„Der Ministerpräsident hat uns mitgeteilt, dass die Regierung mit der heutigen Abstimmung im Parlament das Ehesakrament gerettet hat“: Dieser ironische Satz stammt von einem angesehenen italienischen Kardinal, der an der Begegnung der neu ernannten Kardinäle mit einem Dutzend Minister am 23. Oktober des vergangenen Jahres in der italienischen Botschaft beim Heiligen Stuhl teilgenommen hat. Am gleichen Tag hatte das Parlament mit großer Mehrheit eine Gesetzesinitiative zur Verkürzung der Frist für eine Scheidung von bisher drei Jahren auf ein Jahr in bestimmten Fällen abgelehnt. Da ja allen die kirchenrechtlich unerlaubte Situation des geschiedenen und wiederverheirateten Silvio Berlusconi bekannt ist, kann man über diese Verbindung von verbalem Klerikalismus und säkularisierter Praxis nur schmunzeln. Die Begebenheit illustriert – wenn auch nicht vollständig – das Verhältnis von Kirche und italienischer Mitte-Rechts-Regierung sowie das permanente Misstrauen zwischen Regierung und kirchlichem Personal ungeachtet der Übereinstimmung in konservativen politischen Positionen. Über die Beziehungen zwischen Kirche und Politik während der fünfzigjährigen Regierungszeit der italienischen Christdemokraten (DC) wurde unendlich viel geschrieben; geradezu auffällig wenig liest man dagegen über das Verhältnis der Kirche zu den Kräften, aus denen sich die rechte Mitte in Italien zusammensetzt. An erster Stelle ist dabei der Einstieg von Silvio Berlusconi in die Politik und die Entstehung von „Forza Italia“ zu nennen, der stärksten Partei des derzeitigen Mitte-Rechts-Bündnisses. Die Partei trat im Januar 1994 ins Leben und erzielte bei den Parlamentswahlen auf Anhieb 21 Prozent der Stimmen, bei den Europawahlen wenige Monate später sogar 30 Prozent. Das war ein außergewöhnliches Ergebnis für eine neue Organisation, die sich als „Antipartei“ oder besser als Partei präsentierte, die nicht die breite Masse ansprechen möchte und sich damit von den anderen Parteien im Parlament abhebt. Die erste Regierungsbeteiligung von „Forza Italia“ endete mit einem fast vollständigen Misserfolg im Dezember 1994; mit 30 Prozent Stimmenanteil gelang ihr 2001 der Wiederaufstieg zur führenden politischen Kraft, womit auch das Amt des Ministerpräsidenten für ihren Führer verbunden war.
Mit der liberalen, an Effizienz orientierten und mehr amerika- als europafreundlichen Position von Berlusconi verbindet sich eine ausdrückliche Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Da ist zum einen die Familientradition: Berlusconis Vater Luigi war Katholik vom Scheitel bis zur Sohle, in der engeren Verwandtschaft gibt es etliche Priester und Ordensschwestern, der Ministerpräsident selber rühmt sich freundschaftlicher Beziehungen zu einigen Priestern, vor allem zu Salesianern. Da ist zum anderen die Sprache: Berlusconi hielt sich für „vom Herrn gesalbt“, er ging in die Politik, „um das Kreuz auf sich zu nehmen“; der kommunistische Gegner ist für ihn „das Böse“. Dazu kommt das Wahlverhalten: 1994 stimmten 30 Prozent der praktizierenden Katholiken für „Forza Italia“; 2000 präsentierte sich Berlusconi als „Führer der ersten christlichen und katholischen Partei“. Er erhebt den Anspruch, das Wählerpotenzial und die Symbole der Democrazia cristiana zu beerben, obwohl er ihr nie angehörte und sich nie mit ihren theoretischen Grundlagen befasst hat.
