In Denys Arcands „Jesus von Montreal“ (1989) erhält der junge Schauspieler Daniel Coulombe den Auftrag, ein in die Jahre gekommenes Passionsspiel zu „entstauben“, da der Text „ein wenig überholt“ sei. Was Daniel in einem Videomitschnitt der aus vorkonziliaren Zeiten stammenden Inszenierung zu sehen bekommt, ist ein blutleeres Deklamieren von geschraubten Versatzstücken einer überkommenen Sühneopfer-Theologie, und es verwundert nicht, dass seine Truppe diesen Text später bei einer ihr abgezwungenen Leseprobe kräftig parodiert. Wie in einer Kampfansage an den aufgeklärten Geist Arcands sucht Mel Gibson mit seiner „Passion Christi“ jetzt neuerlich die Heilsbedeutung der Menschwerdung Jesu allein in seiner Leidensgeschichte (vgl. HK, September 2003, 438).
Es konzentriert sich alles auf den Leidensleib
Dass das Nachdenken über den Tod Jesu zumindest nicht unter Absehung von seiner gesamten Wirksamkeit in Wort und Tat geschehen kann, mahnt die Theologie seit Jahrzehnten an, soweit sie nicht überhaupt auf Distanz zu dem in den ältesten Schichten der Evangelientradition noch kaum signifikanten Sühnekonzept gegangen ist. Der Stand der theologischen Diskussion ficht Gibson freilich nicht im Geringsten an, er hat ihn sicher nicht auch nur in gröbsten Umrissen zur Kenntnis genommen, obgleich beispielsweise die Katholische Bischofskonferenz in den Vereinigten Staaten schon 1988 in einem wichtigen Papier über „Kriterien zur Beurteilung von Dramatisierungen der Passion“ (www.nccbuscc.org) bei einem solchen Unternehmen nachdrücklich die höchste theologische Sorgfalt eingefordert hatte. Und auch von der Gottesherrschaft, der Mitte von Jesu Verkündigung, spricht sein Menschensohn kein einziges Mal. Sie kommt auch der Sache nach nicht vor, da sämtliche kurzen Rückblenden allein auf das Passionsgeschehen hingeordnet sind – als typologische Vorausbilder (wie die „apokryphe“ Szene vom Stürzen des Jesusknaben) oder als theologische Programm-Szenen. Es ist insbesondere die in viele kurze Bilder fragmentierte Erinnerung an die Einsetzungsworte und die Abschiedsreden, die das „reale“ Brechen des Leibes Jesu als eine Art mitlaufender Kommentarebene begleiten und den Sinn des Leidens verdeutlichen sollen. Mit dem Ausfall der Botschaft von der Gottesherrschaft bricht bei Gibson auch die gesellschaftlich-politische Dimension von Jesu Wirken weg und konzentriert sich alles auf den Leidensleib, der all den Schergen geduldig ausgeliefert wird, damit sie an ihm – ohne dass ihnen das selbst bewusst wäre – das für das Sühnegeschehen nötige grausame Handwerk vollziehen. Hier fällt Gibson nicht nur weit hinter Pier Paolo Pasolinis proto-befreiungstheologische Filmbearbeitung „Das Erste Evangelium – Matthäus“ (1964) zurück, mit der er am Ende nur mehr den süditalienischen Drehort Matera gemein hat. Hier war selbst Oberammergau schon um vieles weiter, indem die jüngste Inszenierung durch die Transposition vieler Logien Jesu aus seiner vor-Jerusalemer Zeit in die Auseinandersetzungen im Tempel auch das gesellschaftskritische Potenzial seiner Botschaft profilierte und mit Verve den „Rabbi“ und „Propheten“ Jesus zur Geltung brachte (vgl. HK, Juli 2000, 357 ff.).
