Der verstörend-heilsame Verfremdungseffekt der Passion nach Mel Gibson„Durch seine Wunden sind wir geheilt“

Zum Start des Films „Die Passion Christi“ von Mel Gibson haben wir eine ausführliche Besprechung des Neutestamentlers Reinhold Zwick gebracht (vgl. HK, April 2004, 172 ff.). Der Neutestamentler Alois Stimpfle reagiert auf diesen Beitrag. Er sieht in dem Film bisher kaum gewürdigte Ressourcen für das Verstehen der Bibel.

Gibsons „Passion“ kann einen nicht unbeteiligt lassen. Schon gar nicht als neutestamentlichen Bibelwissenschaftler, nochweniger eigentlich als katholischen Theologen. Der gewaltige Film hat nicht minder gewaltige Reaktionen hervorgerufen, oft ähnlich überzogen, wie offensichtlich die meisten den Film selbst als überzogen empfinden. Die überwiegend empörte Ablehnung gründet und äußert sich in Vorwürfen wie Antijudaismus, katholischer Fundamentalismus, fundamentalistischer Biblizismus, Horrorgenre (Splatter), Hollywoodisierung, sinnlichkeitsfetischistisches Betroffenheitskino und Ähnlichem. Auffallend ist dabei die inhaltliche Übereinstimmung zwischen den essayistischen Besprechungen der meist theologiefreien Feuilletons und den kommentierenden Stellungnahmen von offiziell-kirchlicher und theologischer Seite. Selbstformal-strategisch zeigt sich eine große Einigkeit: Um sich abzugrenzen, werden Pauschalisierungen als Kommunikationskeulen gezückt, die sich letztlich, ob gewollt oder nicht, als Dialogkiller erweisen. Im frühchristlichen Kontext der Exegese und Patrologie würde man von „Gegnerpolemik“ sprechen.

Unterbrechung und Verstörung

Woher diese pejorative Resonanz? Und warum diese polemische, diffamierend-apologetische Vehemenz? Der Romanist Hans U. Gumbrecht geht von einem „eingeschliffenen“ Vorurteil aus, das die „politisch korrekte Linke in den Vereinigten Staaten“ in die Welt gesetzt habe und durch die „europäischen Kritiker“ blindlings übernommen und weiterpropagiert worden sei (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.04). Reinhold Zwick dagegen vermutet einen fehlenden Bezug zur christlichen Passions- und Kreuzesfrömmigkeit: „Wer mit dieser Tradition noch vertraut oder wenigstens in Fühlung ist, wird vielleicht mit Gibsons Projekt etwas weniger Schwierigkeiten haben“ (vgl. HK, April 2004, 174). Liegt also letztlich eine frömmigkeitsgeschichtlich bedingte beziehungsweise pastoral motivierte Verwirrung vor? Gumbrecht versucht es mit der Zuspitzung: Das Kreuzigungsgeschehen „war ein Leiden Gottes – und um dieses Theologem geht es dem Katholiken Gibson offenbar viel zentraler als den Berufstheologen unserer Gegenwart“. Die Angelegenheit scheint demnach brisanter, als so manche Verrisse in ihrer Voreingenommenheit und affektierten Arroganz glauben machen wollen. Vielleicht wäre es hilfreich, die Gibson-„Passion“ im Sinne des Brechtschen Verfremdungs-Effekts auf kirchlichtheologischer Bühne zu verstehen und ihre wuchtige Resonanz von der damit verknüpften Unterbrechung und Verstörung her zu erklären. Der Fall der Gibson-„Passion“ könnte so zum bedenkenswerten Anlass werden für eine selbstreflexive und kritische Anfrage an offensichtlich aktuelle hermeneutische und theologische Verfahrensweisen. Über sie gibt gerade die Art und Weise, wie sich die dezidiert kirchlich-theologischen Resonanzen zur „Passion Christi“ ins Verhältnis setzen, beredte Auskunft. Nicht zuletzt aus bibelwissenschaftlicher Perspektive sind sie höchst bedenkenswert, weil fast schon bedenklich.

