Situation und Trends der kirchengeschichtlichen ForschungVom Nutzen der Historie

Wer das Christentum verstehen will, kommt nicht ohne Kirchengeschichte aus. Aber auch dieses zentrale theologische Fach muss sich heute in Theologie, Kirche und Öffentlichkeit neu verorten, muss seine Ergebnisse verständlich und ansprechend präsentieren. Die Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker im deutschen Sprachraum versuchte kürzlich, Rechenschaft über den Stand ihrer Disziplin zu geben.

„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ – so der Titel von Friedrich Schillers im Mai 1789 in Jena gehaltener Antrittsvorlesung. Schiller wandte sich darin gleich zu Anfang an seine Hörer mit der These: „Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedene Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben.“ Etliche Kilometer neckaraufwärts von Schillers schwäbischem Geburtsort stellten sich am 1. Juni die deutschsprachigen Kirchenhistoriker im prächtigen Fürstenzimmer des Tübinger Schlosses bei ihrem diesjährigen „Pfingsttreffen“ die Frage nach Bedeutung und Nutzen ihres Fachs. Sie waren sich dabei einig darüber, dass die Kirchengeschichte Theologen und Nichttheologen heute etwas Wichtiges zu sagen hätte. Aber sie zeigten sich gleichzeitig besorgt angesichts der faktischen Resonanz ihrer Arbeit in Kirche, Theologie und Öffentlichkeit. Franz Dünzl, Altkirchenhistoriker und Patrologe in Würzburg und wie alle Referenten der Tagung zur jüngeren Generation der Kirchengeschichtler gehörig, formulierte an die Adresse der eigenen Zunft: „Bewirken wir etwas, und wollen wir überhaupt etwas bewirken, und wenn ja, bei wem und was?“

Die katholische Kirchengeschichte habe sich anders als die evangelische Kirchengeschichtsschreibung nie als Leitwissenschaft in Theologie, Universität und Gesellschaft etablieren können. Unter diesem Leitmotiv zeichnete der Münsteraner Kirchengeschichtler Hubert Wolf vor seinen Kolleginnen und Kollegen die Entwicklung der Kirchengeschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert nach. Für die Zeit nach dem Ersten Vatikanum konstatierte Wolf zunächst eine theologische Selbstmarginalisierung der Kirchengeschichte beziehungsweise Selbstzensur der Kirchenhistoriker.

Kirchengeschichtler sind in interdisziplinären Diskursen gefragt

Er erwähnte den Neuaufbruch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, „als sich eine neue Generation von Kirchenhistorikern gegen die ahistorischen Neuscholastiker wandte“. Sie geriet allerdings unter Modernismusverdacht; das führte wiederum dazu, dass katholische Kirchenhistoriker möglichst exakt historisch zu arbeiten, sich dabei aber jeglicher theologischen Wertung zu enthalten versuchten. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte man Wolf zufolge die positivistische Ausrichtung des Fachs gezielt fort.

Die Versuche von Erwin Iserloh und Hubert Jedin, in den ausgehenden sechziger und beginnenden siebziger Jahren, dem Fach Kirchengeschichte wieder einen Ort im Ganzen der Theologie zu geben, müssten als gescheitert betrachtet werden: „Sie blieben entweder reiner Überbau wie bei Jedin oder waren von stark ideologischem Charakter wie bei Iserloh.“ Demgegenüber habe sich, so Wolf, die Grundtendenz, Kirchengeschichte als historisch arbeitende Wissenschaft im Kontext der Profangeschichte salonfähig zu halten, bis heute fortgesetzt. Er verwies dabei auf die Aufnahme der neuen sozialwissenschaftlichen Paradigmen durch einen Teil der Kirchenhistoriker und stellte gleichzeitig fest: „Nach ihrer kirchenhistorischen Rezeption begannen diese Paradigmen im profanhistorischen Kontext obsolet zu werden.“ Wolf beklagte auf diesem Hintergrund das Fehlen einer allgemein akzeptierten Wissenschaftstheorie der Kirchengeschichte im Ganzen der Theologie.

