Bis vor einigen Jahren zuckten deutsche Theologen noch gelangweilt oder fragend mit den Schultern, wenn ihnen der Name Jacques Derrida genannt wurde. Das Denken des an Nietzsche, Freud, de Saussure, Husserl und Heidegger geschulten französischen Sprachphilosophen algerisch-jüdischer Herkunft war entweder unbekannt oder als „postmodern“ und damit relativistisch verpönt. Spätestens jedoch seitdem einige jüngere Publikationen Derridas deutlichmachten, dass seine eher verborgenen Hinweise auf die Relevanz der Gottesfrage und eine Thematisierung seiner jüdischen Herkunft im Frühwerk keine Ausrutscher des gerne als„atheistisch“ bezeichneten Denkers gewesen zu sein schienen, gewann er an Interesse – freilich nicht als Religionsphilosoph, sondern vielmehr als Gesprächspartner des von innen und außen vielfältig angefragten theologischen Diskurses. Die Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises der Stadt Frankfurt Ende September 2001 tat ein Übriges, um den „Poststrukturalisten“ in jüngerer Zeit zumindest für den Fußnotenapparat theologischer Publikationen salonfähig werden zu lassen.
Leser und Texttheoretiker
Jacques Derrida wurde 1930 geboren und als Mitglied der jüdischen Gemeinde in El-Biar, Algerien, beschnitten. Wenn er auch selbst nicht explizit in die jüdische Religion eingeführt wurde, also kein Hebräisch oder Aramäisch lernte, erlebte er in seiner Jugend die Auswirkungen der Rassengesetzes des Vichy-Regimes in Algerien hautnah. Die damalige Erfahrung der Ausgrenzungwurde wegweisend für seinephilosophische Arbeit und eine späte Annäherung an bestimmte Fermente jüdischer Religion. Im Alter von 19 Jahren ginger nach Frankreich. Nach einem Studium an der PariserÉcole Normale Supérieure und dann an der Harvard University promovierte er mit der Arbeit „De la grammatologie“ (Paris 1967, dt.: Grammatologie, Frankfurt1974), einer frühen Systematisierung seines Denkens. Nach seiner Assistenzzeit und einer Professur an der École Normale Supérieure wurde er 1983 Gründungsdirektor des Collège International de Philosophie. Seit 1984 ist er Directeur de Recherche an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Derrida hat eine ständige Gastprofessur an der University of California in Irvine.
Derrida müsste eigentlich eher Texttheoretiker oder einfach Leser, denn Philosoph genannt werden. Als Bezeichnung für sein Lektüreverfahren, das man im Grunde nicht Methode nennen kann, hat sich der Begriff déconstruction, also Rückund Aufbau im Sinne eines „kritischen Offenlegens einer nicht unmmittelbar zugänglichen konstitutiven Textstruktur“, eingebürgert. Der Begriff wurde gar eingedeutscht und fand Eingang in andere Disziplinen, vor allem die Architektur. Unter anderem der Neubau des Bonner Bundestages, das Jüdische Museum in Berlin, aber auch das Dresdener St.-Benno-Gymnasium sind im „dekonstruktivistischen“ Stil erbaut. Die genannten Bauten zeichnen sich – ähnlich wie Derridas Texte – weniger durch eine bloß beliebige, also im schlechten Sinne „postmoderne“ Zitation verschiedener Baustile oder gar destruktive Züge aus, als vielmehr durch die zumeist halsbrecherisch wirkende Auslotung der Möglichkeiten von Material und Statik, durch eine Vermeidung konventioneller architektonischer Ordnungsprinzipien wie des rechten Winkels, funktionaler Raumstrukturen und Größenverhältnisse. Literaturwissenschaftlich betrachtet, bezeichnet die Dekonstruktion ein Verfahren der Textbearbeitung, das in seiner Intention auf Martin Heidegger zurückgeht: Dieser zielte in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ eine „Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie“ am Leitfaden der Seinsfrage an, um so erneut Zugang zu den „ursprünglichen Erfahrungen“ zu erlangen, die durch das ungerechtfertigte Postulat einer totalen Präsenz oder ungebrochenen Einheit der Wirklichkeit immer wieder verstellt worden seien.