Wie so häufig bedarf es aber wohl eines gewissen – nicht nur zeitlichen – Abstandes, um „Die Passion Christi“ annähernd angemessen in den Blick zu bekommen. Nicht nur die jüngsten Beiträge im Feuilleton deuten darauf hin, in denen nach der ersten Betroffenheit Fragen aufgeworfen werden, die die genannten Pauschalurteile sekundär erscheinen lassen (man vergleiche nur die Auslassungen von Andreas Kilb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25.02. und 28.04.2004 miteinander). Es sind vor allem auch die (halboffiziellen) kirchlich-katholischen Stellungnahmen, deren auffallend positive Resonanz eine tiefere Reflexion der Gibson-„Passion“ anmahnen (vgl. neben dem „film-dienst“ und den „Informationen“ der Deutschen Bischofskonferenz insbesondere die Ausführungen auf den Hompages diverser deutscher Bistümer). Gelingt bei aller intellektueller Anteilnahme und emotionaler Betroffenheit eine Außenperspektive zur Gibson„Passion“ und seiner Diskurs-Wirkung, können sich höchst anregende Beobachtungen zeigen. Nun verlangt allerdings die Heftigkeit des Films von den meisten seiner Rezipienten wahrscheinlich eine nur schwer zu erbringende heuristische Distanzierungskompetenz. Wenn die jüdisch-christliche „Gemeinsame Stellungnahme“ beispielsweise – obwohl nur wenig Sätze umfassend – dreimal von „Gefahr“ spricht, dann lässt sich nicht wenig Angst dahinter vermuten. Diese mag berechtigt sein. Sie scheint aber dennoch blind zu machen dem Ganzen des Films gegenüber. Ohne Zweifel: Bei entsprechend sensibilisierten Kinobesuchern kann der Film mit seiner Zitation antijudaisierender neutestamentlicher Muster böse Erinnerungen und Befürchtungen wecken. Auch überfordert der Film mit seinen gewaltsamen Szenen und seiner blutigen Ausdrücklichkeit schlichtweg die übliche Sehgewohnheit. Und nicht wenige, zumal katholisch Sozialisierte, werden durch die eindrücklichen Leidensbilder vom Schmerzensmann Jesus an erdrückende Sünden- und Schuldkatechesen erinnert. Dass darunter die für jegliches Verstehenwollen notwendige wohlwollende Unvoreingenommenheit leidet, ist nachvollziehbar.

Die Absicht des Autors ernst nehmen

Aber gerade engagiertes Bedenken hat sein Limit. Gehört doch zu einer „Hermeneutik des Verdachts“ immer auch das forensische „semper audiatur et altera pars“! Inwieweit solche unparteiische Aufmerksamkeit berücksichtigt wird, zeigt sich in der jeweils eingenommenen Interpretationsperspektive. Bedenklich wird diese dort, wo der beobachtende Blick seine Wahrnehmung mit Hilfe abwertender Klassifizierungen und auf der Basis brüskierender Informationen meint deuten zu müssen. Was soll der Rekurs auf die anscheinend ideologische Einstellung des Vaters des Film-Autors oder die Mitgliedschaft des „erzkatholischen Regisseurs“ in einer „christlich fundamentalistischen Sekte“? Für ein adäquates Verstehen des Films geben diese Akzidenzien so viel her wie der Verweis auf wundersame Bekehrungen am Set oder die tägliche tridentinische Messe während der Drehtage (zu diesen und anderen „Wundern“: vgl. Cornelius Schneider, Mel Gibson und The Passion of Christ. Der Film – Die Hintergründe, Düsseldorf 2004, 7.14). Um sich zumindest heuristisch auf Distanz zum Interpretationsobjekt begeben zu können, gilt als grundlegende hermeneutische Maxime, dass die Interpretationsrichtung zuallererst von der intentio auctoris und der intentio operis angegeben wird. Dies in der Form – was die Bibelwissenschaft spätestens seit der (teilweisen) Berücksichtigung des rezeptionsästhetischen Ansatzes weiß –, dass die Werk-Absicht von einem Autor her zu erhellen ist, der seine Absicht in Form von „Lesesignalen“ dem Werk einschreibt. Gerade diese verleihen in Gestalt des von ihnen anvisierten oder aktivierten „impliziten Lesers“ dem Werkganzen eine regelrecht „autonom“ wirkende Intention. Ihnen entspringt deshalb das Wirkpotenzial des Werkes. Und weil ihnen die Wirkabsicht des Autors innerlich ist, erhellt sich letztere dementsprechend vor allem aus den rezipientenorientierten „Regieanweisungen“. Autor- und Werkintention stehen folglich – jedenfalls im Idealfall – in einem komplementären Verhältnis. Was für die deutende Wahrnehmung der biblischen Bücher recht ist, kann für die eines Bibel-Films nur billig sein. Will sagen: Neben den Absichtserklärungen des Regisseurs ist auf der Ebene des Kommunikationsmittels Film auf kinematographische „Signale“ zu achten. Beide intentiones liegen im Fall der Gibson-„Passion“ ziemlich deutlich vor Augen.

