Die islamischen Kopftücher mögen in Deutschland und Frankreich in etwa die gleichen sein. Der politische Streit, den sie diesseits und jenseits des Rheins entfachen, ist es nicht. Der entscheidende Unterschied ist nicht, dass es in Deutschland um Lehrerinnen und nicht um Schülerinnen wie in Frankreich geht. Auch nicht, dass die potenziellen Kopftuchträgerinnen in unserem westlichen Nachbarland öfter über die Staatsbürgerschaft des Landes verfügen, als dies hierzulande der Fall ist. Den entscheidenden Unterschied macht das laizistische, das heißt das auf scharfe Staat-Kirche-Trennung Wert legende Umfeld des Themas aus. Anfang Januar legte das Pariser Bildungsministerium unter der Leitung von Luc Ferry einen Gesetzentwurf vor, der nur aus wenigen Artikeln besteht und in seinem Kern bestimmt: „In den öffentlichen Schulen, Kollegien und Gymnasien sind Zeichen und Bekleidung verboten, die in aufdringlicher Weise die religiöse Zugehörigkeit der Schüler zum Ausdruck bringt.“ In der sich dem Gesetzentwurf anschließenden Begründung wird näher bestimmt, was darunter nach dem Willen der Autoren zu verstehen ist: „Aufdringliche religiöse Zeichen“ sollen sein: „der islamische Schleier (...), die Kippa oder ein Kreuz von offenkundig exzessiven Ausmaßen“. „Diskrete“ Zeichen religiöser Zugehörigkeit sollen demnach „natürlich“ weiter möglich sein.
Vorausgegangen war diesem Schritt zunächst die Einberufung einer Kommission unter der Leitung des Politikers Bernard Stasi durch Staatspräsident Jacques Chirac. Der im Dezember abgelieferte Bericht (Auszüge in: „La Croix“, 12.12.03) beschränkt sich dabei nicht auf die Kopftuchfrage, sondern setzt breiter an. Er beginnt mit einer Bekräftigung der Prinzipien der Laizität, regt aber die Ausarbeitung einer „Charta der Laizität“ als grundlegenden normativen Text in dieser Frage an.
Hingewiesen wird auch auf die Tatsache, dass von dieser Debatte längst nicht nur die Schule betroffen sei, sondern verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Diskussion war in den letzten Monaten vielfach geprägt durch ähnliche Auseinandersetzungen im Gesundheitswesen, bei den öffentlichen Bädern und anderem, etwa wenn muslimische Frauen verlangten, von Ärztinnen und nicht von Ärzten behandelt zu werden. In Bezug auf die Schule empfahl der Bericht das Verbot von Kleidung und Zeichen, sofern sie eine „religiöse oder politische Zugehörigkeit“ zum Ausdruck bringen. „Diskrete“ Zeichen werden allerdings auch hier ausgenommen. Der Bericht weist ausdrücklich darauf hin, dass die bei der Abstimmung anwesenden Mitglieder dieser Position einstimmig bei einer Enthaltung zugestimmt hätten. Außerdem sprach sich die Kommission für die Einstellung von islamischen Gefängnisseelsorgern aus sowie für die Schaffung einer wissenschaftlichen Einrichtung zur Erforschung des Islam („École nationale d’études islamiques“) aus.
Das stärkste Echo erhielt der Vorschlag, je einen muslimischen und jüdischen Feiertag an Schulen als staatlichen Feiertag anzuerkennen. An der Tatsache, dass die staatlichen Feiertage zumeist katholische Feste betreffen, solle zwar nicht gerüttelt werden. Aber die spirituelle Landschaft habe sich in den letzten 100 Jahren verändert. Dem sei Rechnung zu tragen. Manche lasen diesen Vorschlag als „Kompensation“ der Empfehlung zum Verbot des Kopftuchs. Seine eigene Brisanz erhält der Vorschlag zur Schaffung zweier nichtchristlicher Feiertage obendrein auf Grund der Tatsache, dass gerade jetzt der Pfingstmontag als staatlicher Feiertag abgeschafft wurde, bei eher begrenztem Widerspruch von kirchlicher Seite. Die Begründung für die Abschaffung ähnelt derjenigen bei der Abschaffung des Buß- und Bettags als staatlichem Feiertag in Deutschland: zur Finanzierung sozialpolitischer Aufgaben.
