Metaphysik, Moral und Religion bei Immanuel KantVom Unbedingten angetrieben

Keine Philosophie hat das moderne Denken so geprägt wie die Immanuel Kants (1724– 1804). Kant, der lange auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher stand, betrieb Vernunftkritik um der Ausrichtung des Menschen auf das Unbedingte willen. Das prägt auch sein Verständnis von Religion, vom Verhältnis von Vernunft und Offenbarung.

Kant gilt weiten Kreisen als Erkenntnistheoretiker, der die Möglichkeit der Metaphysik bestreitet, als Verfechter einer autonomen Moral, die keine Religion voraussetzt – zusätzlichnoch als distanzierter Betrachter des Offenbarungsglaubens und als Kritiker der kirchlichen Praxis. Diese in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinungen stützen sich jedoch auf isolierte, oberflächlich oder sogar falsch erfasste Zitate. Sie führen zu Fehleinschätzungen der tieferen Intentionen Kants. Kant war vielmehr von metaphysischen Fragen getrieben. Da er die Vernunft „mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht“ sah, Metaphysik als Wissenschaft zu begründen (KrV B XV), haben Leser, denen Sinn für metaphysische Fragen fehlt, keinen Zugang zu Kants kritischem Denken. Und Kants praktische Philosophie bleibt unverstanden, solange Lesern der Sinn für die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes fehlt, für „das einzige Factum der reinen Vernunft“. Gegen alle Versuche, die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes abzuschwächen oder aufzulösen, steht Kants Wort, die Heiligkeit des Willens diene uns als Urbild, „welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“ (KpV A 58). Dieses Wort ist der reinste und tiefste Ausdruck der Intention der Philosophie Kants.

Dass Kants Philosophie in Verkehrung ihrer Intention von naturalistischen Metaphysikgegnern und Fatalisten usurpiert wird, ist nur die eine traurige Seite heutiger verfehlter Kant-Rezeption. Die andere besteht in der entgegengesetzten Verkennung der Motive der kritischen Philosophie. Auch hier sieht man Kants Ziel nicht in der Rettung, sondern in der Zerstörung der Metaphysik. Die Supranaturalisten suchen Beruhigung bei sicheren Wahrheiten und mühen sich, die dogmatische Metaphysik antikritisch zu erneuern. Denn sie fürchten, Kants Denken führe in Subjektivismus und Skeptizismus. Dabei hätten sie schon bei Augustinus lesen können, dass Gott nicht gefunden hat, wer meint, ihn erfasst zu haben (sermo 117,6): „de deo loquimur; quid mirum, si non comprehendis; si enim comprehendis, non est deus“. Weder für die faktische Ungewissheit menschlicher Existenz noch für die unfassbare Größe Gottes haben solche Spiritualisten Sinn. Ihre Gier nach dogmatischer Sicherheit lässt sie übersehen, mit welch nüchternem Enthusiasmus Kant einen Weg gesucht und gefunden hat, auf dem absolut Unbedingtes ohne Widerspruch gedacht und in Übereinstimmung mit den Einsichten der Vernunft geglaubt werden kann. Beide Auslegungen der kritischen Philosophie Kants sind üble Karikaturen. Sie markieren die seltsam unphilosophische Art einer coincidentia oppositorum: nämlich die versteckte Einigkeit der Materialisten und der Spiritualisten, trotz dogmatischer Widersprüchlichkeit ihrer Thesen. Auf den Geist der Philosophie Kants können sich die falschen Befürworter ebenso wenig wie ihre unverständigen Gegner berufen. Denn was Kant zum Denken trieb und was er auf dem langen Weg seines Denkens fand, ist von solcher Klarheit und Eindeutigkeit, dass jedem gründlichen und offenen Leser alsbald klar wird, wie sehr Metaphysik und Religionsphilosophie im Zentrum der kritischen Philosophie stehen – und wie sehr Kant zudem bestrebt war, den Übergang zum Offenbarungsglauben nicht zu verschütten. Zu zeigen, ob und wie im Anschluss an die philosophische Religionslehre der Weg zum Offenbarungsglauben beschritten werden kann, ohne dass die Vernunft Schaden leidet, ist jedoch die Aufgabe der Theologen des Offenbarungsglaubens, für dessen Bereich die bloße Vernunft nicht zuständig ist.