Was die Autor-Intention anbelangt, so hat sie Gibson in diversen Interviews und „Darstellungen“ zum Ausdruck gebracht. Es geht demnach um die „anschauliche Darstellung der letzten zwölf Stunden im Leben Jesu Christi“ (www.passionmovie.com). Hauptanliegen ist dabei, „die Größe des Opfers Jesu“ wiederzugeben, und zwar in Verknüpfungmit dem Verständnis der Eucharistiefeier: „Ich wollte das Opfer am Kreuz dem Opfer des Altares gegenüberstellen. Es ist ja ein und dasselbe“ (Publik-Forum Nr. 7/2004, 52). Neben der sakramentstheologischen Begründung nennt er als biographisch-existentiellen Grund: „Ich entdeckte, dass ich die Wunden Christi und sein Leiden betrachten muss, damit die Wunden in meinem Leben heilen“ (Der Tagesspiegel, 17.02.2004). Die Werk-Intention greift dieses Anliegen in deutlichen rezeptionsorientierten Impulsen auf und objektiviert es in anschaulichen „Seh-Hinweisen“ und „Hör-Signalen“. Titel und Untertitel fokussieren die Aufmerksamkeit zum einen auf den engen zeitlichen Rahmen der „letzten zwölf Stunden“ Jesu und den strafrechtlichen Vollzug der Kapitalgerichtsbarkeit (Prozess, Geißelung, Kreuzigung). Gleichzeitig verweisen sie zum anderen auf die soteriologische Dimension des Filminhalts („Passion“, „Christus“). Explizit thematisiert wird diese im Motto, das unmittelbar an den programmatischen Titel anschließt und Jesaja 53,5 zitiert. Dabei arbeitet die Darstellung mit einer minimalen, gerade deshalb aber höchst eindrücklichen Dramaturgie: Das Motiv vom „leidenden Gottesknecht“ wird dem Rezipienten auf vollkommen dunkler Leinwand und als verhältnismäßig lange Sequenz vor Augen gestellt. Mit dieser beinahe plakativen Positionierung spielt die Ouvertüre dezent und doch paukenschlagartig das theologische Thema an, sowohl in seinem heilsgeschichtlichen Zusammenhang als auch in seiner „kairologischen“ Zuspitzung. So wird bereits mit dem Eingangsignal der Rezipient auf die christologisch-kreuzestheologische Dimension des Folgenden eingestimmt.

