Die wissenschaftliche Ausgangssituation formulierte Hans Günter Hockerts (München) eindeutig und unwidersprochen, gleichwohl für manche überraschend: „Religion ist relevant.“ Vor zwanzig Jahren beherrschten noch die Skeptiker das Feld. Die im Sinne Max Webers „religiös unmusikalischen“ Väter der Gesellschaftsgeschichte wie Hans Ulrich Wehler waren – in sich gegenseitig bestärkender Fehleinschätzung – davon ausgegangen, Religion nach der Aufklärung sei gesellschaftlich eine zunehmend irrelevante Kategorie, die mit ironisierenden Halbsätzen angemessen gewürdigt werde. Ausgerechnet die Generation ihrer eigenen Schüler entdeckte dann aber die Religionen als zentrale „Vergesellschaftungskerne“ neu und interessierte sich dabei insbesondere für das katholische Milieu, das von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil für immerhin ein Drittel der deutschen Gesellschaft die wesentlichen strukturellen Prägungen bereithielt. In dieser Ausgangssituation könnte es zu einer produktiven interdisziplinären Zusammenarbeit in der modernen Katholizismusforschung kommen, die aber in Deutschland – im Unterschied etwa zu Frankreich – tatsächlich nur eingeschränkt möglich ist. Zeitgleich zu der Annäherung profaner Disziplinen an die Katholizismusforschung haben sich nämlich die meisten Kirchenhistoriker an den Katholisch-Theologischen Fakultäten anderen Forschungen verschrieben und lassen das Feld der kirchlichen Zeitgeschichte unbeackert.
Ein geschichtspolitisches Dilemma kommt hinzu: Die deutsche Katholizismusforschung kann inzwischen eine Fülle von Spezialstudien und Überblicksdarstellungen vorweisen, stößt mit ihren Ergebnissen aber zunehmend an die Grenzen, die durch feststehende gesellschaftliche Vor-Urteile aufgerichtet werden. Daniel J. Goldhagens Anklageschrift: „Die katholische Kirche und der Holocaust“ – nach übereinstimmendem Urteil kein ernsthafter wissenschaftlicher Beitrag – ist nur ein aktuelles Beispiel dafür, daß wissenschaftliche Forschungserkenntnisse bei der Entstehung geschichtspolitisch induzierter Geschichtsbilder nur eine marginale Rolle spielen.
Spezialstudien kommen schwer gegen gesellschaftliche Vorurteile an
Für die Zeitgeschichtsforschung bedeutet dieser neue Trend jedenfalls die ungewöhnliche Herausforderung, sich in geschichtspolitische Auseinandersetzungen einzumischen, obwohl sie weiß, daß ihre Ergebnisse viele nur noch am Rande interessieren. Wenn nämlich das Geschichtsbild einer breiten Öffentlichkeit von einem fiktionalen Text stärker geprägt wird als von den Ergebnissen jahrzehntelanger akribischer wissenschaftlicher Arbeit, dann steht die Forschung offenbar vor einem Vermittlungsproblem, das nicht durch Medienschelte zu lösen ist. Sie muß selbst die schwierige Aufgabe angehen, eine Form der Popularisierung ihrer Ergebnisse zu finden, die einerseits den Rezeptionsgewohnheiten einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft entspricht und andererseits komplexe Sachverhalte nicht bis zur Verfälschung vereinfacht. Die inzwischen vierzigjährige Wirkungsgeschichte des Dramas „Der Stellvertreter“ (Rolf Hochhuth) ist ein schlagender Beweis dafür, wie erfolglos die Wissenschaft mit dem Versuch geblieben ist, aus der Defensive mit Editionen und wissenschaftlichen Abhandlungen eine wirkungsvolle Antwort auf moralische Anschuldigungen zu formulieren. Die Diskussion über die Zwangsarbeiter in Einrichtungen der katholischen Kirche, die Auseinandersetzungen um die Stasiverstrickungen und die Veranstaltungen auf der Lesereise von Daniel J. Goldhagen haben dies erneut bestätigt. Die Katholizismusforschung hat den Fehdehandschuh aufgenommen. Es gibt zu diesem Engagement der Forscher für die Vermittlung ihrer Ergebnisse auch keine Alternative. Zeitgeschichte ist unausweichlich Streitgeschichte. Dabei sind es nicht nur die Wissenschaftler, die Einfluß auf die