1997 wurde langsam aus der Anti-Partei, der Partei als Unternehmen, der charismatischen, ganz am Wahlerfolg und an einer Person orientierten Partei eine flächendeckend organisierte und um einen Führer herum strukturierte Partei. Im Jahr darauf gelang Berlusconi die Aufnahme Zeitschrift „Il regno“. Er gehört von „Forza Italia“ in die „Europäische Volkspartei“, den Zusammenschluss von Christdemokraten und Konservativen im Europaparlament, was ihm auf nationaler Ebene einen Legitimitätsschub verlieh. Einer seiner engsten Berater, der Priester Gianni Baget Bozzo, entwickelte die Theorie, wonach es nicht in erster Linie auf die theoretische Reflexion ankommt: In der Mitte zu stehen, sei vielmehr eine Frage von Temperament und Charakter. Berlusconi ist ein Politiker eigenen Typs, effizient im konkreten Handeln, aber ohne ausgeprägten kulturellen Horizont. Den Ruf, gemäßigt katholisch zu sein, sicherte er sich durch die Zustimmung zu den Forderungen des Vatikans und der italienischen Bischöfe bezüglich der katholischen Privatschulen, der Abtreibungsgesetzgebung, der Drogenpolitik und der Bioethik. Dahinter verblassen Themen wie Staatsverständnis, Funktionieren des politischen Systems, Laizität der Institutionen, politisch-private Interessenkonflikte, gesetzliche Garantie der Religionsfreiheit. Beispielhaft kann hier das neue und restriktive Gesetz über die künstliche Befruchtung stehen, das im Dezember 2003 verabschiedet wurde. 1998 hatte Berlusconis Partei, damals noch in der Opposition, einem wesentlich liberaleren Gesetz zugestimmt; sie änderte jetzt von einem Tag auf den anderen auf Empfehlung der Bischöfe radikal ihre Position. Ein Freund der katholischen Kirche ist Berlusconi mehr in seinen Erklärungen als in seinem Verhalten; was er der Kirche als Institution garantieren kann, beschränkt sich auf vertragliche Vereinbarungen. Hinter der teilweise sogar ausdrücklichen Zustimmung, die er in kirchlichen Kreisen erfährt, verbirgt sich eine grundlegende Fremdheit, die noch nicht aufgearbeitet ist.
Umberto Bossi und der Antiklerikalismus
In seiner Ausgabe vom 18. August 1997 reagierte der „Osservatore Romano“ auf die Kritik, die Umberto Bossi, unangefochtener Führer der „Lega Nord“, am Papst geübt hatte: „Die Tatsache überrascht uns nicht. Der peinliche Mangel an Sensibilität, die schwerwiegende Ignoranz gegenüber der Geschichte, das vulgäre Verhalten, wie es einige Male zu Tage getreten ist, das fehlende Verantwortungsbewusstsein: Das alles sind wohl bekannte Kennzeichen der erwähnten politischen Bewegung(...) Es überrascht uns nicht, doch wir fordern Achtung. Aber kann ein Zwerg, der sich selber für einen Riesen hält, einen wirklichen Riesen der Zeitgeschichte achten?“ Das war der Tiefpunkt im Verhältnis zwischen Lega und Kirche, das unterschiedliche Etappen durchlaufen hat. Die Lega hat ihre Wähler in der Voralpenregion Norditaliens, und „die Geographie der katholischen Überzeugungen entspricht weitgehend der Geographie der Zustimmung zur Lega“, wie Roberto Cartocci formuliert. Ihre Wählerschaft schmilzt derzeit zusammen. 1996 erzielte sie bei den Parlamentswahlen 10,6 Prozent in ganz Italien (im Norden über 20 Prozent), 2001 waren es nur noch 3,9 Prozent. Ein Teil ihrer Wähler ist katholisch geprägt, was Bossi nicht an wiederholten Angriffen auf die Caritas, einige Bischöfe, die Missionare und, wie erwähnt, sogar auf den Papst gehindert hat.
Von Ende der achtziger bis in die ersten neunziger Jahre wollte die Lega die christdemokratische Wählerschaft übernehmen und agierte gegenüber der Kirche eher zurückhaltend. Sie ließ auch einem katholischen Beratungsgremium Spielraum, das sich für die Partei mit den religiösen Themen beschäftigte. Feindbild für die Lega war in erster Linie der zentralisierte und bürokratische Staat. Auch die Polemik gegen den italienischen Süden war zweitrangig, verglichen mit der gegen die Democrazia cristiana als Verkörperung des Zentralstaats. Das konnte nicht verhindern, dass Stimmungen und Verhaltensweisen in der Lega sowie der Mangel an Wertbezügen die Bischöfe und die katholischen Vereinigungen beunruhigten. Vor allem die Katholische Aktion bezog 1991 eine harte Position gegenüber der Lega, die sie mit der organisierten Kriminalität in Süditalien auf eine Stufe stellte. Dialogbereiter waren „Comunione e liberazione“ oder die Pfadfinderbewegung.