Expressivität als Ausdruck der Krisis

Eine deutende Begleitung dieser Art ist dann auch bei der Durchführung des Themas in mehr oder weniger offenen Rezeptionssignale erkennbar. Am konstantesten zum einen in Form der folienartigen Überblendungen des letzten Mahls mitsamt den „Einsetzungsworten“ und dem Kreuzigungsgeschehen. Zum anderen in Gestalt der Jesus-Maria-Dialoge, die fast schon kommentarartig das Passionsgeschehen interpretieren. Zum dritten schließlich mit Hilfe der dichotomischen Antitypik von Jesus und Satan. Dieses „apokalyptisch-eschatologische“ Gegner-Muster durchzieht die Bilderfolge nicht nur wie ein roter Faden, es steht wie eine rahmende Klammer um das Ganze des Geschehens. Am Beginn im Garten Gethsemane endet die Agonie Jesu damit, dass dieser der satanischen Schlange den Kopf zertritt. Am Schluss auf dem Hügel Golgotha mündet der Kreuzestod Jesu in eine Träne Gottes, die in ihrer kosmischen Dimension und Wirkung den Satan zur Raserei treibt. Den gegenseitigen Verweischarakter der rahmenden Bilder unterstreicht ihre jeweilige „heilsökonomische“ Ausdrücklichkeit: An der Schlange „erfüllt“ sich die „Verheißung“ aus Gen 3,15. Und die satanische Hoffnung zerstört der mitleidende Gott, der treu zu seinem „leidenden Knecht“ steht. Diesen inhaltlichen Regieanweisungen für die Rezipienten entspricht auf der formal-ästhetischen Ebene der Bildregie eine regelrecht dualistische Pragmatik: Die Intensität der Bilder zielt auf ein Identifikationsverhalten, das im Grunde nur die Wahl zwischen dem geschundenen Jesus und der sadistischen Soldateska lässt. Die drastische Gewaltsamkeit der Bilder adaptiert dabei einen weiteren apokalyptisch anmutenden Zug: Expressivität als Ausdruck der Krisis, der endgültigen Entscheidung zwischen Tod und Leben. Während des ganzen Filmgeschehens wird so der Rezipient kontinuierlich zum Durch-Blick animiert. Auf der Ebene des Gezeigten wie des Zeigens sind Regie-Impulse gesetzt, die helfen sollen, durch das vordergründige Leinwandgeschehen hindurch zu blicken.

Auf der Basis einer solchen Strategie und Aussage wird klar, dass die Gibson-„Passion“ kein historisch-biographisch interessierter „Jesus“-Film sein will und kann. Vielmehr geht es offensichtlich um die kinematographische Form einer narrativ-ästhetischen Historiographie und Theologie. „Gattungskritisch“ deutet schon das Medium Film das dargestellte Geschehen als inszenierte Geschichte. In dieser Perspektivierung müsste deshalb auch die Ankündigung „anschauliche Darstellung der letzten zwölf Stunden im Leben Jesu Christi“ gesehen werden. Des weiteren verweist das Filmwerk sowohl produktions- wie rezeptionsästhetisch auf ein konfessorisches Anliegen. So gesehen laufen deshalb die gegnerpolemischen Reaktionen gerade von theologischkirchlicher Seite ins Leere.