Die verschwiegene Hierarchien des Textes
Die Dekonstruktion befragt einen Text nach den hochindividuellen Bedingungen der Möglichkeit seiner Entstehung. Diese sollen sich auf dem Wege einer genauen, nicht selten talmudisch wirkenden Analyse der konstitutiven, im Text aber verschwiegenen Hierarchien, binären Zuordnungen, Vorlieben und Vermeidungen des Autors offenbaren. Insbesondere laufen die traditionellen Dualismen dessen, was Derrida „Metaphysik“ oder „Ontotheologie“ nennt (Zentrum/Peripherie, Geist/Materie, Transzendenz/Immanenz), Gefahr, die Realität durch Vereinseitigungen falsch wiederzugeben. An die Stelle jeder letztlich doch wieder in dieser dualistischen Ordnung gefangenen ursprünglichen Einheit setzt Derrida das Kunstwort différance. Die Einfügung des grammatisch eigentlich falschen „a“ in das französische différence markiert die Einheit in der Differenz und damit ein „Jenseits“ der binären Spaltung von Denkmodellen, die sich „dogmatisch“ entweder auf einen Primat der Einheit oder eben der Differenz berufen.
Ein anderer entscheidender Begriff für Derridas Denken eines „anfanglosen Anfangs“, eines Jenseits der Sprache, ist die Spur (la trace), ein von Martin Heidegger und Emmanuel Levinas entlehnter Terminus. Er beschreibt das Phänomen einer Verwiesenheit auf das vollkommen unstrukturierte „Voraus“ der différance, aus dem sich ein jeweils vorläufiger und immer neu über- und einzuholender Begriff von Einheit „zuschickt“. Die enge Verklammerung von Subjekt- und Gottesrede, die in Derridas Beschreibungen der différance und der Spur vor Augen tritt, verweist auf Levinas’ Rede von Ethik als Erster Philosophie (vgl. HK, März 1996, 146 ff.). Derrida nennt den Begriff der Spur auch „ultratranszendental“ (Vgl. dazu unter anderem: Grammatologie, 82). Neben dieser ethischen Gehalte, die Derridas Denken in die Nähe zur Kritischen Theorie, aber auch prophetischer Traditionen rückt, weist es einen ausgesprochen ambitionierten Wahrheitsbegriff auf. Die „Fiktion“ eines restlosen Aufgehens auch verdrängter Realität im Text treibt zu einer potenziell endlosen Kette kritischer Befragungen an, die in ihrem Drang, unvollkommene Versionen zu übersteigen und auch die eigene Begrifflichkeit immer neu einer scharfen Kritik zu unterziehen und gegebenenfalls auch zu verwerfen, an die Tradition der Negativen Theologie erinnert.
Sprachphilosophische Fragestellungen treten zugunsten ethischer zurück
Insofern die Texte Derridas im nahezu endlosen Abschreiten der Möglichkeiten menschlicher Sprache nicht zur Ruhe kommen, kann von der Dekonstruktion als einer impliziten Theologie gesprochen werden. Ihre zentrale Intention liegt in einer Offenlegung der Beschränktheit menschlicher Ausdrucksformen angesichts eines außersprachlichen Absoluten, das zwar nicht ausgesagt werden kann, sich aber in einem potenziell unabschließbaren Prozess teilweise paradoxer Zuweisungen immer neu zur Sprache bringt.