Mit seiner Blickverengung auf den Schmerzensmann und die finalen Stunden des Leidens schließt Gibsons Film an eine frühere Entwicklungsstufe der Passionsspiele an, ja radikalisiert selbst sie noch dahingehend, dass er unmittelbar mit Jesu Gebetskampf in Getsemani einsetzt und vom üblichen „starken“ Auftakt mit Einzug und Tempelaktion nur einige elliptische Rückblenden übrig lässt: karge, subjektive Blicke Jesu über den Kopf, besser: durch die langen Ohren seines Reittiers. Der Geist von Gibsons Inszenierung ist derselbe wie der des überholungsbedürftigen Passionsspiels auf den Hügeln über Montreal. Nur dass jetzt das Skript, in dem so viel vom Blut die Rede ist, auch so blutig wie möglich inszeniert ist – in einem geradezu „barocken Blutrausch“, wie Regiekollege Franco Zeffirelli wohl mit Blick auf die mit so genannten Gräuelszenen gesättigten Märtyrerdramen kritisiert hat. Alter Wein also, aber in den neuen Schläuchen des Gewalt-, Horror- und Splatter Kinos (splatter = Blut verspritzen) und „veredelt“ durch Applikationen ausdem Fundus der klassischenchristlichen Passions-Ikonographie. So werden die letzten Stunden Jesu zu einer einzigen Reise durch die Höllenkreise des Schmerzes, des Blutes und des Drecks – und rot und braun sind denn auch die dominanten Farben. Die kurzen Rückblenden und Seitenblicke, die den Malstrom des Grauens perforieren, lassen weniger durchatmen, als dass sie als kleine „Auszeiten“ die Intensität des Horrors neu befeuern. Das Kino ist an Grausamkeiten ja fürwahr nicht arm und war hier immer besonders erfinderisch, aber selten noch, wenn überhaupt jemals, hat man fast zwei Stunden lang der systematischen Zerstörung, genauer und wortwörtlich: Zerfleischung eines auserwählten Opfers zusehen können (oder müssen!), bis dessen Leib am Ende nur mehr eine einzige offene Wunde scheint und es bis dahin soviel Blut vergossen hat, dass es eigentlich schon hätte mehrere Tode sterben müssen.
Offensichtlich will Gibson durch das Quantum des Leidens und die Drastik, mit der er die Wunden zeigt, die ihnen in (Teilen) der Schrift zugesprochene erlösende Kraft beglaubigen. Er setzt auf ein Überspringen des „Verismus der Schmerzen“ auf die Zustimmung zu einer Wahrheit, die nur im Glauben angenommen werden kann. „Wegen unserer Sünden wurde er zermalmt. / Zu unserem Heil lag Strafe auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Das dem Film als Motto vorangestellte Wort vom leidenden Gottesknecht, das zweifelsohne die neutestamentliche Theologie nachhaltig beeinflusst hat, wird Gibson auch ästhetisch zum Programm. Er hält deshalb so unerbittlich und „hautnah“ auf das Leiden, weil er die Zuschauer förmlich in die Wunden und Schmerzen mit hineinnehmen möchte, bis dahin, dass er den Betrachter wiederholt sogar – christologisch waghalsig – mittels subjektiver Kamera mit der Wahrnehmung Jesu zu assoziieren sucht, um so im Nacherleben der Qualen zumindest anfanghaft auch ihrer „heilenden“ Kraft teilhaftig werden zu lassen. Ganz in diesem Sinne meinte Gibson in einem Interview über den aus einer tiefen persönlichen Krise geborenen Impuls zu diesem Projekt: „Ich entdeckte, dass ich die Wunden Christi und seine Leiden betrachten muss, damit die Wunden in meinem Leben heilen“ (Der Tagesspiegel, 17.02.2004).