Wenn dabei gar von einer reduzierten Theologie die Rede ist oder von einer Verkürzung der biblischen Botschaft und der Transformation „in eine triumphalistische Drohbotschaft“ (Friedrich Wilhelm Graf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.2004), dann fragt man sich als Bibeltheologe, ob man eventuell im falschen Film war – oder vielleicht sogar noch ist. Die letztjährige Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ und ihre rubrizistischen Ergänzung in der jüngsten Instruktion „Redemptionis Sacramentum“ (vgl. dieses Heft, 277 ff.) lesen sich nämlich nahezu wie das eucharistietheologische und mariologische Buch zum Gibson-Film. Mit den eucharistischen Elementen von Leib und Blut brachte Jesus den „Opfercharakter zum Ausdruck und ließ damit sein Opfer, das einige Stunden später am Kreuz für das Heil aller dargebracht werden sollte, auf sakramentale Weise gegenwärtig werden“, heißt es etwa. Ist das „katholischer Fundamentalismus“? Basierend womöglich auf einem „mittelalterlichen Missverständnis“? Pikant jedenfalls, das zeitliche Zusammentreffen zwei so verschiedener Genres mit identischem theologischem Programm! Nun dürfte freilich dieses Frömmigkeitsprogramm nicht nur in der kirchlichen Praxis „etwas aus der Mode gekommen“ sein (Alexander Kissler, Süddeutsche Zeitung, 16.03.2004). Auch die so genannte aufgeklärt-moderne wissenschaftliche Systematik scheint ihre liebe Müh und Not zu haben mit der eucharistischen Opfer-Dimension, von der Mariologie ganz zu schweigen. Dass in einer solchen theologisch-kirchlichen Atmosphäre die Gibson-„Passion“ verstörend-befremdlich wirkt, wenn sie unter anderem das Opferund Marien-Thema derartig zentral hervortreten lässt, wundert nicht. Tangiert sie vielleicht den Nerv jenes delikaten Gegenüber von Lehramt und Universitätstheologie? Und weckt sie andererseits, was die offiziell-kirchlichen Film-Verlautbarungen anbelangt, vielleicht den höchst sensiblen interkonfessionellen Dialog in seiner kontroverstheologischen Intonation? Aber anstatt sie sich deshalb – in Frage gestellt und beleidigt – apologetisch-überheblich vom Leibe zu halten (was letztlich nur der Selbstbestätigung eines rechts-katholischen Milieus dient), ließe sich ihr Verfremdungs-Effekt auch als Chance verstehen. Insofern nämlich, als dieser auf das „Fremde im Eigenen“ aufmerksam machen kann und so das „Eigene“ deutlicher wahrnehmen lehrt und es klären hilft – und zwar gerade in Auseinandersetzung mit einer säkularisierten Gesellschaft.

Was gilt als „historisch plausibel“?

Dabei gilt dieses verständnisvalente Fremdheitspotenzial der Gibson-„Passion“ beileibe nicht nur für die Systematik. Es gilt genauso und vor allem auch für die Bibelwissenschaft, und zwar in all ihren Akzentuierungen (historisch-kritisch, hermeneutisch, pragmatisch, theologisch, applikationstechnisch). Ganz grundsätzlich geht es um eine Anfrage der bibelwissenschaftlichen Perspektivität, ihrer Wahrnehmungsmuster und Begründungsstrategien. Angemahnt ist die Aufgabe der Exegese, zuallererst Anwalt des Textes zu sein. Dies heißt insbesondere, die Eigenheit des Textes gegenüber der heutigen und unsrigen aufzuzeigen, weil nur so sein innovatives Potenzial lebendig bleibt, und die „antiken“ Fremdheiten der Schrift zum Spiegel der „modernen“ Eigenheiten werden zu lassen – was immer diese dann mit jenen anzufangen wissen.

Im Einzelnen interessierte sich die potenzielle Anfrage der Gibson-„Passion“ zum einen für historisch-kritische Belange: Was gilt als „historisch plausibel“ (zum Beispiel die Initiative der Tempelaristokratie aus „guten“ religionspolitischen Gründen; das Verfahren vor dem Hohen Rat praeter legem; die judenfeindliche Tendenz der römischen Kohorte Judäas in ihrer ethnischen Zusammensetzung; die menschenverachtende Brutalität und sadistische Gesetzlosigkeit der Söldner-Soldateska [siehe Irak])? Auf welche historische „Fakten“ wird rekurriert (etwa: Griechisch als Gebildeten-Sprache; zeitgenössische Pilatus-Charakterisierungen neben der des Flavius Josephus; Kreuzigung als Aufrührer-Strafe)? Wie steht es mit der Einbeziehung gattungsgeschichtlicher Aspekte (beispielsweise der „Passionsbericht“ als dritter Hauptteil des Evangeliums als „antiker Biographie“)? Welche Berücksichtigung finden redaktionsgeschichtliche Motive (etwa Mt 27,25 als kultrechtliche „Zeugnis“-Terminologie der Bewohner Jerusalems; „die Juden“ als johanneisches Synonym für „die Menschen“)? Welche Gewichtung erhalten konstruktionsgeschichtliche Modelle, und zwar sowohl als Orientierungs- wie Interpretationsmuster (zum Beispiel: Leiden des Gerechten; gewaltsames Geschick des Propheten; Tod des Märtyrers; stellvertretendes Sterben des Gottesknechtes; „Lösegeld“-Topos; Blut als Beglaubigungszeichen eines Bündnis-Vertrags beziehungsweise als Element im kultischen Sühneritual; apokalyptischer Gott-Satan-Dualismus; apokalyptische Leidens-Vollendung; Glaube-Unglaube-Dichotomie; präsentisch-eschatologischer Heils-Unheils-Vollzug)?