In der zweiten Phase, zwischen 1993 und 1996, kam es zum offenen Konflikt. In zahlreichen bischöflichen Stellungnahmen wurden die Attacken der Partei auf den Wert der spirituellen, moralischen und kulturellen Einheit des Landes verurteilt, ging die Kirche auf Distanz zur Polemik gegen den Süden, die man als Verweigerung der unerlässlichen nationalen Solidarität empfand, und verteidigte nachdrücklich den Sozialstaat gegen den partikularistischen Egoismus der von Bossi geführten Bewegung. Eine dritte Phase begann 1996 beziehungsweise mit dem Parteitag der Lega ein Jahr danach. Es gab jetzt ausdrückliche und direkte Attacken von Bossi auf die Bischöfe und den Papst; gleichzeitig änderte sich das Führungspersonal der Partei. An die Stelle von Personen laizistischer oder katholischer Herkunft traten solche mit einer rechten oder linken militanten Vergangenheit, die weit weniger auf ihre religiöse Prägung ansprechbar waren. Man setzte sich zum Ziel, eine eigenständige Lega-Subkultur auszubilden und so die frühere christdemokratische und im weiteren Sinn katholische Subkultur abzulösen. Die öffentlichen und massiven Angriffe auf die Kirchen sollten das eigene Personal und die eigenen Wähler gegen kirchliche Einflüsse immunisieren.
Gianfranco Fini als Antifaschist
Das gleiche Drehbuch war beim als „Gesetz Bossi/Fini“ bekannt gewordenen Gesetz über die Einwanderung zu beobachten, das die Lega mit zorniger Aggressivität und mit der Drohung gegen die Bischöfe und die katholischen Organisationen verteidigte, ihnen die Finanzpolizei auf den Hals zu hetzen. Heute ist die Lega die von der Kirche am weitesten entfernte politische Bewegung in der Mitte-Rechts-Koalition, trotz einiger dem widersprechender Züge wie der Verteidigung von Kruzifixen im öffentlichen Raum (im Namen der westlichen Kultur, nicht des Glaubens) oder die Pflege antivatikanischer, bisher für die Lefebvre-Bewegung charakteristischer Gefühle im Blick auf die Liturgie oder den Modernismusvorwurf gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Am 24. November 2003 begab sich Gianfranco Fini, Vorsitzender der „Alleanza Nazionale“ und Stellvertretender Ministerpräsident, zur Shoa-Gedenkstätte in Jerusalem und bezeichnete bei einer Begegnung während seiner Israelreise den Faschismus als eine der „Erscheinungsformen des absolut Bösen“. Für den Erben der faschistischen Partei und der antijüdischen Gesetze war das ein wichtiger symbolischer Schritt. Mehr als die katholische Frage belastete nämlich die jüdische Frage die Umwandlung der postfaschistischen Partei MSI („Movimento Sociale Italiano“) in die demokratische Rechtspartei „Alleanza Nazionale“ (AN), die bei den letzten Wahlen auf zwölf Prozent kam.
Der Vatikan hält – mehr als die italienischen Bischöfe – mit seiner Sympathie für die Person Fini nicht hinter dem Berg. In einigen Fällen war, wie bei den Regionalwahlen des Jahres 2000 in Latium, der Sieg von Mitte-Rechts (unter der Führung von Francesco Storace von AN) auch der Unterstützung durch die örtlichen bischöflichen Kurien zu verdanken. Die politischen Erfolge und die Wahlresultate von 1993/94 wie von 2001 ermöglichten es Fini und der Führungsschicht der Partei, Verhalten und Vokabular so anzupassen, dass sich die Identität der Partei nach außen veränderte. Das geschah vor allem beim Parteitag im Januar 1995 in Fiuggi, wo AN den gewerkschaftlichen und katholischen (aber nicht den kommunistischen) Antifaschismus während des Zweiten Weltkriegs und in der Gründungsphase der italienischen Republik positiv bewertete und den Antisemitismus als überwunden erklärte, was jetzt mit der jüngsten Reise nach Israel unterstrichen wurde. Das neue ideologische Bezugssystem verbindet die traditionellen Verweise auf Giulio Evola, Giovanni Gentile und Filippo Tommaso Marinetti mit solchen auf Norberto Bobbio, Luigi Sturzo und besonders auf Johannes Paul II. Weit weniger erfolgreich war bisher die interne Erneuerung der Parteikader und des politischen Personals, das zum größten Teil noch das des alten MSI ist. Dass noch kein durchgreifender Wandel erfolgt ist, zeigte sich daran, dass von wenigen Einzelfällen abgesehen weder im Zusammenhang mit dem Parteitag von Fiuggi noch mit der Reise von Fini nach Israel zu einer Spaltung in der Partei gekommen ist. Vom katholischen Standpunkt aus lässt die weitreichende Zustimmung von AN zur katholischen Soziallehre und zu bestimmten kirchlichen Anliegen (Familie, Bioethik etc.) die Divergenzen (Einwanderung, Solidarität etc.) in den Hintergrund treten. Im Übrigen wertete die Kirche schon früher die Wahlentscheidung für den MSI nicht als antikatholischen Akt; noch weniger gilt das jetzt für ein Votum zugunsten der AN. Man kann allerdings durchaus nach den Gründen für das Schweigen der Bischöfe fragen: Die Anfragen bezüglich der Haltung zum Antisemitismus, zu den antijüdischen Gesetzen und den Grundwerten der Demokratie hätten auch von ihnen kommen können.