Wegen der erhofften Heilungs- und Glaubens-Wirkungen sind auch die evangelikalen Gruppierungen in den Vereinigten Staaten und andernorts in so breiter Front Gibson beigesprungen. Sie haben in der neuen Passion einen ungleich eindrucksstärkeren Nachfolger für ihren bisherigen „Klassiker“ entdeckt: für die unter dem schlichten Titel „Jesus“ verbreitete Bebilderung des Lukasevangeliums, die 1979 unter der Regie von Peter Sykes und John Kirsh im Rahmen des biblizistischen „Genesis-Projekts“ entstanden ist und besonders auf Video und DVD eine immense Verbreitung erzielt hat. Bereits diese Produktion wurde stets als „der authentischste Jesusfilm aller Zeiten“ beworben – einen Rang, den ihr jetzt Gibson ablaufen will. Die Zeiten haben sich gewandelt. Setzten Sykes/Kirsh vor dem Hintergrund der nachklingenden Jesus-People-Bewegung auf Rührung und die „Heimeligkeit“ klischeehafter Devotionalienbilder, da vertraut Gibson in seiner Fokussierung auf die „Wunde“ und getreu seiner Herkunft vom permanent an der Gewaltspirale drehenden Action-Kino auf die Erschütterung und die Wucht so noch nie gesehener Schreckensbilder – jedenfalls sicher noch nie gesehen vom Gros der Menschen, die in Amerika ganze Sondervorstellungen aufkaufen, und auch noch nie von denen, die hierzulande das Gros der Kirchgänger stellen. Ihre Wirkung auf die Psyche und das religiöse Empfinden mag man sich gar nicht ausmalen – geschweige denn die Wirkung auf religiös suchende oder distanzierte Menschen.
Fortschreibung von Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano
Die unmittelbare Vorlage für diese Zuspitzung ist allerdings wieder ein alter Text: die Leidensmystik von Anna Katharina Emmerick (1774–1824), wie sie ihr Clemens Brentano am Krankenlager abgelauscht und später mit einem großen literarischen Eigenanteil und unter breiter Aufnahme älterer geistlicher Literatur in dem Buch „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus“, einem Hauptwerk der katholischen Spätromantik, niedergelegt hat (erschienen zuerst in Regensburg-Stadtamhof 1833). Und über dieses Buch vermittelt sich in Gibsons Film eine lange und mit großen Namen (wie Franziskus oder Ignatius) verbundene Tradition der Passions- und Kreuzesfrömmigkeit, die die Wunden Jesu meditiert. Wer mit dieser Tradition noch vertraut oder wenigstens in Fühlung ist, wird vielleicht mit Gibsons Projekt etwas weniger Schwierigkeiten haben. Während „Das Bittere Leiden“ hierzulande kaum mehr gelesen wird, erfreut es sich gerade in evangelikalen Kreisen in den USA einer sehr hohen Bekanntheit und Wertschätzung. So verwundert es auch nicht, dass Mel Gibson, der seit geraumer Zeit einer vorkonziliar orientierten Gruppe katholischer Traditionalisten angehört und diese kräftig finanziell unterstützt, auf Emmerick aufmerksam werden konnte.
In einem Interview mit dem Schriftsteller Patrick Roth anlässlich des Kinostarts von „Signs“ (2002), in dem er die Hauptrolle, einen Priester, spielt, erinnert sich der Regisseur an die Impulse für eine neuerliche Beschäftigung mit dem Glauben: „Es waren ältere Schriften. Ich erinnere mich nicht mehr an die genauen Titel. Eines stammte von einem Deutschen. Aus dem 18. Jahrhundert, glaube ich. Da ging es um diese Frau – eine Nonne, glaube ich –, deren Visionen einem Dichter diktiert wurden. Eine Mystikerin, deren Visionen er beschrieb. Das Buch war ungeheuer reich an Details“ (Süddeutsche Zeitung, 12.09.2002). Konkret benannt und als die