Berichterstattung der Medien nehmen, die Medien können auch umgekehrt Impulse für die Forschung liefern. Ein Beispiel: Mitten in der Debatte um die Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter in der Industrie sah sich in der Monitor-Sendung vom 20. Juli 2000 plötzlich auch die katholische Kirche auf die Anklagebank gesetzt und mit dem Vorwurf konfrontiert, ebenfalls Zwangsarbeiter beschäftigt zu haben. In der Katholizismusforschung hatte sich bis dato noch niemand um Zwangsarbeiter in katholischen Einrichtungen gekümmert, ebensowenig hatten andere Historiker, die sich mit Fremdarbeitern befaßten, daran gedacht, Klöster und katholische Krankenhäuser in ihre Untersuchungen einzubeziehen. Die Vorwürfe trafen die Katholizismusforschung deshalb völlig unvorbereitet und machten erneut deutlich, dass – dem Umfang der vorliegenden Forschungsliteratur zum Trotz – das Thema „Kirche und Katholiken im Dritten Reich“ noch keineswegs erschöpfend erforscht ist. Begreift man mit „Katholizismus“ das gesellschaftlich und politisch organisierte Handeln der Katholiken, und zwar des Klerus wie der Laien, so rücken vornehmlich die letzten 150 Jahre in den Blick. Die tiefen Einschnitte, welche die Jahre 1870/71, 1914/18, 1933/45 und 1989 in der allgemeinen deutschen Geschichte hinterlassen haben, bestimmen Blickwinkel und Themenspektren auch der Katholizismusforschung: Nation und Kaiserreich, die beiden Weltkriege, die zwei deutschen Diktaturen und ihre demokratischen Gegenentwürfe von Weimar und Bonn sowie der Prozess der europäischen Einigung. Die Frage nach dem Verhältnis von politischem Katholizismus und moderner Demokratie – am Beispiel der Zentrumspartei 1930 bis 1933 – bildete 1962/63 den entscheidenden Impuls für die Gründung der „Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern“. Die Provokation durch Hochhuths Drama kam erst danach. Die Initiative zur Gründung der Kommission ging damals von dem Direktor der Akademie, dem späteren Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Prälat Karl Forster, und zwei jungen Historikern aus, dem damals 35jährigen Rudolf Morsey und dem 40jährigen Konrad Repgen. Die Münchner Tagung Ende Mai 2003 wurde jetzt zu Ehren dieser beiden bedeutenden Katholizismusforscher veranstaltet. Es ging gleichwohl nicht um einen zufriedenen Rückblick auf ein beeindruckendes Lebenswerk. Vor dem Hintergrund der geschichtspolitischen und medialen Herausforderungen standen vielmehr die kritische Sichtung der Ergebnisse, die Thematisierung der Versäumnisse und auf dieser Grundlage ein Ausblick auf künftige Themen- und Aufgabenfelder im Zentrum.
Wohin steuert die Katholizismusforschung? Die noch „qualmende Zeitgeschichte“ hält mindestens drei brisante, zum Teil schon seit den sechziger Jahren umstrittene Themenfelder bereit: „Katholizismus und Antisemitismus“, „NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg“ sowie „Demokratie und Diktatur nach 1945“. Die ungelöste Frage nach dem Ob und Wie eines unter Katholiken verbreiteten Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert gehört zu den Dauerbrennern in den Debatten um die kirchliche Zeitgeschichte. Es geht dabei um die Frage, inwiefern der mörderische Haß der Nationalsozialisten gegen die Juden auch bei Katholiken auf fruchtbaren Boden fiel und in welchem Maße die Katholiken deshalb Mitverantwortung für den Holocaust tragen. Die Kontroverse leidet unter einer häufig polemischen Simplifizierung eines komplexen Sachverhalts und der synonymen Verwendung so unterschiedlicher Begriffe wie Antisemitismus, Antijudaismus und Rassismus. Wer religiös motivierten christlichen Antijudaismus mit einem auf Rassismus beruhenden und auf Ausrottung zielenden Antisemitismus gleichsetzt, der droht zu übersehen, „wo der eigentliche Gegner steht“ (Michael Hochgeschwender, Tübingen).
Die Kontroverse um Pius XII.