Gott, Freiheit und Unsterblichkeit

Früh haben Katholiken Kants Philosophie studiert und geschätzt. Einer von ihnen, Matern Reuß, Würzburger Benediktiner und Professor für Philosophie, der Kant 1792 in Königsberg besucht hat, wirft in seinem Brief an Kant vom 21. April 1797 ein Schlaglicht auf die Situation. Er beginnt mit folgender Bemerkung: „Es kan Ihnen nicht gleichgültig seyn, zu erfahren, dass ihre Grundsätze auf dem Boden des kathol. Teutschlandes immer festeren Fuß setzen.“ Der katholische Frühkantianismus hatte allerdings auch Gegner. Denn manche Katholiken – wie manche Protestanten – fürchteten die destruktive Kraft der kritischen Philosophie und meinten, sie führe zum Skeptizismus. Diese Tendenz setzte sich bei katholischen Theologen fast allgemein durch, nachdem die Kritik der reinen Vernunft mit Dekret vom 11. Juli 1827 auf den Index der verbotenen Bücher geraten war. Obwohl es weiterhin verständige katholische Leser der Werke Kants gab, waren sie für Katholiken nun gleichsam geächtet. Zudem geriet Kant auch in die Mühlen der „Kontroverstheologie“ und wurde gelegentlich als „Philosoph des Protestantismus“ konfessionell vereinnahmt (einmal wurde er aber auch als „Philosoph des Katholizismus“ bezeichnet). In katholischen Lehrbüchern wurden ihm Thesen unterschoben, die er selbst bekämpft hat – und Katholiken hatten Leseverbot! Eine Wende in dieser Lage, die keine übergroße Wahrheitsliebe bezeugt, brachte der von Johannes Baptist Lotz 1955 herausgegebene Band: Kant und die Scholastik heute. Danach hat eine Reihe katholischer Gelehrter die Kantforschung befördert und an der Klarstellung des metaphysischen Charakters der Philosophie Kants mitgewirkt. Kants Kritik richtet sich gegen den Stolz der Schulen, gegen das, was er „Dogmatismus“ nennt. Der Verlust, den die Kritik herbeiführt, „betrifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs das Interesse der Menschen“ (KrV B XXXII). Die „Hoffnung eines künftigen Lebens“, „das Bewußtsein der Freiheit“ und „den Glauben an einen weisen und großen Welturheber“ sieht Kant durch die Kritik nicht beschädigt: vielmehr hat die Kritik zur Folge, „dass die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch eben so leicht gelangen kann“ (KrV B XXXIII). Was Kant als „allgemeine menschliche Angelegenheit“ bezeichnet, ist „das praktische Interesse der reinen Vernunft“, in dem wir es mit zwei Fragen zu tun haben, „nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (KrV B 831). Antwort findet Kant durch die Bearbeitung der drei berühmten Fragen, in denen sich alles „Interesse meiner Vernunft (das speculative sowohl, als das praktische) vereinigt“. Sie lauten (KrV B 833): „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ In der Logik fügt Kant eine vierte Frage hinzu, nämlich (A 25): „Was ist der Mensch?“ Dazu erklärt er: „Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“

Es geht Kant jedoch nicht um die Verwandlung von Metaphysik, Moral und Religion in Anthropologie, wie man sie später bei Ludwig Feuerbach finden kann. Vielmehr ist es von Anfang an das Unbedingte, das Kants Denken sowohl in der theoretischen und der praktischen Philosophie als auch in der philosophischen Religionslehre antreibt. Das Unbedingte, um das es Kant geht, wird konkret gefasst unter den Titeln Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (Fortdauer der Existenz). Diese Themen haben für Kant höchste praktische und existenzielle Relevanz.

Worauf zielt Kants Metaphysikkritik?

1790 oder 1791 notiert Kant zur „Veranlaßung der Critik“, dass „die Theologie auf die ästhetische Critik“ führe (Reflexion 6317=AA 18, 627). Denn wenn man Raum und Zeit zu Bestimmungen der Dinge an sich selbst machen wollte, müssten „sie gar zu göttlichen Eigenschaften gemacht werden“ (626). Demnach war es von vornherein Kants Motiv, der Theologie dazu zu verhelfen, dass sie „sich nicht selbst wiederspreche“. Das zeigt auch die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Dennoch verfallen flüchtige Leser der Meinung, Kant habe das Subjekt gleichsam in die Zentralposition im Ganzen des Seienden einsetzen wollen. Einer der Sätze, mit dem sich diese irrige These scheinbar begründen lässt, besagt, „dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (KrV B XIII). Dieser Satz betrifft aber nicht den Hauptzweck der Metaphysik, sondern nur die Diagnose des Wegs, auf dem Naturforschung Wissenschaft wurde. Ohne Hypothesen, die von der Vernunft entworfen wurden, haben wir keine Chance, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen.