Mit der Geschichte von Christentum und Kirche beschäftigen sich nicht nur die an den Theologischen Fakultäten angesiedelten Kirchenhistoriker. Gisela Muschiol (Bonn) sprach in Tübingen von der Marginalität kirchengeschichtlicher Forschung zum Mittelalter im Vergleich zu dem, was Profanhistoriker auf diesem Feld leisten. Als Beispiel nannte sie eine Ausstellung zur Kunst in mittelalterlichen Frauenklöstern, die 2005 in der Bonner „Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland“ zu sehen sein wird: „Diese Ausstellung ist keineswegs ein Produkt kirchenhistorischer Forschung (...), sondern sie wird getragen von einem Arbeitskreis von Mediävisten, Historikerinnen und Kunsthistorikerinnen.“ Ein Thema, das noch vor wenigen Jahrzehnten ausschließliches Interesse der Kirchen- und Ordensgeschichtsschreibung gewesen wäre, finde nun seinen öffentlichen Ort an einem der wichtigsten Ausstellungsorte der Bundesrepublik. Die Bonner Kirchenhistorikerin und Genderforscherin merkte an, sie finde ihre wissenschaftlichen Gesprächspartner, von Ausnahmen abgesehen, nicht bei den Fachkollegen und erst recht nicht bei den Theologen, sondern in den historischen Instituten. Für eine Rezeption mediävistischer Forschungsergebnisse in einer breiteren Öffentlichkeit sind ihrer Meinung nach qualitativ hochwertige und dennoch mit leichter Hand geschriebene Publikationen wichtiger denn je. Es brauche eine „Art Ethnologie des Christentums in historischer Perspektive“. Am Historischen Seminar der Universität Greifswald wird alle zwei Semester mit großem Erfolg ein Seminar über „Bibel für Historiker“ angeboten. Gisela Muschiol verwies darauf als Beispiel für Dienstleistungen zur Bibel, zur Liturgie und zur Theologie, die von Profanhistorikern in Zukunft vermutlich vermehrt nachgefragt würden. Auch Hubert Wolf sprach in einem Diskussionsbeitrag bei dem Tübinger Treffen vom „Theologiebedarf“ der Profangeschichtler. Man treffe bei ihnen teilweise auf „krudeste Vorstellungen“ vom Christentum im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen. Kirchengeschichtler seien in interdisziplinären Diskursen als historisch ausgewiesene Fachleute für Theologie und Religion gefragt. Wolf plädierte auch dafür, die Einwegkommunikation zwischen Kirchengeschichte und anderen historischen Wissenschaften aufzubrechen und den Spieß einmal umzudrehen: „Dies muss nicht gleich zu einem neuen Paradigma führen, aber es gibt durchaus entscheidende Themen von allgemeinem Interesse, die wir als Kirchenhistoriker dem Diskurs vorgeben können.“ Das Thema Religion als bestimmender Kraft politischen, sozialen und ökonomischen Handelns liege geradezu in der Luft.

Viele alte Lehrbuchschemata erweisen sich als unzutreffend

Für den Patrologen Dünzl sollte im Mittelpunkt der kirchengeschichtlichen Arbeit nicht einseitig die Anhäufung des Wissens, die Vervielfachung der Fakten und Veränderung und Erweiterung der Fragestellungen stehen, sondern die Adressaten: „Denn das eigentliche Sinnpotenzial historischer Theologie besteht nicht darin, dass sie deskriptiv und informativ wäre, sondern darin, dass sie performativ wirken kann, dass sie den Menschen verändert.“ Das antike Bildungsideal der Paideia habe sich gerade nicht im Durchlaufen eines Studiengangs mit festgelegten Modulen erschöpft, sondern auf die umfassende Formung der Persönlichkeit abgezielt. Als Möglichkeiten für eine Aktualisierung der Alten Kirchengeschichte nannte Dünzl die Frage nach der Kirche als Minderheit; dazu gebe es in der Alten Kirche eine ganze Palette von Erfahrungen. Es genügt demzufolge auch nicht, Formen frühchristlicher Spiritualität lediglich zu katalogisieren: „Weitaus wichtiger wäre die Vermittlung, die Übersetzung des Fremden in die Sprach- und Denkwelt unserer Zeit, der Versuch, auf vergessene, verdrängte oder abgebrochene Traditionen der Alten Kirche aufmerksam zu machen, auf spirituelle Einsichten und Perspektiven, an welche anzuknüpfen sich durchaus lohnen könnte.“