Auch wenn der in der katholischen Kirche theologisch verwurzelte Antijudaismus nicht unmittelbar nach Auschwitz führte, hat er die innere Geschlossenheit des katholischen Milieus gestärkt und zu einer auch unter Katholiken verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden beigetragen. Die Gründe für dieses Desinteresse sind aber auf einer anderen Ebene zu suchen als die Motive für einen rassistisch geprägten Antisemitismus (Wolfgang Altgeld, Würzburg). Das Verhältnis zwischen Katholiken und Juden im Dritten Reich, darin sind sich die meisten Historiker inzwischen einig, war ambivalent. Die nähere Bestimmung der tatsächlichen Grauzone zwischen Judenhass und Nächstenliebe, in der sich die Katholiken bewegten, wird von zukünftigen Forschungen aber noch geleistet werden müssen. Zu welchen absurden Schlussfolgerungen die Verwechslung der Begriffe Antisemitismus und Antijudaismus führen kann, zeigte zuletzt der Vorschlag Goldhagens, die katholische Kirche könnte das Problem des Antisemitismus durch eine Neuformulierung von Versen des Neuen Testaments lösen helfen, über die Vertreter aller christlichen Kirchen dann abstimmen sollten.
In engem Zusammenhang mit der Debatte um die Haltung der Katholiken gegenüber den Juden im Dritten Reich steht die Kontroverse um Papst Pius XII. Das strahlende Bild, das nach dem Krieg zunächst Christen wie auch Juden vom Verhalten dieses Papstes während des Dritten Reiches zeichneten, wurde 1963 durch Hochhuth geradezu in sein Gegenteil verkehrt: Auf der Theaterbühne geriet Pius XII. zum Kollaborateur der Nationalsozialisten. Die Gegensätze in den Positionen hätten größer nicht sein können, und beide Standpunkte finden bis heute Anhänger. Das Spektrum der Urteile reicht von „Hitler’s Pope“ (John Cornwell, 1999) bis zu „Il Papa degli Ebrei“ („Der Papst der Juden“, Andrea Tornielli, 2001). Die Diskussion schien festgefahren und drohte sich im ritualisierten Austausch immer gleicher Argumente zu erschöpfen. Die zunehmende Verengung der Untersuchung der Rolle des Vatikans im Zweiten Weltkrieg auf die Perspektive des Verhältnisses zwischen der Kirche und den Juden führte die Debatte zusätzlich in eine Sackgasse.
Neue Impulse vermag die Forschung jetzt aus einer Erweiterung des Blickwinkels über die Person Pius’ XII. hinaus und aus einer international vergleichenden Perspektive zu gewinnen. Hierzu gehört eine Betrachtung des Verhaltens der Kirche und ihrer Vertreter auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie ebenso wie die Vergewisserung über den Wertmaßstab, an dem der Papst gemessen werden soll: Betrachtet man ihn in erster Linie als obersten Schutzherrn der Katholiken in aller Welt? Als Diplomaten auf gleicher Augenhöhe mit den Regierungen fremder Staaten oder gar als personifiziertes Weltgewissen? In Abhängigkeit davon und von der Frage, wie Pius XII. sich selbst in diesem Spektrum positionierte, wird sein Verhalten unterschiedlich beurteilt werden. Die Beantwortung dieser Fragen ist aber nur durch eine sowohl interdisziplinäre als auch internationale Kooperation möglich. Unverzichtbar ist dabei vor allem eine wieder verstärkte Zusammenarbeit mit Vertretern der Kirchengeschichte, die die nötigen theologischen Kenntnisse mitbringen, um interne Debatten zu verstehen. Dringend notwendig ist aber auch eine Erweiterung des Blickwinkels auf eine internationale, zumindest europäische Perspektive, die nur durch Kooperation mit Historikern anderer Länder zu erreichen ist (Thomas Brechenmacher, Rom).