Sofern Unbedingtes (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) nicht als Erkenntnis gedacht werden kann, die auf Entwürfen gründet, scheint alles Unbedingte zunächst ein haltloses Hirngespinst zu sein. Gegen die These, die Annahmen von Unbedingtem seien Träume eines Geistersehers (so der Titel eines vorkritischen, zum Skeptizismus neigenden Werks), zielt Kant schon in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft, in der es um die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis geht. Laut Kant sind „zwei Stämme der menschlichen Erkenntniß“ vorauszusetzen: „Sinnlichkeit und Verstand“ (KrV B 29), wobei der Verstand die Natur zu antworten nötigt – wie ein Richter die Zeugen (KrV B XIII). Objektive Erkenntnis entspringt demnach „aus zwei Grundquellen des Gemüths“: der „Receptivität der Eindrücke“ und der „Spontaneität der Begriffe“ (KrV B 74). Nicht erkennen lässt sich auf diese Weise Unbedingtes. Dennoch sind in der Erklärung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis Voraussetzungen gemacht, die zwar gedacht werden müssen, aber selbst nicht erkannt werden können. Gewiss müssen wir die unableitbare Gegebenheit des Sinnenmaterials voraussetzen, das bekanntlich einfach da ist. Ebenso gewiss müssen wir aber auch das Dasein eines spontan denkenden Ich voraussetzen, das in seiner Spontaneität nicht sinnlich gegeben sein kann und folglich als solches nicht objektiv erkannt werden kann.

Um Unbedingtes auch nur denken zu können, muss es aus dem Bereich des objektiv Erkennbaren herausgehalten werden. Das leistet die vielgescholtene Kritik der Gottesbeweise und der dogmatischen Metaphysik. Sie weist den Weg, auf dem wir das Dasein Gottes, die Freiheit des Willens, die Existenz von Personen über ihren Tod hinaus im Einklang mit der Vernunft glauben können. Weit entfernt davon, den „Glaubenswahrheiten“ schaden zu wollen, sagt Kant (KrV B XXX): „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Wer nicht das Feuer der Frage nach Unbedingtem in sich trägt, könnte kalten Herzens fragen, warum wir Unbedingtes suchen, obwohl wir doch einsehen, dass es nicht objektiv erkennbar ist. Wer meint, in dieser Weise der Frage nach dem Unbedingten entweichen zu können, wird von Kant belehrt, dass die Natur der Vernunft selbst uns zur Frage nach dem Unbedingten treibt. Denn die Vernunft lässt uns immer weiter nach Bedingungen zum gegebenen Bedingten fragen. Nehmen wir zum Beispiel die beiden Urteile, dass Sokrates ein Mensch und dass er sterblich ist. Diese Urteile könnten zufälligerweise wahr sein (so wie das weitere Urteil, dass er Athener war). Die Vernunft treibt uns aber, notwendige Verknüpfungen zu suchen, hier also die Verknüpfung von Menschsein und Sterblichsein. Wir denken sie in dem Urteil: „Alle Menschen sind sterblich.“ Zum Bedingten finden (erfinden) wir also eine Bedingung. Laut Kant ist es „der eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt [...]: zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“ (KrV B 364).

Moralische Qualität haben nur Handlungen aus reiner Pflichterfüllung

Die Idee, in der wir die höchste Bedingung denken, bezeichnet Kant als „transzendentales Ideal“. In ihm entwerfen wir den Gedanken einer Wirklichkeit, aus der alles Bedingte abgeleitet werden kann. Wir denken es so, als ob alles Bedingte aus ihm hervorgegangen sei. Da es bloße Idee bleibt, kommen wir, indem wir die Idee des Ideals entwerfen, höchstens in die Lage, Unbedingtes ein wenig zu berühren. Das Ergebnis der theoretischen Philosophie im Blick auf ihren Hauptzweck ist also das Problem des Unbedingten: eine notwendige, theoretisch aber unlösbare Aufgabe. Dieses Ergebnis findet sich im ersten Satz der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (A VII): „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