Kirchen mahnen zu Vorsicht
Wenige Tage nach der Bekanntgabe des Kommissionsberichts und noch vor Weihnachten meldete sich Präsident Chirac zu Wort. An den Vorschlägen von Bernard Stasi orientierte er sich dabei nur teilweise. Seine Rede kennzeichnet insgesamt das Bemühen, die einende Stärke des republikanischen Staates à la française zu betonen. Die Republik werde sich allem widersetzen, was trenne, einschränke und ausschließe, so Chirac. Bei der Charakterisierung der Schule griff er auf eine Sprache zurück, die sich nur im laizistisch-republikanischen Kontext Frankreichs versteht: Er bezeichnete sie als „republikanisches Heiligtum“, das es zu verteidigen gelte, sprach sich aber auch für „fait religieux“ (Information über Religion) in der Schule aus. Der Schaffung nichtchristlicher Feiertage stimmte Chirac nicht zu, dagegen der Erarbeitung eines „Code de la laicité“. Es war eine politische Rede, die auch deutlich der Stimmung im Lande Tribut zollte.
Noch vor der Bekanntgabe des Berichts der Kommission Stasi hatten sich die Kirchen in einer Erklärung zum Thema geäußert (Wortlaut in: „La Croix“, 9.12.03). Zentrale Aussage ist, man könne die aktuellen Probleme nicht durch die Schaffung von neuen Gesetzen lösen. Dies zielte klar gegen ein mögliches Verbot religiöser Zeichen unter bestimmten Umständen.
Die drei Kopräsidenten des Rates christlicher Kirchen in Frankreich gaben zu bedenken, ob man sich in dieser Angelegenheit nicht Zeit lassen solle. Jedes Gesetz, das von einer bestimmten Anzahl von Franzosen als diskriminierend verstanden werde, laufe Gefahr, Konsequenzen heraufzubeschwören, die verheerender sein könnten als die Vorteile, die man sich davon verspreche. Bei aller Bedeutung, die die Debatte für die Laizität besitze, bestehe die eigentliche Herausforderung doch im Gelingen der Integration. Hinter dem Stichwort „Integration“ steht in diesem Zusammenhang die verbreitete Befürchtung, ein Verbot religiöser Zeichen wie des Kopftuchs könnte die Schülerinnen erst recht in die Arme der Integralisten treiben, die Existenz von Parallelgesellschaften also eher begünstigen als schwächen.
Kennzeichnend für den Zeitpunkt der Debatte war, dass die Kirchen in ihrer Erklärung ausführlich ihr Verhältnis zur Trennung von Staat und Kirche skizzieren. Ohne die einstige erklärte Gegnerschaft gerade der katholischen Kirche gegen das Trennungsgesetz von 1905 zu verschweigen, brachten die beteiligten Kirchen ihre „tiefe Zustimmung“ gegenüber dem allgemeinen Verständnis von Laizität zum Ausdruck. Wenn die Republik nach diesem Gesetz auch keine Religion in einem rechtlichen Sinn „anerkenne“, so garantiere sie den Religionsgemeinschaften doch eine „große Freiheit“ bei der Organisation der eigenen Belange. Die Aufgabe der französischen Auffassung von Laizität bestehe jedenfalls nicht darin, Räume ohne Religion herzustellen. Es müsse vielmehr um einen Raum gehen, in dem Gläubige und Nichtgläubige einander begegnen und sich miteinander auseinander setzen könnten. Und die Kirchenvertreter fragten an, ob die Schule nicht der geeignete Ort dafür sei, eine solche Debatte einzuüben. Die notwendige schulische Befassung mit dem, was die französische Debatte „fait religieux“ nennt, erinnere daran, dass man dieses Thema nicht außerhalb der Schule belassen solle, sondern der Unterricht dazu beitragen könne, sich besser kennen zu lernen. Damit machten sich die Kirchen dieses seit Monaten in Frankreich diskutierte Thema zu Eigen (vgl. HK, November 2003, 547 f).