Die Frage nach den Perspektiven und Schwachstellen der Katholizismusforschung 1933 bis 1945 führt unmittelbar zu der Frage nach den zur Verfügung stehenden Quellen und nach den geltenden Rahmenbedingungen. Umfangreiche neue Möglichkeiten eröffneten die seit Februar 2003 zugänglichen vatikanischen Aktenbestände, mit deren Auswertung bereits intensiv begonnen wurde. Bis zum Jahr 1939 stehen Akten aus dem vatikanischen Staatssekretariat, aus den Nuntiaturen in München und Berlin und aus dem Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre jetzt offen und ermöglichen neue Einblicke in das umstrittene Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem nationalsozialistischen Deutschland. In München steht seit rund einem Jahr der vorbildlich aufbereitete Nachlass Kardinal Faulhabers zur Verfügung, in Rom hat eine Kommission die Auswertung des Nachlasses des einflussreichen und umstrittenen österreichischen Bischofs Alois Hudal begonnen. Auch wenn dabei keine sensationellen Neuentdeckungen gemacht werden sollten, die die bisherigen Forschungsergebnisse auf den Kopf stellen, werden mit Hilfe der neuen Quellen interne Entscheidungsfindungen, Arbeitsabläufe und Zusammenhänge im Detail klarer, bisherige Erkenntnisse können abgesichert oder nuanciert werden. Gleichwohl sind Überraschungen nicht ausgeschlossen. Nuntius Cesare Orsenigo etwa, in dem bisherigen Zitationskartell eine eher schwächliche Figur, die als Nuntius hauptsächlich deshalb nicht abberufen worden sein soll, weil der Vatikan befürchtete, den diplomatischen Posten nicht neu besetzen zu dürfen, erscheint im Licht seiner Nuntiaturberichte als ein überlegter, hellsichtiger Analytiker mit einer überraschenden Treffsicherheit im politischen Urteil.
Der Wunsch nach Zugang zu weiteren Akten
Die Akten aus der Pontifikatszeit Pius’ XII. (1939–1958) liegen allerdings nach wie vor unter Verschluß. Über Eugenio Pacelli, den späteren Pius XII., geben die neu zugänglichen Bestände nur in Bezug auf seine Zeit als Nuntius in München und Berlin und als Kardinalstaatssekretär Auskunft. Die Öffnung weiterer Aktenbestände voraussichtlich 2006 ist nicht nur aus einem spezifisch wissenschaftlichen Interesse heraus wünschenswert, sondern auch im Sinne der Transparenz im Umgang mit der kirchlichen Vergangenheit. Noch herrscht in der Öffentlichkeit weitgehend das Verständnis vor: „Wer etwas verbirgt, der hat etwas zu verbergen“ (Magnus Brechtken, Nottingham). Gegen bewußte Ignoranz und Voreingenommenheit wird zwar selbst eine vollständige Öffnung aller Archive nichts ausrichten können. Kritiker werden selbst dann noch den kaum widerlegbaren Vorwurf erheben, die Aktenbestände seien vor der Öffnung „gesäubert“ worden. Dennoch muß die Wissenschaft ihre Aufgabe und ihre Möglichkeit darin sehen, „dafür zu sorgen, dass jeder, der es besser wissen will, es auch besser wissen kann“ (Hans-Günter Hockerts).
Der Wunsch nach freiem Zugang zu weiteren Akten ist berechtigt. Es wäre aber eine Selbsttäuschung, die Defizite bisheriger Forschungen allein aus der schwierigen Situation in den vatikanischen Archiven zu erklären. Erstens liegen Akten über die katholische Kirche nicht nur im Vatikan. Vielmehr lagern auch in zahlreichen europäischen, amerikanischen und israelischen Archiven Unterlagen, die die Rolle des Papstes in Bezug auf den 2. Weltkrieg und den Holocaust aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten vermögen. Insbesondere die ost- und südosteuropäischen Aktenbestände sind noch nicht annähernd vollständig ausgewertet. Und: Für die vatikanischen Akten gibt es schon seit den sechziger Jahren eine von Paul VI. veranlasste Ausnahmeregelung: 1965 erschien der erste Band einer schließlich 11 Bände umfassenden Edition der „Actes et documents du Saint-Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale“, die repräsentativ ausgewählte Aktenstücke aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs enthalten. Drei Jesuitenpatres war damals Zugang zu den Akten gewährt worden. Diese Quellenbände werden ergänzt durch umfangreiche Editionen, die die Kommission für Zeitgeschichte seit den sechziger Jahren herausgibt. Offensichtlich hat die bereitgestellte Fülle von Informationen über die verschiedensten Aspekte des kirchlichen Lebens in Deutschland und der Beziehungen zwischen den deutschen Bischöfen und dem Vatikan oft eher eine abschreckende als eine einladende Wirkung entfaltet. Neben dem riesigen Umfang des Quellenmaterials ist es dabei offenbar auch die sprachliche Hürde, die Historiker von der umfassenden Rezeption dieser Akten bisher abgehalten hat. Ein großer Teil der „Actes et documents“ ist auf Englisch, Französisch, Italienisch und auch Lateinisch abgefaßt und für viele Forscher damit nicht mehr ohne weiteres verständlich.