Obwohl Kant im Ergebnis der theoretischen Philosophie nur zu einer Metaphysik der Probleme gelangt, zu einer Metaphysik notwendiger, theoretisch aber unlösbarer Aufgaben, wehrt er doch auch den Versuch einer skeptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten Vernunft ab (KrV B 786 ff.). Kants These ähnelt dem Ergebnis, das Augustinus nach der Auseinandersetzung mit der akademischen Skepsis formuliert hatte. Die theoretische Unlösbarkeit der Aufgaben führt weder zu Gleichgültigkeit noch zu Verzweiflung, sondern zu einer sachgemäßen Offenheit für die unbedingte Wahrheit, die womöglich von anderer Seite her begegnen kann. Augustinus erkennt sich, sofern er Mensch ist, als ruheloses Herz, das seine Ruhe nur in Gott finden kann. Wie die Confessiones zeigen, fand auch er den Weg zu dieser Wahrheit über die Praxis. Die theoretische Untersuchung führt die menschliche Vernunft in eine unauflösliche Dialektik. Statt zu resignieren oder zu verzweifeln, nennt Kant diese Dialektik „die wohlthätigste Verirrung, in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind“ (KpV A 193).

In diese Ordnung geraten wir ohne unser Zutun, nicht infolge eines Entwurfs unserer Vernunft. Zwar zeigt schon die theoretische Nachprüfung, dass Freiheit nicht unmöglich ist (KrV B 561 ff.). Jetzt aber wird „bewiesen, dass Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz“ (KpV A 5). Das Gesetz wird in moralisch relevanten Situationen bewusst. Sein unableitbarer Grund ist, dass „die vernünftige Natur [...] als Zweck an sich selbst“ existiert. Da es nicht nur mich als vernünftiges Wesen gibt, sondern auch die Anderen, tritt jedem Ich ein unbedingt gebietender praktischer Imperativ ins Bewusstsein (GMS BA 66 f.): „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Er gebietet kategorisch, dass ich jede Person stets auch als Zweck an sich selbst achten soll, dass ich Personen niemals bloß als Mittel für meine Zwecke brauchen darf. Dieses Gesetz gilt so unbedingt, dass es mich dazu anhalten kann, meine wirksamsten natürlichen Neigungen zu besiegen, sogar meine Liebe zum Leben.

Falls ein Fürst jemandem unter Androhung der Todesstrafe „zumuthete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann [...] abzulegen“, so ist dieser Mensch laut Kant fähig, „so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden“ (KpV A 54). Das Verbot falscher Beschuldigung folgt aus der Achtung der Anderen als Personen. Solche Achtung fordert, Maximen zu wählen, die „jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten“ können (KpV A 54). Das Bewusstsein der Pflicht gegenüber Anderen ist „das einzige Factum der reinen Vernunft“; es unterwirft uns dem Gesetz, das „wir das Sittengesetz nennen“ (KpV A 56). Die „Autonomie des Willens“ fordert Achtung, die „nur auf Personen, niemals auf Sachen“ geht (KpV A 58; 135). Sie schränkt unsere Selbstliebe ein und passt zur Möglichkeit des biblischen Gebots: „Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst“ (KpV A 129; 147). Kant nennt die „Vorschrift des Evangelii“ das Urbild, „welchem wir uns zu näheren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen“ (KpV A 149).

Der Vernunftglauben lässt dem Offenbarungsglauben Platz

Überall, wo Selbstliebe das Prinzip der Handlungen ist, findet Kant „Heteronomie der Willkür“. Auch hinter der Rede von „Liebe“ oder „Gott“ kann sich doch klug kalkulierende Selbstliebe verbergen. Moralische Qualität haben nur Handlungen, die aus reiner Pflichterfüllung, aus reinem Wohlwollen, aus reiner Liebe geschehen. So versteht sich auch Kants Verteidigung der christlichen Moral gegenüber den „Ideen der Cyniker, der Epikureer, der Stoiker“, die allesamt den „bloßen Gebrauch der natürlichen Kräfte dazu hinreichend fanden“ (KpV A 229 Anm.).