Zu Recht wurde Derridas aus Strukturalismus und Phänomenologie erwachsenes Frühwerk vor allem in den Medienwissenschaften rezipiert. Waren es doch „Aufschreibsysteme“, die unter dem Vorzeichen einer seit Platon unterprivilegierten „écriture“ im Fokus seines Denkens standen. In programmatischen Schriften wie „Die différance“ (in: Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1999, 31– 56), „Fines hominis“ (in: Randgänge: 133–158), „Ulysses Grammophon“ (Berlin 1988) wurden sie mit deutlich hörbarem subjektkritischem Unterton als in ihrer Textualität, also Materialität gleichursprüngliche Sinnproduzenten dem Geist an die Seite gestellt. In der Folgezeit hat Derrida sein amorphes Theoriegebäude allerdings – nicht zuletzt unter Einfluss von Emmanuel Levinas – ergänzt um Reflexionen auf die literarische Form Negativer Theologie (Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989; Über den Namen, Wien 2000). Außerdem hinzugekommen sind eine „Ethik der Gabe“ (zum Beispiel: Falschgeld. Zeit geben 1, München 1993), Reflexionen über den Religionsbegriff (Jacques Derrida und Gianni Vattimo [Hg.]: Die Religion, Frankfurt 2001), das Judentum (etwa „Circonfession“, in: Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Frankfurt 1994), die Apokalypse (Apokalypse, Wien 1985) und schließlich auf eine Vorstellung des Messianischen ohne Messianismus (Marx’ Gespenster, Frankfurt 1995). Derrida hat sich damit freilich weder von den wesentlichen Zügen seines früheren Denkens verabschiedet noch gar eine „Kehre“ vollzogen. Die neueren Entwicklungen seines Werkes sind eher als Hinwendungen zu neuen Themen und Texten zu lesen, wenngleich insgesamt durchaus ein Zurücktreten sprachphilosophischer zugunsten ideenpolitischer und ethischer Fragestellungen zu beobachten ist.
Neben der eher allgemeinen Herausforderung, die in der Entwicklung einer radikal kritischen Texttheorie wie der Dekonstruktion liegt, wie den damit verbundenen impliziten Anfragen an ein drohendes Abgleiten des christlichen Gottesbegriffs in Metaphysik, geht die Provokation des jüngeren Derridaschen Denkens für die Theologie von zwei Brennpunkten seiner Arbeit aus: der philosophischen Rekonstruktion des Judentums und der Reflexionen zur Negativen Theologie. Derridas Verhältnis zum Judentum ist weder einfach noch unmittelbar. Wie könnte es bei einem Denker, zu dessen wesentlichsten Gedanken die Nachträglichkeit, die sinnverschiebende Wiederholung, die Dekonstruktion und die différance gehören, anders sein? Derrida hat nie in einem „autonomen Akt“ das Judentum als seine Identität ergriffen. Vielmehr scheint er in immer neuen Anläufen der Lektüre und des Schreibens nachträglich von ihm ergriffen worden zu sein. Jedoch situiert Derrida dort, wo er das „Datum“, die „Beschneidung“ und „Verwundung“ zum Thema seiner Überlegungen macht, sein Schreiben mehr als nur implizit in der jüdischen Tradition. Darüber hinaus nähert er sich von Beginn seines Schaffens mit seiner ausdrücklich nur schwach formalisierten Praxis dekonstruktiver Lektüren und des implizierten Schriftbegriffs der zentralen Stellung der Schrift und ihres Kommentars in der jüdischen Tradition an.
Außerdem findet das Anliegen Derridas, das abendländische dualistische Weltbild und Denken zugunsten der Paradoxie aufzubrechen, ganz allgemein seine Parallele in einem Hauptmerkmal des jüdischen Denkens: dem Zusammendenken scheinbar kontradiktorischer Begriffe. Auch der historisch verortete Akt der (jüdischen) Offenbarung verbindet ja Transzendenz (Gott) und Immanenz (Israel); im Bundesverständnis fließen Ethnizität (Volk Israel) und Religiosität (Glaube und Praxis Israels) zusammen, sie werden in ihrer partikularen Besonderheit (Bund Gottes mit Israel) mit universaler Bedeutung (Gott und Mensch beziehungsweise Welt) versehen und verketten im Ergebnis Geschichte und Glauben unauflösbar miteinander. Später ist dann der Auserwähltheitsglaube des jüdischen Volkes – autobiographisch markiert durch die Beschneidung – für Derrida Anlass, die Möglichkeit von Zugehörigkeit und die Legitimität des Auserwähltheitsgedankens überhaupt zu diskutieren. Derrida bewegt sich in einem explizit biographisch orientierten Schreiben an der Grenze zwischen Judentum und Griechentum und führt sie damit wieder neu in den „abendländischen“ Diskurs ein. Dies geschieht in einer Weise, die einem Christentum, das von der Katastrophe der Shoa herausgefordert ist, nicht gleichgültig sein kann. Bekannte Vereinseitigungen dieser Debatte, etwa im Sinne einer Rejudaisierung des Christentums, werden von Beginn an vermieden: „Sind wir Juden? Sind wir Griechen? Wir leben im Unterschied des Jüdischen und des Griechischen, der vielleicht die Einheit dessen ist, was wir Geschichte nennen“ (Die Schrift und die Differenz, Frankfurt 1976, 234). Aber auch schon in Derridas frühem Werk finden sich Spuren für eine fragmentarische Wahrnehmung des Judentums. Zunächst begegnen dem Leser Autoren, die als explizit jüdische Denker benannt werden können: Edmond Jabès, Emmanuel Levinas und Paul Celan. Die Arbeit der genannten Autoren ist gekennzeichnet von der Einforderung einer schier unmöglichen Gerechtigkeit angesichts des anderen Menschen und von einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber der ungebrochenen Tradition abendländisch-metaphysischen Denkens. Für jüdische Autoren in Europa nach Auschwitz ist außerdem die Frage der Trennung zwischen Innen und Außen – aufgrund der Juden und Jüdinnen als Fremde, als Außenseiter charakterisiert worden sind – ein bestimmendes Thema.
Judentum als Unmöglichkeit einer endgültigen Identifizierbarkeit
Derridas Verständnis der Schrift hat zu Beginn seiner Arbeit vielfach Irritationen ausgelöst. Angesichts ihrer aktuellen Bedeutsamkeit durch Computerprogramme wie Gentechnik will er sie, anders als Platon, als „gleichgeborenen Bruder“ der mündlichen Rede begreifen. Dieses Denkmodell entwickelt sich nicht nur aus der strukturalistischen Sprachtheorie Ferdinand de Saussures, sondern ebenso dezidiert aus dem durch die genannten Autoren transportierten jüdischen Schriftverständnis. Derridas Vorstellung eines Primates der Schrift vor jeder Form der Anwesenheit und Identität findet ihren vielleicht treffendsten Ausdruck zunächst in der literarischen Form des talmudischen Textes – eine von innen nach außen konzentrisch aufgebaute Abfolge von Kommentaren. In enger Verbindung dazu stehen offenbarungstheoretische Überlegungen zu einem Gott, der in der jüdisch-kabbalistischen Tradition immer schon in Verbindung mit der Tora, einem Schriftkonvolut, gedacht wird. Diesen Gedanken hat Derrida explizit vor dem Hintergrund des heimatlos im Exil lebenden Juden beziehungsweise Rabbiners entwickelt, wie er bei Jabès erscheint. An diesen drei Dimensionen jüdischen Textgeschehens: Primat der (kommentierenden) Schrift, dem in der Schrift sich gleichzeitig offenbarenden und verhüllenden Gott und dem exilierten Schriftkundigen beziehungsweise Gläubigen orientiert sich auch die Derridasche Dekonstruktion. Der ebenfalls in jüdischem Kontext entwickelte Gedanke einer Heiligkeit der Schrift gerät dabei zum Interpretament jener „Bruchstücke der zerbrochenen Tafeln“ eines für Derrida unwiederbringlich verlorenen Ursprungs, zwischen denen „das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut“ der Poesie anhebt und „das Recht zur Rede Wurzel fasst [...] weit von der ,Heimat der Juden‘ entfernt, die ,ein heiliger Text inmitten der Kommentare‘ ist“ (Die Schrift und die Differenz, 105).