An mangelnden Sprachkenntnissen krankt auch die prinzipiell überall erwünschte Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit in der Katholizismusforschung. Viele Neuerscheinungen der letzten Jahre – vor allem auf dem amerikanischen Büchermarkt – ignorieren die deutsche Forschungsliteratur und geben Ergebnisse als neu aus, die schon vor Jahren in deutscher Sprache nachzulesen waren. Umgekehrt gibt es nicht einmal Übersetzungen deutscher Standardwerke, mit dem paradoxen Ergebnis, dass z. B. die Kontroverse um das Reichskonkordat (Scholder/Repgen) in den USA anders bilanziert wird als in der deutschen Literatur. Klaus Scholders Beiträge sind nämlich ins Englische übersetzt, Konrad Repgens Schriften nicht. An diesem Punkt besteht ein erheblicher Nachholbedarf.
Seit Sommer 2000 zogen – provoziert von Klaus Bednarz’ mangelhaften Recherchen – in allen deutschen Bistümern Wissenschaftler im Auftrage der Bischofskonferenz aus, um nach Zwangsarbeitern in kirchlichen Einrichtungen zu fahnden, und sie stießen dabei auf viele weitere noch ungeklärte Fragen, die mit der Geschichte der beiden christlichen Kirchen im Krieg zusammenhängen. Nur eine davon ist die Frage nach der Fremdnutzung kirchlicher Einrichtungen, die mit dem Problem der moralischen Beurteilung und auch der Entschädigung der Zwangsarbeiter in diesen Institutionen unmittelbar zusammenhängt (Annette Huth, Bonn). Die Erforschung der Geschichte der Christen in der zweiten Hälfte der „bewußten zwölf Jahre“ hat begonnen und wird einen Schwerpunkt nicht nur der zukünftigen Katholizismusforschung, sondern auch konfessionsübergreifender Untersuchungen bilden. Die Debatte um die Zwangsarbeiter, die die Katholizismusforschung so unvorbereitet traf, macht außerdem deutlich, dass die Aufgaben der Wissenschaft nicht nur in der längerfristig angelegten Grundlagenforschung bestehen, sondern auch im Umgang mit aktuellen Herausforderungen. Sie muß sich fragen, ob möglicherweise noch mehr „Zeitbomben“ nach Art der Zwangsarbeiter ticken, wie sie diese im Vorfeld entschärfen kann, und Strategien der gesellschaftlichen Kommunikation und der Schadensbegrenzung entwickeln, falls eine dieser Bomben doch explodieren sollte. Mitte der achtziger Jahre schien es so, als sei die Geschichte der katholischen Kirche im Nationalsozialismus erschöpfend untersucht. Der bundesdeutsche Nachkriegskatholizismus rückte vermehrt in den Blick. Doch seine Erforschung wurde von der „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ mit einer auf Kirche, Papst und Holocaust enggeführten Perspektive und den mit der entstehenden Gedenkkultur verbundenen historischen Kontroversen wieder eingeholt. Mit der historischen Zäsur des Jahres 1989/90 und dem Untergang der sozialistischen Diktatur stand deren Erforschung aber ebenso unvermittelt wie zwangsläufig ganz oben auf der Tagesordnung. Die heftigen öffentlichen Debatten um das dunkle Erbe der Staatssicherheit, das politisch geförderte Interesse an einem wissenschaftlich fundierten, demokratisch legitimierten Geschichtsbild (zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages) und die damit einhergehende fast uneingeschränkte Öffnung vorher verschlossener Archive ließen die bis dahin weitgehend unbekannte Vergangenheit der marginalisierten Diasporakirche in der DDR zu einem zentralen Thema der Katholizismusforschung werden.