Am 1. Juni 2001 begann Pier Ferdinando Casini, wichtigster Exponent von „Biancofiore“, der katholischen Gruppierung innerhalb von Mitte-Rechts, sein Amt als Präsident der Abgeordnetenkammer (die drittwichtigste Funktion im Staat) mit dem Gruß an die Angehörigen und seine Lebensgefährtin und schloss seine Rede mit der Bitte um den Schutz der Jungfrau von San Luca, einem von den Bewohnern von Bologna, seiner Heimatstadt, besonders verehrten Marienbild. Diese Verbindung von Volksfrömmigkeit, kirchenrechtlicher Irregularität und politischem Konservatismus verdient Beachtung. Aber zunächst sei darauf hingewiesen, dass Biancofiore (auf sie entfielen bei der jüngsten Parlamentswahl 3,2 Prozent, bei der vorausgegangen Wahl dagegen noch 5,8 Prozent) aus der Vereinigung zweier politischer Gruppierungen hervorgegangen ist („Centro Cristiano Democratico“ und „Cristiani Democratici Uniti“), die sich der Auflösung der christdemokratischen Mitte verdanken. Andere Bruchstücke dieser Explosion finden sich im Oppositionsbündnis „Ulivo“, besonders in der Partei mit dem Namen „Margherita“.
Die Katholiken verteilen sich gleichmäßig auf die beiden Blöcke
Die Democrazia cristiana wie auch ihre Nachfolgepartei „Partito Popolare“ waren Kräfte, die sich der Logik der Blockbildung verweigert und sich immer als Zünglein an einer Wage gesehen haben. Das kostete personelle und programmatische Ressourcen und hatte zur Folge, dass man zunächst 1995 mit Rocco Buttiglione und ein Jahr mit Franceso Cossiga an ein lockeres Bündnis mit der Linken dachte, sich dann aber umorientierte und fest in ein Rechtsbündnis einbrachte. Die Voraussetzungen für eine solche Strategie sind inzwischen aber weggefallen: Trotz erheblicher Widerstände haben die Wähler an einem System mehrheitsfähiger Blöcke Gefallen gefunden, wozu sich die Parteien noch nicht endgültig durchgerungen haben. Vom sozio-religiösen Profil her betrachtet sind die beiden wichtigsten italienischen Koalitionen („Casa delle libertà“ in der rechten und „Ulivo“ in der linken Mitte) in ihrem Grundbestand einander sehr ähnlich. Der Zelebrant einer normalen sonntäglichen Eucharistiefeier hat eine Gemeinde vor sich, die zu 44 Prozent aus Wählern von „Ulivo“, zu 46 Prozent aus Wählern der „Casa delle libertà“ und zu zehn Prozent aus Wählern anderer Gruppierungen besteht. Dieser Gleichstand ergab sich schon bei den Wahlen von 1996, als 44 Prozent für „Ulivo“ und 42 Prozent für „Casa delle libertà“ stimmten.
Man gewinnt einen Eindruck von dem damit signalisierten Wandel, wenn man daran erinnert, dass noch am Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts die praktizierenden Katholiken zu 60 bis 70 Prozent die Christdemokraten wählten und der Priester in der zum Zweck der Veranschaulichung erfundenen liturgischen Versammlung davon ausgehen konnte, dass die große Mehrheit der Anwesenden aus Christdemokraten bestand. Die Verteilung der Katholiken auf die verschiedenen Parteien spiegelt den grundlegenden Wandel der Parteien und der Dialektik von Opposition und Regierung wider. An die Stelle von Parteien, die sich auf die soziale Schicht oder die religiöse Zugehörigkeit stützen, sind, wenn auch nicht in vollem Umfang, „Mehrzweckparteien“ getreten, die nicht ideologisch orientiert sind und nicht auf die Masse zielen, sondern die einzelne politische Individualitäten repräsentieren wollen.