Gesetz gegen die Integration?
Zur Betonung der positiven Errungenschaft der französischen Spielart von „Laizität“ durch die Kirchen passte auch, dass diese sich nach der späteren Chirac-Rede mit Widerspruch auffallend bedeckt hielten. Gerade auch die katholische Kirche möchte offenbar ein Jahr vor dem 100. Jahrestag des Trennungsgesetzes von 1905 nicht in einen offenen und nachhaltigen Gegensatz zur politischen Führung geraten, mit der man erst seit wenigen Jahren zu einem Modus vivendi des Dialogs gekommen ist. Ob der Gesetzentwurf von Ferry in seiner jetzigen Form Aussicht auf Annahme hat, bleibt abzuwarten. Erste Reaktionen zeigten nicht nur die aus der Diskussion bereits bekannten Vorbehalte und Einwände. Erhebliche Fragen bestehen in verschiedenen politischen Lagern und in den Kirchen an die verwendete Begrifflichkeit. Handelt es sich beim islamischen Kopftuch vor allem um ein religiöses oder um ein politisches Zeichen? Kommt es zu der gefährdenden Qualität dieses Symbols nicht gerade wegen der Vermischung dieser beiden Ebenen?
Lassen sich „aufdringliche“ und „diskrete“ Zeichen wirklich so trennscharf voneinander unterscheiden, wie dies für eine gesetzliche Regelung sowie deren Durchsetzung und Anwendung notwendig wäre? Die Befürchtung ist zu hören, ein Verbot des Kopftuchs könnte sich letztlich eher als ein „Gesetz gegen die Integration“ (so der Titel eines Diskussionsbeitrags in „La Croix“, 17.12.03) als zu deren Gunsten erweisen. Es wird auch die Ansicht geäußert, das Gesetzesvorhaben könne Ausdruck einer Art von Wirklichkeitsverweigerung sein. Der Bischof von Angoulême, Claude Dagens, betonte noch vor Weihnachten, der Dialog beginne mit der „Anerkennung unserer Unterschiede“. Der Islam sei eine tatsächlich präsente Realität in der Gesellschaft. Einen eigenen Akzent setzte unterdessen Straßburgs Erzbischof Joseph Doré, angesehener Theologe und eines der profiliertesten Mitglieder der Französischen Bischofskonferenz. Für ihn scheint die Vorstellung keineswegs unvorstellbar, dass der Islam in den Teilen Frankreichs, in denen bis heute das napoleonische Konkordat von 1801 zur Anwendung kommt, also in den drei Departements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle, einen ähnlichen „konkordatären“ Status erhält, wie ihn dort nicht nur die Katholiken, sondern in ähnlicher Form auch Lutheraner, Reformierte und Juden haben. Das würde etwa auch islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen einschließen.
Soviel ist bereits Mitte Januar klar: Auch wenn das Gesetz in der vorliegenden Form verabschiedet werden sollte – im Schuljahr 2004/2005 solle es bereits angewendet werden –, wirklich gelöst wird damit wenig. Schwer einzuschätzen ist im Moment die Dynamik der öffentlichen und nicht nur auf Frankreich begrenzten Debatte, die sich Anfang des Jahres bereits abzeichnet. Demonstrationen sind in verschiedenen französischen Städten angekündigt. Arabische Staaten äußerten sich bereits kritisch zu dem Gesetzesvorhaben. Auch die Belehrung durch Johannes Paul II. in seiner traditionellen Ansprache vor dem Diplomatischen Corps ist hier zu nennen. Der Papst wies darauf hin, Laizität sei nur insofern legitim, wie sie zur Unterscheidung zwischen Staat und Religion herangezogen werde, nicht jedoch, wenn sie zum Ignorieren der Religionen führe. Laizität dürfe nicht mit Laizismus verwechselt werden. Laizität „ist nichts anderes als der Respekt vor allen Bekenntnissen seitens der Staates, der die freie Ausübung der kultischen, spirituellen, kulturellen und karitativen Aktivitäten der Gemeinschaften der Gläubigen sicher stellt.“ Genannt wurde Frankreich nicht, aber verstanden hat man dort die Botschaft dennoch.