Der Nachholbedarf war in der Tat beträchtlich und ging weit über Nachforschungen nach den diffamierten „Verrätern im schwarzen Rock“ und ihren Kontakten zum MfS hinaus. Die zahlreichen Dokumentations- und Forschungsarbeiten erreichten binnen zehn Jahren eine beträchtliche Dichte, so dass nicht zu Unrecht behauptet werden kann, die Geschichte der kleinen Diasporakirche sei mittlerweile besser erforscht als jene ihrer großen westdeutschen Schwester. Eine Forschungsbilanz ergibt folgendes Bild: Der lange dominierende Eindruck von einer politisch abstinenten, weil weltanschaulich und konfessionell marginalisierten Diasporakirche in der DDR ist nicht ganz falsch. In der Tat distanzierte sich die katholische Kirche grundsätzlich und entschieden von politischen Instrumentalisierungsversuchen durch das SED-Regime. Jedoch veränderten sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und die damit verbundenen kirchlichen Positionsbestimmungen: Vom öffentlichen Protest gegen den diktatorischen „Kirchenkampf“ der fünfziger Jahre über den auf Bewahrung zielenden „modus vivendi“ der sechziger/siebziger Jahre bis zu veränderten innerkirchlichen Standortbestimmungen in der sozialistischen Gesellschaft, die neue Differenzen mit dem SED-Staat heraufbeschworen. Innerhalb dieses macht- und gesellschaftspolitischen Rahmens bildete sich eine eigene Identität der „katholischen Kirche in der DDR“ heraus, die allerdings mit der „Kirche im Sozialismus“ nichts gemein hatte (Christoph Kösters, Bonn).
Jenseits der Kirchenpolitik richtet sich das Interesse künftig auf binnenkirchliche Prozesse, die Bedeutung von Konzil, Pastoralsynode und ökumenischem Dialog beispielsweise und deren Relevanz für den Umbruch 1989/90, mehr aber noch auf die politische Sozial- und Kulturgeschichte der „katholischen Gegengesellschaft“, auf ihre Eliten und den Beitrag des Katholizismus in Ost und West beim Kampf um die Deutung im „Kalten Krieg“ wie in der Phase der Entspannung. Bedeutsam für die künftige Katholizismusforschung sind überdies erste Beobachtungen über einen mit dem eingeschränkten konziliaren Rezeptionsprozeß zusammentreffenden mentalen Wandel unter den Diasporakatholiken in der DDR. Die Kirchenbindung erodierte, die lebensprägenden kirchlichen Leitbilder wurden diffuser, die jungen Eliten, so sie nicht in den Westen geflohen waren, drängten im Zuge des Konzils – letztlich vergeblich – auf innerkirchliche Veränderungen. Unter der Oberfläche der „unmodernen“ DDR-Gesellschaft vollzogen sich – mit entsprechender zeitlicher Verzögerung – ähnliche Prozesse wie in der Bundesrepublik. Hans-Joachim Meyer (Berlin) meldete deutliche Zweifel an, ob sich diese scheinbar ähnlichen Entwicklungen mit den von der Religionssoziologie vorgeschlagenen Begriffen „Verkirchlichung“ und „Transformation“ analysieren lassen. Der Prozeß der Ver(amts-)kirchlichung in der DDR sei doch ganz anders verlaufen als in Westdeutschland, die Konzentration auf Amt und Parochialkatholizismus habe eine eigene Tradition. Eine Transformation des Katholizismus im Sinne eines Gestaltwandels sei erst 1989/90 mit der Wiedervereinigung erfolgt.