neben den Evangelien maßgebliche Inspirationsquelle herausgestellt wurde das „Bittere Leiden“ dann schon in den frühesten Kommuniqués über das „Passion“-Projekt. Erstaunlich dann, dass Emmericks Name in den Credits im Abspann fehlt, um so mehr, als der Film tatsächlich außerordentlich viel dem Geist und den „reichen Details“ des „Bitteren Leidens“ verdankt. Gibson folgt Brentanos ungemein visueller, ja geradezu „filmischer“ Inszenierung der „Gesichte“ Emmericks oft bis in die Einzelheiten, angefangen mit der Getsemani-Szene, wenn ein Strahl des Mondlichts wie ein „himmlisches“ Spotlight Jesus umfließt, über die Architektur der Paläste des Kaiphas und Pilatus bis hinein in „apokryphe“ Konkretionen der Grausamkeiten: etwa, wenn Jesus auf dem Weg zum Hohenpriester über eine Brücke gestürzt wird und kurz vor dem Aufprall hart mit den Ketten, die ihn fesseln, abgefangen wird; oder auch wenn die Geißelung vorgestellt wird als sich in Stufen steigernde, systematisch die gesamte Körperoberfläche zerarbeitende Barbarei. Auch einzelne Einstellungen wie Gibsons Andachtsbilder mit den Marterwerkzeugen haben Vorbilder im „Bitteren Leiden“ (und der älteren Leidensmystik). Vor allem aber sind von diesem Buch etliche der Szenen inspiriert, über deren Herkunft und Bedeutung viele Zuschauer rätseln: beispielsweise dass Claudia, die Frau des Pilatus, der Mutter Jesu und Magdalena am Rande der Geißelung reine Tücher bringt, die diese anschließend benutzen, um die großen Blutlachen in peinlichster Sorgfalt aufzuwischen – vielleicht gedacht als Vorausbild auf die Reinigung des eucharistischen Kelches von den Tropfen des konsekrierten Weines. Wie Gibsons „Passion“ beginnt auch „Das Bittere Leiden“ mit einer abermaligen Versuchung Jesu durch den Satan, der ihm die Sündenlast als zu groß, um sie zu tragen, vorstellt. Auch die Ausgestaltung der folgenden Handlung bis zur Anklage vor Pilatus zu einem von brutalen Misshandlungen und Demütigungen Jesu strotzenden „ersten“ Kreuzweg schließt dicht an Brentano an. Man kann mit Fug und Recht sagen, Gibsons Arbeit sei auf weite Strecken eher eine Verfilmung von Emmerick/Brentano als der Evangelien.
Wegen der großen Nähe der „Passion Christi“ zum „Bitteren Leiden“ sind die Differenzen umso bemerkenswerter. Zwar fließt auch das Buch in manchen Passagen förmlich über von Gewalt, doch wird diese eher im Stil einer Chronik registriert, als dass sie in ihren grausamen Details effekthascherisch ausgemalt würde. Von der letzten Stufe der Geißelung, der schrecklichsten Sequenz des Films, lesen wir im Buch, dass an den Spitzen der Marterwerkzeuge „eiserne Haken hingen“ und die Schergen Jesus „damit ganze Stücke Fleisch und Haut von den Rippen rissen.“ Mit dem Seufzer „O wer kann den elenden greulichen Anblick beschreiben!“ blendet Brentano hier sogleich ab, doch Gibsons Kamera hält drauf und schildert diese ultimativen Qualen unter Aufbietung aller maskenbildnerischen Kunst und emotionalisierenden Schnitt-Technik im visuellen und akustischen Detail. In Sachen Gewalt überbietet aber bereits Brentano die Evangelien um ein Vielfaches. Denn diesen ist jeder Leidensrealismus fremd. Die Extreme des Leidens wie auch der Herrlichkeit (etwa in Verklärung oder Auferstehung) bleiben in ihnen durchwegs große, bestenfalls in ihren groben Koordinaten gespurte Unbestimmtheitsstellen. Als solche lassen sie den Rezipienten erhebliche Freiräume, sie mit den ihnen fasslichen Vorstellungen zu bespielen.