Dünzls Augsburger Kollege Roland Kany konstatierte in seinen „Bemerkungen zum Fach ,Alte Kirchengeschichte’“ einen Trend von der generalisierenden Einheitskirchengeschichte zur diversifizierenden Lokalgeschichte mit einer verstärkten Einbeziehung archäologischer Befunde und der Berücksichtigung von Inschriften und Papyri. Heute stehe die Erforschung des frühen Christentums manchen Fragestellungen von 1900 wieder näher als den Denkweisen der von der Dialektischen Theologie geprägten Mitte des 20. Jahrhunderts: „Uns scheint heute wieder deutlich, dass das Christentum mitten in die heidnisch-antike und jüdischantike Welt gehört.“ Viele der alten Schemata kirchengeschichtlicher Lehrbücher erwiesen sich inzwischen als unzutreffend. Auch bei Kany tauchten die Fragen nach dem künftigen Stellenwert von Kirchengeschichte auf, die sich als roter Faden durch das Treffen in Tübingen zogen: „Wird es dem Fach Alte Kirchengeschichte gelingen, seinem Wissen über die Entstehung und Ausbreitung des Christentums innerhalb und außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches Gehör im Prozess der neuen Identitätsfindung Europas verschaffen? Kann sich das Fach als kritischer Gesprächspartner von Gesellschaft und Kirche erweisen, die beide vor Herausforderungen stehen, die an die Antike erinnern, als der Vielvölkerstaat der Römer um Stärkung seines Zusammenhalts rang und das Christentum sich in einer heidnischen Umwelt behauptete?“

Den ganzen Tisch der Tradition decken

Die Selbstbehauptung und Umstrukturierung von Christentum und Kirche angesichts der gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist Gegenstand der Kirchlichen Zeitgeschichte. Dazu lag in Tübingen ein Text von Wilhelm Damberg (Münster) vor, der den Forschungsstand zu Katholizismus und Kirche im Dritten Reich einerseits und in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit andererseits skizzierte.

Auch hier verflüssigen sich offensichtlich vertraute Schemata der Geschichtsdeutung, etwa die These von der Erosion des „katholischen Milieus“ seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts oder vom politischen „Machtverlust“ der katholischen Kirche im gleichen Zeitraum. Damberg verwies darauf, dass genau in der Konzilszeit ein enormer sozial-karitativkultureller Dienstleistungsapparat der Kirche entstanden sei und kam für die zeitgeschichtliche Forschung zu dem Schluss, man müsse sich zukünftig „weniger der Geschichte der Beziehungen von Kirche und CDU beziehungsweise dem Verbandkatholizismus, sondern zusätzlich der kirchlichen Friedensbewegung, den ,Grünen‘, der kirchlichen Jugendarbeit und ganz besonders der Caritas zuwenden“. Die Zeitgeschichte müsse ihre spezifischen Kompetenzen auch bei der Frage nach den Ursachen und dem Verlauf des fundamentalen sozialen Prozesses der religiösen Selbstverortung des Individuums in der Bundesrepublik im interdisziplinären Diskurs zur Geltung bringen. Sie könne wichtige Quellen erheben, die der Soziologie nicht zugänglich seien.