Auf dem Weg zu einer „Kulturgeschichte des Katholizismus“
Unbeschadet solcher methodischer Zweifel rückt – ergänzt um die deutsch-deutsche Perspektive – die Geschichte des Katholizismus in der pluralistischen (bundes-)deutschen Gesellschaft in den Mittelpunkt künftiger Forschungsaktivitäten. Was kommt nach dem zwischen 1850 und 1950 vermeintlich so geschlossenen „katholischen Milieu“? lautet die zentrale Frage. Für die Bundesrepublik wie für die DDR ist gleichermaßen festzustellen, daß sich das katholische Milieu nicht auflöst, sondern wandelt. „Nicht Auflösung, sondern Transformation ist die heuristische Leitformel für die Katholizismusforschung“, so Michael Ebertz (Freiburg). Allerdings sind die Befunde der Religionssoziologie noch historisch zu überprüfen und mit der politischen Erfolgsgeschichte von den „Katholiken als den eigentlichen Entdeckern der Bundesrepublik“ (Gerhard Schmidtchen) zu vermitteln. Die langen sechziger Jahre mit ihrer bis in die fünfziger zurückreichenden „Sattelzeit“ (Karl Gabriel), dem binnenkirchlichen konziliaren Auf- und Umbruchsprozeß sowie den aufbrechenden Geschlechter- bzw. Generationenkonflikten und den mit ihnen einhergehenden gesellschaftspolitischen Polarisierungen sind dazu ein entscheidendes Forschungslaboratorium (Wilhelm Damberg, Bochum). Allerdings bedarf es hierzu eines entsprechenden Quellenfundaments und eines geschärften begrifflichen Instrumentariums, zunächst des Katholizismusbegriffs, aber auch des Verständnisses von „Verkirchlichung“, „Milieu“ und „Transformation“ (Antonius Liedhegener, Jena), um die Resultate interdisziplinär und im interkonfessionellen Vergleich (Martin Greschat, Münster) rezipieren zu können. Das von der Kommission für Zeitgeschichte über die NS-Zeit hinaus weitergeführte Grundlagenforschungsprojekt „Akten deutscher Bischöfe seit 1945“ leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
Im internationalen Diskurs zeichnet sich seit längerem eine religionsgeschichtliche Wende („cultural turn“) ab. Die Erweiterung der Katholizismusforschung zu einer „Kulturgeschichte des Katholizismus“ bildet eine der bedeutenden künftigen Herausforderungen. In Form eines „kleinen Plädoyers für eine Kulturgeschichte des Katholizismus“ sind mit Urs Altermatt (Fribourg) zehn Themen zu benennen, die methodisch die Vorschläge zu einer Interdisziplinarität von Historie, Theologie, Soziologie und Kulturwissenschaften aufnehmen und auf europaweit vergleichend angelegte Forschungen hinauslaufen: Differenzierung und Präzisierung des „katholischen Milieus“ (regionale Minderheits- /Mehrheitskatholizismen), insbesondere Einbeziehung der Generationen als Träger kollektiver Erinnerung und des Geschlechts als historischer Kategorie (Gender-Studies); Analyse von Netzwerken, verstanden als Teilmilieus bzw. als Netzwerke von Organisationen, Zeitungen, Zeitschriften etc.; im Rahmen einer „nouvelle histoire politique“ (Was ist der Beitrag der Katholiken zu einer europäischen Kultur?) Forschungen zum Grundkonflikt zwischen Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert, sowie zur Bedeutung von Kirche, Papsttum und europäischen Katholizismen. Dazu kommen: Die Rolle der katholischen Eliten im internationalen Kommunikationsnetz der Intellektuellen; der Katholizismus im Beziehungsgeflecht anderer Konfessionskulturen und anderer Sozialmilieus (Selbst- und Fremdbeschreibungen, Feindbilder); das (Spannungs-)Verhältnis Konfession und Nation im Zeitalter der europäischen Nationalstaaten; die Transformation von Religion in den sechziger Jahren und die Rückkehr der Religion, insbesondere die Geschichte des Zweiten Vaticanums als Ausdruck und Beschleuniger innerkirchlichen Wandels; der Katholizismus als Dienstleistungsorgan (z. B. Caritasverband); die Analyse zivilreligiöser Tendenzen und die Rolle der Kirchen (z. B. Diskurs Sonntagskultur); der Stellenwert von Religion und Kirche im neuen Europa (Trennt oder vereinigt der religiöse Faktor im einigen Europa?).
Über solche übergreifenden thematischen Fragestellungen hinaus wird man für die künftige Katholizismusforschung festhalten dürfen, daß es zur intensiven Grundlagenforschung keine Alternative gibt: „Quellen sind und bleiben das A und O. Nur auf ihrer Grundlage kann die Überprüfung und Einordnung von Geschichtsbildern und Geschichtspolitik der Gegenwart erfolgen. Die mediale Wirklichkeit einer pluralen Gesellschaft konfrontiert dieses heuristische Wissenschaftsverständnis mehr denn je mit Fragen der öffentlichen Rezeption der erhobenen Befunde und Ergebnisse. Darüber wäre neu nachzudenken“ (Ulrich von Hehl, Leipzig).