Im Bibelfilm ging es ja oft sehr drastisch zur Sache, war er doch in Zeiten der strengen Zensur ein bevorzugtes Refugium für die vorgeblich durch das „heilige“ Sujet gedeckte Zurschaustellung von Sex und Gewalt. Verglichen mit Martin Scorseses gewiss nicht zimperlicher „Die letzte Versuchung Christi“ (1988), der letzten großen historisierenden Inszenierung der Jesusgeschichte, dreht Gibson die Eros-Schraube auf Null zurück, die der Gewalt hingegen auf vollen Anschlag und setzt eine neue Grenzmarke im „Körperkino“, einem Kino, das die Zuschauer geradezu leibhaftig packen will. Während Scorsese aber seinen Film mit einem Insert eröffnet, dass es sich bei ihm um die Verfilmung eines Romans und eben nicht der Evangelien handelt, hat sich Gibson von Anfang an die maximale Authentizität aufs Panier geschrieben und von daher auch die Drastik der Gewaltdarstellung zu rechtfertigen gesucht. Natürlich kann man wie Gibson, der sich vom Heiligen Geist geleitet weiß, die Dialoge der Evangelien ins Aramäische und Lateinische (besser wäre Koine-Griechisch gewesen) rückübersetzen. Aber hat man damit mehr in Sachen „Authentizität“ gewonnen, als nur ein ungewöhnliches Klangbild? Und natürlich kann man sich, wie es schon Scorsese tat, in Sachen Ausstattung und Hinrichtungs-„Technik“ historisch kundig machen. Aber das Resultat bleibt nichtsdestoweniger inszenierte Geschichte. Das wird dann bedenklich, wenn das Inszeniertsein und damit der subjektive Anteil geleugnet werden, indem Gibson Kritik an ihm regelmäßig mit der Bemerkung abweist, sie treffe ja gar nicht ihn, sondern die Evangelien (deren Verfasser er im Übrigen für Augenzeugen hält). In der behaupteten maximalen Authentizität zeigt sich dabei regelmäßig das immer gleich eklatante Missverhältnis von durchaus respektabler „landeskundlicher“ Informiertheit und völliger exegetischer Ignoranz. Allein an diesem fatalen Widerspruch muss Gibsons Film scheitern.
Die Schurken im Hohen Rat
Sieht man Gibsons „Passion Christi“, könnte man meinen, es habe nie eine wissenschaftliche Exegese gegeben – weder eine historisch-kritische „Rückfrage nach Jesus“ noch eine Arbeit unter irgendwelchen anderen methodologischen Vorzeichen. Geradezu voller Stolz wird das Epos im Presseheft als „Evangelienharmonie“ präsentiert. Ganz in alter, besser: mittelalterlicher Manier mixt Gibson ungeniert die Überlieferungen, addiert, glättet oder akzentuiert – immer unter dem Vorzeichen der traditionellen Bevorzugung des Johannesevangeliums. Mit dem vierten Evangelium, dessen Passionshandlung sich wohl auch als die liturgisch vertrauteste und materialreichste empfohlen hat, tritt natürlich zugleich diejenige Fassung der Passion in den Vordergrund, die – wider den historischen Befund – „die Juden“ am stärksten mit der Schuld am Tode Jesu behaftet und das Pilatusbild am kräftigsten schönt. Der angeblich auf Authentizität versessene Gibson tut nichts, um hier moderierend einzugreifen, sondern intensiviert diese disproportionale Schuldverteilung noch weiter. Gerade die Zeichnung des Prokurators war noch immer ein Testfall darauf, wie ernst es einer Evangelien-Dramatisierung mit der Historie ist und ob sie der jüdischen Seite einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Mit der Vorstellung des Pilatus als zwielichtige, lavierende und tendenziell