In einem zweiten Anlauf thematisiert Derrida seine eigene unklare Zugehörigkeit zum Judentum als exemplarisch: Wenn es ein jüdisches Wesen gibt, so ist es – in Derridas Augen – durch die Unmöglichkeit einer endgültigen Identifizierbarkeit gekennzeichnet. Andererseits bedeutet jede Beschneidung eine strukturelle Verletzung der (männlichen) Identität. Das Judentum bezeichnet also auf mehreren Ebenen eine Unfähigkeit zur rückhaltlosen Affirmation, zur endgültigen „Fest-Stellung“ der eigenen Identität, die einen gewissen abendländischen Grundkonsens, eine angenommene Harmonie zwischen Griechischem und Jüdischem auf dem Boden des neuplatonischen Denkens und dessen Erbe im Christentum, herausfordert. „Judentum“ wird bei Derrida zu einem der Synonyme für jenen Raum, den zu umkreisen und neu zu benennen die Dekonstruktion immer schon aufgebrochen ist. In diesem Sinne kommt dem Judentum eine Orientierungsfunktion für die Welt zu, ist seine Auserwähltheit doch von universeller Bedeutung. Derrida scheut sich in jüngerer Zeit auch nicht, politische Konsequenzen dieser Denkbewegung zu nennen: Sobald jüdische Institutionen, religiöse oder staatliche, den in diesem Sinne gefassten Auserwähltheitsgedanken als Instrument der Selbstermächtigung gebrauchen, haben sie mit seiner scharfen Kritik zu rechnen („Das Wort vom Empfang“, in: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München 1998, 31–170).
Mystik und Aufklärung
Spätestens seit der Religionskritik Ludwig Feuerbachs und ihrer Verschärfung bei Karl Marx und Sigmund Freud ist die positiv von Wundern, Unsterblichkeit und einem allmächtigen Gott sprechende Theologie in den Verdacht geraten, zur Verblendung und Entmündigung der breiten Massen beizutragen. Der Verdacht stützt sich auf den Vorwurf, dass sie heimliche Wunschträume des Menschen, Menschheitsutopien von Glück, Macht und Stärke, auf die Autorität von Offenbarung gestützt, als verwirklicht oder zumindest verwirklichbar propagiert. Der Gott dieser Theologie wurde zu Recht als selbstgemacht, also keineswegs transzendent, und der Verstellung des Antlitzes Gottes als eines Anderen durch geschickt getarnte Projektionen eines selbstsüchtigen Subjekts entlarvt. Diese Religionskritik hat jedoch gleichzeitig zu einer Verächtlichmachung der Religion im Ganzen geführt. Theologie droht so zunehmend aus dem wissenschaftlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen zu werden – wie einst die Wissenschaft des Judentums aus der Altertumswissenschaft oder der Gottesgedanke aus den neuzeitlichen Theorien zur Erklärung der Welt vgl. Walter Kasper, Atheismus und Gottes Verborgenheit in theologischer Sicht, CGG, XXII, 32–57, 43). Der breite Strom abendländischer Texte und Traditionen beherbergt mit dem Bilderverbot, einem bereits aufklärerisch zu nennenden, weil götzenkritischen Gesetz, und der seit Dionysios Areopagita ausdrücklich so benannten Negativen Theologie wirksame „Gegengifte“ gegen das Auseinanderdriften von haltloser Jenseitsspekulation und leerem Rationalismus. Beides spielt nicht nur im Kontext jüdischer oder plotinischer Philosophie, sondern nicht zuletzt vermittelt durch Cusanus, Meister Eckhart oder Immanuel Kant auch noch bei Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts wie Heidegger und Adorno eine wesentliche Rolle. Mit seinem Nachdenken über Negative Theologie am Kreuzungspunkt von kataphatischer und apophatischer Theologie, von Mystik und Aufklärung hat Derrida nun einen weiteren wichtigen Berührungspunkt zum theologischen Diskurs geliefert. „Die Dekonstruktion [...] wurde – überstürzt – für eine Form der negativen Theologie gehalten (das war weder richtig noch falsch)“ („Letter to a Japanese Friend“, in: David Wood und Robert Bernasconi [Hg.]: Derrida and Différance, Evanston, Ill., 1988, 3). So charakterisiert Derrida selbst bereits vor seiner ersten ausführlichen Bezugnahme auf Negative Theologie in „Wie nicht sprechen“ das offene, aber nicht beziehungslose Verhältnis zwischen seinem Denken und einer – ebenfalls idealtypisch gedachten – Negativen Theologie. Es kann dabei nicht darum gehen, das Derridasche Denken als Abart der Gattung Negative Theologie zu enttarnen. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass mit Hilfe seiner Lektüren die „negative“ als Dekonstruktion der „affirmativen“ Theologie gelesen werden kann. Damit wird Negative Theologie als Voraussetzung und beständige Sprengung jedes systematischen Abschlusses der Rede von Gott (und vom anderen Menschen) verstanden, insofern sie dringlich auf ethische Praxis und Gebet verweist – ein Anliegen, das Derrida in gewisser Weise mit dem späten Karl Rahner teilen dürfte (Erfahrungen eines katholischen Theologen, in: Karl Lehmann, Vor dem Geheimnnis Gottes den Menschen verstehen. Karl Rahner zum 80. Geburtstag, Freiburg 1984, 105–135).
