Beleg ab für ein weit ins 18. Jahrhundert hineinreichendes Traditionskontinuum, sofern der Prozess seiner modernitätsspezifischen Bedeutungstransformation sehr zögerlich vonstatten ging. Bis zur Mitte des Aufklä rungssäkulums bezeichnete religio zumeist einen „modus colendi Deum“ (Wolff), um erst mit der beginnenden Sattelzeit, also um 1750 herum jene von der Tradition signifikant abweichende Bedeutung anzunehmen, die in den Religionsphilosophien Kants, Schleiermachers und Hegels vorausgesetzt ist. Das konvergiert mit der Beobachtung, dass das Lehnwort Religion erst um diese Zeit fester Bestandteil deutschen Sprachgebrauchs wurde. Mochten Länder wie Frankreich oder England schon früher zu einem modernen Verständnis von Religion gelangt sein: der Anspruch, vera religio sei allein die eigene Religion, wird nach Preisgabe der auf das Christentum beschränkten Verwendung des Begriffs auch dort nur in Ausnahmefällen aufgegeben. Wo aber von „religio naturalis“ gesprochen wird, wie erstmals bei Christophe de Cheffontaines und bei Jean Bodin, da geschieht dies anfangs durchaus nicht im Sinne einer Entgegensetzung zur „religio relevata“. Auch ist die inhaltliche Bedeutung der Wendung keineswegs klar festgelegt. Bei Tommaso Campanella etwa kann die religio naturalis im Unterschied zur religio animalis der Tierwelt, der religio rationalis des natürlichen Menschen sowie der religio supranaturalis, wie allein Gottes Gnade sie erschließt, die Gottesverehrung der unbelebten Kreatur bezeichnen. Wie auch immer: Es mussten hundert Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges vergehen, bis sich in den gebildeten Schichten Europas der modernitätsspezifische Begriff der Religion mit seinem Anspruch auf transkonfessionelle Vernünftigkeit und allgemeinmenschliche Geltung mehr oder minder fest etabliert hatte.
Wie es mit der Geschichte des fragwürdigen Begriffs, in Bezug auf den Fausts Gretchen ihren Heinrich in Verlegenheit brachte, zu Lebzeiten Goethes weiterging, wird man hoffentlich bald aus dem vierten und abschließenden Band des Feilschen Werkes erfahren. Kant wird dabei gewiss eine wichtige Rolle spielen. War das Verständnis der Religion vor der mit seinem Namen verbundenen Revolution der Denkungsart in aller Regel von der Gewissheit subjektivitätstranszendenter Realität der traditionellen Grundannahmen rationaler Metaphysik getragen, so stellte sich die religiöse Lage unter den Bedingungen kantscher Vernunftkritik erheblich anders dar, sofern die Überlieferungsbestände der Religion ihren Status als substanziale Vorgegebenheiten einbüßten.
Postmoderne Renaissance des Religionsbegriffs
Schleiermacher und Hegel geben dafür je in ihrer Art ein Beispiel, wobei die hegelsche These zu vollziehender Aufhebung religiöser Vorstellung in den philosophischen Begriff auf der Linken seiner Schule den Anlass gab, die Religion einer Fundamentalkritik zu unterziehen mit dem Ziel, sie als Epiphänomen zu erweisen und gänzlich zum Verschwinden zu bringen. Stellvertretend für die ganze Bewegung sei der Name Ludwig Feuerbachs genannt. Ihm zufolge ist die Wahrheit der Theologie die Anthropologie, da in der Religion kein Gott, sondern die Menschheit sich selbst vorstellig werde. In der – entscheidend von Karl Barth geprägten und unpassenderweise auch Dialektische Theologie genannten – Theologie der Krise, die seit Ende des Ersten Weltkrieges zu großem Einfluss gelangte, ist diese These aufgegriffen und namentlich gegen Schleiermacher gewendet worden, in dem man alle Übel der Religionstheologie des 19. Jahrhunderts versammelt fand. Als Möglichkeit des Menschen, so Barth ausdrücklich, sei Religion Unglaube, dem erst im Durchgang durch Gottes Gericht offenbare Rettung aufgrund der reinen Gnadengabe des Evangeliums zuteil werden könne. Einen positiven Anknüpfungsgrund für die Offenbarung biete das religiöse Bewusstsein nicht; vielmehr könne rechter Glaube erst aus dessen Radikalkrise erwachsen, welche identisch sei mit der Autonomiekrise des neuzeitlichen Menschen überhaupt. Theologische Religionskritik ist bei Barth also stets Neuzeitkritik, wodurch die modernitätsspezifische Bedeutung des Religionsbegriffs ex negativo noch einmal bestätigt wird. Epochemachend ist die Gretchenfrage also allemal, wie immer man sich zu ihr und ihrem Leitbegriff inhaltlich verhalten mag.
Feil selbst ist geneigt, sich Dietrich Bonhoeffers Diagnose eines religionslosen Christentums anzueignen. Die Zeit moderner Religion ist nach seinem Urteil in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu Ende gegangen. Diese These steht in einem gewissen Kontrast zu der Tatsache, dass der Religionsbegriff nachgerade in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts weit über die evangelische Theologie hinaus, wo er sich spätestens seit 1750 besonderer Beliebtheit erfreute, eine Renaissance erfahren hat. Das dürfte nach meiner Vermutung seine wesentliche Erklärung darin finden, dass nach einer Phase der Modernitätskrise und entsprechenden neuzeitkritischen Tendenzen das Bewusstsein des konstitutiven Zusammenhangs der Gegenwart mit der Moderne seit geraumer Zeit wieder im Wachsen begriffen ist. Feils These vom Ende neuzeitspezifischer Religion wäre unter diesem Gesichtspunkt im Kontext der Postmodernitätsdebatte einer genaueren systematischen Prüfung zu unterziehen. Wie immer diese ausfallen mag, das Recht des von ihm verfolgten Projekts einer Historisierung des Religionsbegriffs bleibt davon unbetroffen. Denn wie das Verhältnis der Gegenwart zur Moderne und ihren Prinzipien sinnvollerweise kein unmittelbares, sondern nur ein historisch reflektiertes sein kann, so lässt sich der für die Moderne charakteristische Begriff der Religion wenn überhaupt, so nur im Bewusstsein seiner geschichtlichen Genese und seines ursprünglichen historischen Sitzes im Leben aktuell angemessen verwenden.