negative Figur waren hier Emmerick/Brentano dem „wirklichen“, wegen seiner Rücksichtslosigkeit sogar aus Judäa abberufenen Pilatus um einiges näher als Gibson, der ihn wieder einmal ganz als Opfer jüdischer Erpressung erscheinen lässt. Unter dem Druck der Hohenpriester, die ihn in der Hand haben, muss er trotz aller Rettungsbemühungen, zu denen ihn auch seine bereits christusgläubige Frau Claudia anfeuert, kapitulieren. Konsequenterweise haben bei Gibson die Römer keinerlei Interesse oder gar Anteil an Jesu Gefangennahme. Sie erfolgt allein auf Betreiben des Hohen Rats unter seinen beiden Vorsitzenden Annas und Kaiphas, die entsprechend der Passionsspieltradition immer in enger Wirkeinheit auftreten. Gibson lässt sie wie die gnadenlosen Despoten eines Schurkenstaats agieren. Mögen die römischen Schergen noch so wüten: die Drahtzieher und „wahren“ Verantwortlichen für Jesu Tod sind hier eindeutig die jüdischen Ratsherrn. Die zwei, drei kritischen Einwendungen aus ihren Reihen gegen die Prozessführung, die Gibson zulässt, reichen nicht annähernd hin, um eine Pro-Jesus-Fraktion im Rat zu profilieren. Berücksichtigt man neben der Diskussionslage innerhalb der christlichen Exegese, die die Mitverantwortung der Jerusalemer Tempelaristokratie am Tod Jesu aus dem zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen sucht, auch das allenthalben zu beobachtende Auflodern eines neuen Antisemitismus, kommt man kaum umhin, die Sorgen jüdischer Interessensverbände wie der „Anti-Defamation League“ (ADL) oder des „American Jewish Committee“ zu teilen: die Sorge, dass Gibsons Film – so ADL-Präsident Abraham Foxman – geeignet ist, „antisemitische Gefühle zu wecken oder zu bestärken“ oder dementsprechend instrumentalisiert zu werden. Das ist natürlich etwas anderes, als Gibson eine bewusste antisemitische Hetzkampagne vorzuwerfen, wogegen er sich häufig meint verteidigen zu müssen, und auch etwas anderes, als ihn wegen der unerträglichen anti-jüdischen Äußerungen und der Holocaust-Leugnung seines Vaters in Sippenhaft zu nehmen. Aber vom Vorwurf eines zumindest „fahrlässigen“ Antijudaismus kann man den Sohn kaum entlasten. Gibson macht es sich viel zu leicht, wenn er sich mit dem Hinweis auf judenkritische Züge in den Evangelien über alle Vorwürfe erhaben fühlt. Denn weder versucht er, die einschlägigen biblischen Traditionen kritisch reflektiert zu bearbeiten, wie es sein Authentizitäts-Pathos eigentlich verlangen würde, seine biblizistische Naivität aber verhindert, noch bringt er gegenläufige Tendenzen in den Evangelien auch nur ansatzhaft zur Geltung. Noch bedenklicher ist, dass er gerade die Züge der Evangelien, die bei oberflächlicher Lektüre des Antijudaismus verdächtigt werden können, noch durch ein ganzes Bündel von teils subtilen, teils plakativen Verleumdungen der jüdischen Seite ausbaut – Verleumdungen visueller und narrativer Natur, die entweder keinerlei biblischen Haftpunkt haben oder aber vorhandene Motive völlig unproportional verzerren. Das beginnt bereits mit der Physiognomie von Annas und Kaiphas: Hat der eine ein wie von Hass und vom Bösen zerfurchtes Gesicht, so entblößt der andere gleich bei seinen ersten Worten ein auffällig schlechtes Gebiss. Die den Gesichtern eingeschriebene Herzenshärte erhält denn auch genügend Raum, sich kräftig auszuagieren.