Theologie vollzieht sich im Gebet
„Wenn ich [kritisch] von einer Ontologie der Souveränität spreche, so beziehe ich mich unter dem Namen Gottes auf den einen Gott, auf die Bestimmung einer souveränen, also unteilbaren Allmacht. Wo freilich der Name Gottes an anderes denken ließe, etwa an eine verletzliche, leidende und teilbare, sogar sterbliche Nichtsouveränität, die imstande wäre sich zu widersprechen oder zu bereuen (ein Gedanke, der weder unmöglich noch beispiellos ist), läge ein ganz anderer Fall vor, vielleicht der eines Gottes, der sich bis in seine Selbstheit hinein dekonstruiert.“ Dieses einer der jüngsten deutschen Übersetzungen Derridas entnommene Zitat (Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt 2003, 213) macht in besonderer Weise deutlich, in welcher Weise er sich einer Theologie zu nähern bereit ist, die sein Denken doch immer nur als einen Anstoß (frz. coup) aufnehmen und in Kritik und Selbstkritik zurückgeben kann. Derrida verweist auf interne Differenzen und Dynamiken – wie etwa der zwischen dem hilflos leidenden Gekreuzigten und dem mit den Mitteln griechischer Philosophie als absoluter Geist hervorgedachten Gott –, die die Theologie immer schon vorangetrieben haben und gleichzeitig immer auch drohten, von pazifizierenden Formeln überdeckt zu werden. Wenngleich die Vorstellung eines widersprüchlichen oder reuigen Gottes kaum in christlicher Theologie ihre Heimat finden wird, könnte es dennoch erhellend sein, Religion mit Derrida als jenes zu begreifen, was zwischen Glauben und Wissen, Glaube und Sakralität, Judentum und Griechentum „in einem reaktiven Antagonismus eingebettet ist und was gleichzeitig in einer überbietenden wiederholten Selbstbehauptung besteht. [...] Wir haben es folglich mit einem gewissen Fehlen des Weges, der Bahn des Ausgangs, des Heils zu tun – und mit zwei Quellen“ („Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: Derrida/Vattimo, Die Religion, 9–106, 11). Und man möchte ergänzen: Überall dort, wo diese Aporie geleugnet und zugunsten des Glaubens, der Sakralität, des Messianismus oder des Griechentums enggeführt wird, ist Religion, besonders die christliche, in Gefahr.
Dass ein Aushalten dieser und anderer Spannungen nur von einem Jenseits der Sprache gelingen kann, das alle irdischen Dualismen, selbst den von Einheit und Differenz noch einmal umgreift, könnte im Gespräch mit Derrida auch innerhalb eines theologischen Diskurses je neu durchdacht werden. Derrida kommt im Zusammenhang dieser Frage immer wieder auf das Gebet zu sprechen. Das lässt aufhorchen und erinnert an die alte Sitte, theologischen Traktaten ein Gebet voranzustellen. Das Gebet will keine Aussage über Gott machen, hat nicht die Absicht, das überwesentliche Wesen als Überwesentliches ans Licht zu bringen spricht nicht „von“, sondern „zu“. Es geht der theologischen Reflexion nicht nur in einem zeitlich-räumlichen, sondern auch in einem „logischen“ Sinne voraus, denn die Anrede an ein Du antwortet auf einen Ruf, eine Spur, welche Autonomie und Verantwortung erst begründet (vgl. „Wie nicht sprechen“, 56 und 76 f.).