Die potenzielle Anfrage interessierte sich zum anderen für bibelhermeneutische Entscheide: Garantieren „ältere Schichten“ eine authentischere Nähe zum „wirklichen“ Phänomen? Kommt einer Überzeugung größeres Gewicht zu, wenn es nicht nur „in Teilen der Schrift“ propagiert wird? Vermittelt die johanneische Tradition mit ihrer rudimentären Leben-Jesu-Reminiszenz nur eine „reduzierte Theologie“ – ganz zu schweigen von der Kreuz-Zentrierung des Paulinismus? Überhaupt: Was bedeutet das Nebeneinander der pluriformen und polyvalenten neutestamentlichen Zeugnisse? Wie ist zwischen der Auffassung „Evangelium gleich Passionsbericht mit langer Einleitung“ (Martin Kähler) und der „Tyrannei des synoptischen Jesus“ (Charles Webster Hedrick) zu vermitteln? Wird ein „kanonischer“ Verstehensmodus der Ursprungsvielfalt gerecht? Darf er gewichten? Wenn ja, wie? Welchen Stellenwert schließlich bekommen Inhalt und Form und Pragmatik eines Textes bei der Frage nach der „Authentizität“ des Textes? Überhaupt: Was meint „wie es war“? Wie ist „Authentizität“ konnotiert unter dem Aspekt „konfessorisches Anliegen“? Also „Authentizität“ in welcher Couleur: eher historisch oder paränetisch oder theologisch oder gar biblio-therapeutisch? Die Passion beispielsweise als geschichtliche Erinnerung oder theologische Reflexion, appellative Katechese oder dramatisches Spiel?

Geht Erlösung durch den Kopf oder durch den Leib?

Die potenzielle Anfrage interessierte sich zum dritten für bibeltheologische Systemschemata. In grober Holzschnittartigkeit: Schöpfungstheologisch-weisheitliche Frohbotschaft des charismatischen Geist-Gesandten? Apokalyptisch-eschatologische Drohbotschaft des pneumatischen Endzeit-Propheten? Theokratisch-kultische Erlösungsbotschaft des hohepriesterlichen Sühne-Opfers? Was Jesus anbelangt: Lehrer einer neuen individuellen und gesellschaftspolitischen Sittlichkeit? Vorbild einer gottergeben-frommen Lebenshaltung? Stellvertretend zur Versöhnung von Gott und Menschenwelt leidender Gottessohn? Dementsprechend das Mahl: Anamnetisch-zeichenhafter Vollzug eines gerechten Ausgleichs und unvoreingenommenen Angenommenseins oder eucharistische Vergegenwärtigung und unblutige Erneuerung des Kreuzesopfers?

Die potenzielle Anfrage interessierte sich schließlich für bibelapplikatorische Anregungen: Ist Glaubens-Information angezielt oder Glaubens-Vollzug? Soll es vorrangig um ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen auf kognitiver oder psychischer oder gar physischer Ebene gehen? Soll ein reflexives, selbstreflexives oder emotional-somatisches Verhalten initiiert werden? Die jeweilige Gewichtung lebt dabei durchaus von theologischen Implikationen: Geht Erlösung nach christlichem Verständnis durch den Kopf oder durch den Leib?