Ungerührt haben die Tempelherren (gegen das biblische Zeugnis) lange Zeit der entsetzlichen Geißelung zugesehen und voll des Hasses und Spottes tritt Kaiphas noch an den zur Ungestalt zerschundenen Gekreuzigten heran und verhöhnt ihn. Dass gelegentlich, etwa bei der Geißelung, der Satan in androgyn-weiblicher Gestalt durch die Reihen der Ratsherren wandelt, mag – wie bei Emmerick/Brentano – in heilsgeschichtlicher Perspektive als Entlastung der Juden gedacht sein, erschließt sich aber so nur gläubigen Christen und ändert im Kontext des Films nichts an der denunzierenden Optik. Und wenn sich manche im Hohen Rat angesichts der Begleitwunder beim Tod Jesu – sie dürfen in Gibsons „authentischer“ Darstellung natürlich nicht fehlen! – schuldbewusst auf die Brust schlagen und zum Herrn flehen, wird dies zunächst als Bestätigung ihrer großen Blutschuld gesehen werden. Bezeichnenderweise hat Gibson den mit einer unheilvollen Wirkungsgeschichte beladenen „Blutruf“ von Mt 27,25 doch nicht wie angekündigt herausgeschnitten, sondern nur nicht untertitelt. Das Volk in Jerusalem zeichnet Gibson ebenfalls weithin negativ. Es ist keineswegs zuvorderst der Pöbel oder eine mit Geld bestochene Menge (wie im „Bitteren Leiden“), die mit Schmähungen und Handgreiflichkeiten gegen Jesus wütet, sondern ein breiter Querschnitt der Bevölkerung. Die Jünger Jesu bilden darin ebenso wenig eine signifikante Gruppe (es sind immer nur die drei Aufrechten, Maria, Magdalena und Johannes, die den Leidensweg begleiten) wie die möglicherweise aus Enttäuschung oder Verzweiflung von ihm abgefallenen ehemaligen Anhänger. Sichtlich Mitleid haben nur einige Frauen, unter ihnen selbstredend „Veronika“, und der recht differenziert angelegte Simon von Cyrene, dessen Mittragen des Kreuzes, ja förmliches Tragen Jesu, zu den eindringlichsten Momenten des Films zählt.
Dramaturgie und Inszenierung
Dass das Zerrbild des Hohen Rats so schwer erträglich ist, hängt auch mit der Konzentration auf die letzten zwölf Stunden Jesu zusammen. Nachdem keine „sachdienlichen“ Rückblenden vorhanden sind, fehlt auch eine vorbereitende Konfliktgeschichte, die das Staccato der Anklagen motivieren könnte. Als Gipfel des Prozesses vor Kaiphas wird zwar die von Jesus positiv beantwortete Messias-Frage inszeniert, aber zugleich ist klar, dass Jesu „Todesurteil“ schon bei der Gefangennahme festgestanden hatte. Wie im „Bitteren Leiden“ wird im Hof des Hohenpriesters bereits das Kreuz gezimmert, als Jesus dort ankommt. Nur: die Gründe für all den Hass, der über Jesus hereinbricht, bleiben ganz der Phantasie oder dem Vorwissen des Zuschauers überlassen. Ihm traut Gibson überhaupt einiges an Bibelfestigkeit zu. So wollte er die Geschichte anfangs wie in der Stummfilmzeit ganz ohne Untertitel erzählen, und es dauerte lange, bis ihm wohl seine Marketing-Abteilung diese fixe Idee ausgeredet hatte. Wem beispielsweise die Episode von der Ehebrecherin (hier einmal mehr mit Magdalena identifiziert) unbekannt ist, der wird Mühe haben, die fragmentierte Rückblende auf sie zu verstehen; und nur wer sich in den christlichen Legenden gut auskennt, wird die Ankerpunkte für solche wahrnehmen, die Gibson in seine Erzählung eingelassen hat: etwa die Bekehrung des Malchus oder die von Pär Lagerkvist ausgebaute Legende von der späteren Christusnachfolge des Barabbas, die Gibson allein mit einem intensiven, den Freigelassenen sichtlich „treffenden“ Blick Jesu exponiert.