Der genauere Blick auf das Wahlverhalten der Katholiken zeigt allerdings, dass es hier je nach Intensität der Kirchenbindung und religiösen Praxis Unterschiede gibt. Praktizierende Katholiken stimmen eher für Mitte-Links, selten Praktizierende dagegen eher für Mitte-Rechts. Der Anteil der unregelmäßig Praktizierenden unter den italienischen Katholiken ist in den letzten dreißig Jahren von 31 Prozent auf 51 Prozent gestiegen. Das macht deutlich, dass Mitte-Rechts diese Veränderung effizienter nutzen konnte: Die Verbindung von Frömmigkeit, Säkularisierung und Konservatismus zieht offenbar ein breiteres Spektrum von Katholiken an als die Mitte-Links-Parteien, die mehr von den regelmäßig Praktizierenden geschätzt werden. Daraus ergibt sich nicht nur eine wichtige Frage an die Parteien, sondern auch eine entscheidende Frage an die Kirche: Was lässt sich dagegen unternehmen, dass der Rückgang der kirchlichen Praxis zu einer Entfremdung gegenüber den Glaubensinhalten führt?
Am 14. November 2002 sprach Johannes Paul II. erstmals und gleichzeitig als erster Papst vor dem italienischen Parlament. Dieser Auftritt war möglich nach den institutionellen Veränderungen der letzten Jahre und dank der Tatsache, dass die Kirche in der italienischen Politik nicht mehr „Partei“ ist. Das hat ermöglicht, einige wichtige Frage ins Archiv zu verbannen: Zunächst die „römische Frage“, also die Besetzung Roms durch italienische und piemontesische Truppen im Jahr 1870. Schon Paul VI. hatte diesen Vorgang als „providentiell“ bezeichnet; jetzt sprach Johannes Paul II. von „in hohem Maß positiven Impulsen“, die davon ausgegangen seien.
Italiens Demokratie steht vor schwierigen Fragen
Durch die vorbehaltlose Anerkennung des demokratischen Staates von Seiten der Kirche und der Katholiken ist auch die „katholische Frage“ erledigt. Die Krise nach der langen politischen Vorherrschaft der christdemokratischen Partei hat einen institutionellen Wandel begünstigt, bei dem die Gläubigen zu Trägern demokratischer Werte wurden. Das Ende der Identifikation der Kirche mit einzelnen Parteien oder Koalitionen schafft eine größere Freiheit zur Verkündigung. Aber die konkrete Ausgestaltung dieser Neutralität durch die Bischofskonferenz und vor allem deren Führung gab immer wieder zur Kritik Anlass. Zu erwähnen ist hier etwa die Mahnung von Kardinal Carlo Maria Martini, der als Erzbischof von Mailand 1999 davor warnte, Neutralität mit politischer Trägheit zu verwechseln: „Das Übel der politischen Trägheit führt dazu, die verschiedenen Optionen nicht entsprechend dem Gewicht zu beurteilen, das sie sich in unserer Kultur und unserem Zusammenleben verschafft haben, sondern als austauschbare Faktoren von gleichem Wert.“ Das mangelnde Verständnis der Kirchenführung und ihre Zögerlichkeit angesichts des institutionellen Wandels haben den Spielraum für die katholischen Politiker eingeengt und zu Fehlentwicklungen wie einer zentralen Steuerung politischer Stellungnahmen der Kirche und einer weitgehenden Klerikalisierung geführt. In der kirchlichen Haltung gegenüber dem politischen System Italiens lassen sich heute drei grundlegende Verhaltensweisen unterscheiden. Die erste neigt dazu, alle Entwicklungen in das Schema Kommunismus/Antikommunismus einzuordnen. Diese Optik verbindet einige Vertreter des Heiligen Stuhls mit randständigen Exponenten des italienischen Episkopats wie der Laienschaft. Die zweite Haltung drückt sich dadurch aus, dass man sich als Hinterbliebene der vorausgegangenen Tradition betrachtet und in blindem Glauben darauf setzt, es müsse irgendetwas geschehen, um die auf die politischen Lager verteilten Katholiken wieder zur Einheit zu führen. Diese Position ist ohne jede politische Relevanz und dient höchstens zu obskuren Abmachungen im Dienst von Einzelinteressen.
Die dritte Haltung zeichnet diejenigen aus, die die Ursachen des Wandels begriffen haben und auf ein handlungsfähiges demokratisches System mit zwei politischen Polen setzen. Sie verteilen ihre Sympathien entsprechend der Qualität der Politik beider Lager, im Bewusstsein der eigenen Verantwortung nicht nur im Blick auf die Verkündigung der christlichen Botschaft, sondern auch die Verteidigung der Werte einer demokratischen Ordnung. Die italienische Demokratie steht jedenfalls vor schwierigen Fragen und neuen Widersprüchlichkeiten.