In solch kontradiktorischer Form zu fragen, ist natürlich Unsinn. Es ist aus heuristischen Gründen hier jedoch erlaubt, porträtiert sie doch die Bedenken gegenüber der Gibson„Passion“, was deren Leid- und Blut-„Verismus“ angeht. Mit Recht spricht Zwick von einem „Körperkino“, „das die Zuschauer geradezu leibhaftig packen will“ (175). Warum dann nicht das literarische Bild aus Ps 22,15b.18a („gelöst haben sich all meine Glieder“; „man kann meine Knochen zählen“) filmtechnisch visualisieren?

Traditionelle Frömmigkeit ist nicht immer bornierter Fundamentalismus

Nicht als voyeuristisches Horror-Sujet, sondern vielmehr theologisch verankert in der Vorstellung vom sühnenden Leiden des Gottessohnes, der seine blutige Hingabe annimmt und kultisch anamnetisiert – intentional verortet in einem Werkganzen, das sich versteht als „ein filmisches Passionsspiel, eine kinematographische Liturgie“ („Informationen“ der Deutschen Bischofskonferenz); pragmatisch an der heilsverheißenden „imitatio Christi“ orientiert; biblio-therapeutisch begründet in dem dramatischen Prozess und der kathartisch-lösenden Expansion einer Begegnung auf personaler Ebene. Natürlich gibt es hierfür atmosphärisch geeignetere Settings als den Kinosaal, einen quasi liturgischen Rahmen an entsprechendem Ort beispielsweise oder den geschützten Raum eines Selbsterfahrung-Workshops. In dieser Form und Funktion eines Kontakt- oder „compassio“-Mediums beinhaltet die Gibson-„Passion“ ein verständnisvalentes Fremdheitspotenzial auf einem weiteren Feld. Sie thematisiert und erinnert eine besondere Form der neutestamentlichen Wirkungsgeschichte, eine Frömmigkeitspraxis, die in Gestalt der pastoralen wie ästhetischen Passions-Rezeption einen nun wirklich breiten und langen Arm des kirchlichen Traditionsflusses bildet: die Passionsfrömmigkeit und Leidensmystik im Rahmen einer theologia crucis. Als „Proprium und Distinctivum der christlichen Religion“ (Alex Stock) äußert sich diese im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte in unterschiedlichsten Formen, innerhalb der kirchlichen Praxis genauso wie in den diversen Künsten.

Ziel ist die heilsame Partizipation am Leiden Jesu. Als Orientierungspunkt und Lehrmeisterin fungiert in dieser Konzeption neben Maria Magdalena vor allem die Mutter Maria. Sie begleitet als die passionsmystische Figur schlechthin die Einübung in die Betrachtung und Empfindung des „pro nobis“. Dass dabei das fromme Bewusstsein immer auch „mythopoietisch“ aktiv wird, kann nur eine rationalistische Theologie erschrecken, die „statt Geist und Freiheit“ lediglich „blanke Sinnlichkeit geboten“ sieht (Graf). Nach Alex Stock kommt gerade der Kunst – einer „blutleeren“ theologischen Kognition gegenüber – die Aufgabe zu festzuhalten, „was die aufgeklärte Vernunft den Leuten austreiben muss“. Die Gibson„Passion“ lässt sich hier, zumindest ihrer Intention nach, nahtlos einordnen. Die promovierende Fremdheit ihres „Körper-Christus“ (Graf) und ihrer Fokussierung auf das blutige Leiden erinnert über eine alte Wirkungsgeschichte hinaus an eine zentrale neutestamentliche Überzeugung: die „leibhaftige“ Dimension von Erlösung. „Kann jede Art traditioneller Frömmigkeit, jede Lust an starken Gebärden mit borniertem Fundamentalismus gleichgesetzt werden“ (Gumbrecht)? Sie kann! Nicht immer allerdings tut man sich selbst damit einen Gefallen. Im Fall der Gibson-„Passion“ lässt man sich eine Chance entgehen.

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