Aufgrund der ausufernden Darstellung der Grausamkeiten sind die meisten Charaktere recht flach geraten. Mehr an Tiefenprofil gewinnt durch ihre intensive Präsenz vor allem die Mutter Jesu (Maia Morgenstern), die deutlich an die Maria in Franco Zeffirellis Fernseh-Vierteiler „Jesus von Nazareth“ (1976) erinnert. Wie sein Vorgänger zeichnet sie auch Gibson ohne große Worte als eine von tiefem Wissen um Gottes Heilsplan erfüllte Mater Dolorosa. Klischeehaft bleiben hingegen die meisten anderen Freunde und auch Gegner Jesu, etwa der wie gehabt dekadente Herodes Antipas (siehe „Jesus Christ Superstar“), der nachdenklich werdende Centurio „Abenader“ (so benannt nach Emmerick/Brentano) wie auch Maria Magdalena, die ewig leidende Ex-Sünderin mit aufgelöstem Haar, und Johannes und Petrus, die neben Judas einzigen aus dem Jüngerkreis, die überhaupt nennenswert ein „Gesicht“ erhalten. Judas wiederum ist stark in den Szenen, in denen er vor Schuldgefühlen wahnsinnig wird und sich erhängt. Doch die in den Evangelien selbst vielstimmig orchestrierte Frage, weshalb er Jesus verraten habe – für viele Literaten und Regisseure ein Anstoß zur Entwicklung eines komplexen Charakters –, bleibt diffus auf das Motiv der Geldgier ausgerichtet. Das gibt dann wiederum Gelegenheit, die Hohenpriester gleich bei ihrem ersten Auftritt nach dem üblen Klischee des „Schacherjuden“ zu exponieren. Auch der von Jim Caviezel vorgestellte Jesus bleibt bei allem Leiden wenig einprägsam. In den knappen Rückblenden erscheint er seinen Zuhörern als netter, sanftmütiger Prediger und seiner Mutter als ein liebevoller, zu Scherzen aufgelegter Sohn, auf den sie auch von seinem Aussehen her stolz sein kann. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht, gepflegtem Langhaar und der muskulös-virilen Statur passte er auch sehr gut in Bettina Rheims „I.N.R.I.“-Fotobuch, in seiner Leidensgestalt hingegen auf das Cover einer neuen Emmerick-Ausgabe (zum Beispiel in jener Großaufnahme, die das Presseheft ziert). Doch irgendein Charisma, das Jesu Wirkung erahnen ließe, kann Caviezel nicht entwickeln. Dazu ist er viel zu sehr auf den Leidenskörper reduziert, der weit mehr durch die seiner Haut eingravierten Wunden sprechen soll, als durch die wenigen Worte aus seinem schon bald blutig geschlagenen Mund.
Die Kamera ist auf der Höhe der Zeit, vorab was das Actionund Horrorgenre angeht. Wirklich originelle Bildfindungen sind jedoch selten. Mutig sind, neben den wiederholten subjektiven Blicken Jesu, die beiden „Gottesblicke“ hinab auf Golgotha: Durch ein Froschaugen-Objektiv aus einer hohen Vogelperspektive gesehen, wölbt sich der Richtplatz wie zu einem kleinen Globus, so als wollte damit die kosmische Dimension des Erlösungsgeschehens angezeigt sein. Gelinde gesagt eigenartig wirkt es dann aber, wenn die Linse tricktechnisch zu einer Art „Träne Gottes“ zusammenschnurrt und eine zweite Optik die Bahn dieses Tropfens verfolgt, bis er auf der Schädelstätte einschlägt und das Begleitwunder des Erdbebens auslöst. Noch einmal schwingt sich dann das „theomorphe“ Kamera-Auge in diese erhöhte Perspektive, um den Satan auf der nunmehr verdorrten Erde Golgothas toben zu sehen – weil er seine Niederlage erkennt, da er das Erlösungsopfer nicht hat aufhalten können. Nach all den Schmerzen muss Gibson dann noch ein österliches Fenster öffnen, und er tut es erfreulich kurz und ohne den sonstigen naturalistischen Gestus: Nach einem langen Stück Schwarzfilm finden wir uns im Innern der Grabkammer wieder und sehen den Rollstein langsam den Eingang freigeben. Eben erst scheint der Leichnam Jesu das Tuch, das ihn auf einer Steinplatte umhüllt hatte, verlassen zu haben, ist es doch gerade dabei, in sich zusammenzusinken, als es in den Blick der Kamera kommt. Dann sehen wir vor ihm sitzend, im Profil und golden und rein leuchtend den Auferstandenen, bis dieser aufsteht und nach rechts, auf die glücksverheißende Seite, aus dem Grab und aus dem Bild geht.