Da Kant den Gebrauch natürlicher Kräfte nicht hinreichend findet, sieht er uns mit der Moral in das „Reich der Gnaden“ (civitas Dei) versetzt, dessen Ort zwischen dem „Reich der Natur“ und dem „Himmelreich“ zu denken ist (Reflexion 6159=AA 18,471). Was uns treibt, die Wirklichkeit des Unbedingten anzunehmen, ist das Bewusstsein des moralischen Gesetzes. Das Unbedingte tritt nicht als entworfene Idee unter der Maßgabe des natürlichen Willens auf, der wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält. Denn dort steige ich gerade „so hoch in der Reihe der Gründe, wie ich will“ (KpV A 256). In der Situation eines „reinen Vernunftwillens“ zeigt sich dagegen, dass er „hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht“ (KpV A 258). Schon im Rahmen der praktischen Philosophie beginnt der Übergang zur Religion, die Kant als „Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote“ denkt (KpV A 233). Einige Stufen von Kants Weg zur Religion sollen abschließend betrachtet werden.

Kant lässt die Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift mit folgendem Hinweis beginnen (RGV BA III): „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beachten.“ Dass diese Stelle nicht als Affront gegen Gott als Gesetzgeber des moralischen Gesetzes gemeint ist, zeigt schon Kants Bestimmung der Religion als „Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote“. Wer die Moral aus dem Willen eines Allmächtigen ableitet, vernichtet die Möglichkeit menschlicher Freiheit, da die Befolgung dann aus Klugheit und Furcht geschähe, die Zuwiderhandlung aber nichts wäre als übergroße Dummheit. In analogem Zusammenhang sagt Kant (KpV A 265): „Das Verhalten der Menschen [...] würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.“ Einfach gesagt: Was wir sollen, sollen wir aus Achtung und Liebe für die Anderen tun, nicht um Gott zu gefallen. Handeln wir aber wir aus Achtung und reiner Liebe, könnten wir das Gefallen Gottes finden, sofern wir uns dem „Ideal einer Gott wohlgefälligen Menschheit“ nähern (RGV B 75). Ein dialektisches Zusammenspiel von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade wird so möglich; unmöglich wäre eine Rechtfertigung allein aus Gnade.

Obwohl Moral keine Religion voraussetzt, führt sie „unumgänglich zur Religion“ (RGV B IX), nämlich aus einem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft (RGV B 211): „Diesem Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäß ist nun der allgemeine wahre Religionsglaube der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d.i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eignen heiligen Gesetze, d.i. als gerechten Richter.“ Kant sieht in diesem Glauben „eigentlich kein Geheimniß“. Seine restringierte Auslegung des Offenbarungsglaubens bedarf aber insofern keiner Kritik, als ein Vernunftglaube, der ausdrücklich „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ entfaltet wird, kein übernatürliches Geheimnis enthalten kann. Der Vernunftglaube folgt den Maßgaben der philosophischen Reflexion. Kant bestreitet aber nicht die Möglichkeit eines weitergehenden Glaubens, nennt für ihn allerdings einige Kriterien. Sogar dem Wort von der Philosophie als ancilla theologiae hat Kant zugestimmt (SF A 26): „Auch kann man allenfalls der theologischen Facultät den stolzen Anspruch, dass die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt), wenn man sie nur nicht verjagt, oder ihr den Mund zubindet.“

Das Verhältnis des Vernunftglaubens zum Offenbarungsglauben hat Kant im Bild zweier konzentrischer Kreise erläutert. Indem die philosophische Religionslehre den inneren Kreis ausfüllt, ist der Theologie des Offenbarungsglaubens Platz gelassen, den äußeren auszufüllen. Kant sagt (RGV B XXIf.): „Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere als eine engere in sich beschließt, (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als concentrische Kreise) betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Principien a priori) halten, hiebei also von aller Erfahrung abstrahiren muß.“ In dieser Situation hätten Theologen des Offenbarungsglaubens über das Wesen des Geschichtlichen nachzudenken, zu fragen, wie es mit dem Verhältnis des Absoluten zur Geschichte steht. Denn das Eingehen auf die konkrete Geschichte überschreitet die Grenzen der bloßen Vernunft. Hier hat die Theologie der Offenbarung ihr fruchtbares Feld, das sie auch beackern sollte.

Kant bietet nicht nur praeambula fidei für die Theologie, sondern auch für das geistliche Leben. So lässt er – trotz mancher Vorbehalte, die er gegen das Beten hegt – die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft mit einem Text enden, in dem er zur Verehrungswürdigkeit der ewigen Weisheit spricht, einem Text, der dem „Geist des Gebetes“ entspricht. Kant sagt (KpV A 266): „Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, dass die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ.“ In diesem Sinn bedeutet der Gottesgedanke „Gegenwart und Anbetung (inigste Bewunderung)“ (Opus Postumum = AA 22,310).

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