Damberg verweist dabei etwa auf den Befund, „dass ein Wandel von religiösen Einstellungen, die die Gesellschaft der BRD seit etwa 1970 plötzlich wahrnahm, offenkundig schon in den veränderten Lebensbedingungen der fünfziger Jahre wurzelte“. Man dürfe sich nicht darauf konzentrieren, dem „Milieu“ einen detaillierten Totenschein auszustellen, sondern müsse zugleich das Gespür für neue Formationen von Religion und Christentum schärfen.

Die Situation der kirchengeschichtlichen Forschung und Lehre lässt sich nicht losgelöst von den allgemeinen Problemen der Theologie und der Theologischen Fakultäten in Deutschland betrachten. Franz Dünzl sprach in seinem Tübinger Referat denn auch vom „Überlebenskampf“, der für die Theologischen Fakultäten nicht nur in Bayern, sondern im gesamten Bundesgebiet begonnen habe. Eine Ausdünnung der Fakultäten durch Streichung von Lehrstühlen kann sich gerade für die Kirchengeschichte nachteilig auswirken, die bisher meist noch durch zwei Lehrstühle (Alte Kirchengeschichte und Patrologie einerseits, Mittlere und Neuere Kirchengeschichte andererseits) vertreten. Es nütze nichts, so Dünzl, „an den Zweigen der kirchenhistorischen Wissenschaft neue Knospen ausfindig zu machen, wenn gleichzeitig der Baum von unten her fault und morsch ist“. Hubert Wolf wies bei dem Treffen auf die Gefahren hin, die der Kirchengeschichte von der derzeit auch in der Theologie anstehenden Einführung konsekutiver Studiengänge und der damit verbundenen „Modularisierung“ der Lehrinhalte drohen: „Bei Modulen, die vor allem aus systematischer und didaktischer Intention konzipiert werden, und dann beispielsweise so vielsagende Titel wie ,Menschen vor ihrem Gott‘ tragen, besteht die Gefahr, dass Kirchengeschichte als Fach mit eigener Methodik unter die Räder kommt und unsere Themen lediglich als Steinbruch oder Illustration dienen.“ Die Mitarbeit von Kirchenhistorikern in den entsprechenden universitären, bischöflichen und vatikanischen Kommissionen sei deshalb im Interesse der Erhaltung eines eigenständigen kirchengeschichtlichen Lehrangebots dringend geboten.

Eine eigenständige Kirchengeschichte ist nicht nur eine Herausforderung im Kreis der theologischen Disziplinen, sondern immer auch für die kirchlichen Strukturen und ihr Selbstverständnis. Auch dieses Thema kam in Tübingen gelegentlich zur Sprache, wobei man sich darüber im Klaren war, dass die Kirchengeschichte nicht einfach in hermeneutischer Naivität aus der von ihr erforschten Vergangenheit in ihrer Vielfalt Rezepte für heutige kirchliche Probleme ableiten kann. Aber, so Hubert Wolf: „Wer die ganz unterschiedlichen Antworten, die Christen in ihrer Geschichte auf vielfältige Fragen gegeben haben, präsent macht, wehrt einer ahistorischen Ideologisierung von Theologie und Kirche.“ Die Kirchengeschichte habe die Aufgabe, Alternativen aufzuzeigen und so den „ganzen Tisch der Tradition zu decken“. Andreas Holzem, Ordinarius für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte in Tübingen und zusammen mit seinem Kollegen Hans Reinhard Seeliger von der Alten Kirchengeschichte Organisator der Tagung, sprach in einem Diskussionsbeitrag vom „wirklichkeitsgesättigten Glauben“ als Anliegen seiner Disziplin. In die gleiche Richtung zielte der Hinweis von Gisela Muschiol auf die Notwendigkeit „dichter Beschreibungen“ des Christentums in seiner geschichtlichen Entwicklung. Denn Kirchengeschichte gewinnt ihre Bedeutung für Kirche, Theologie und Öffentlichkeit vor allem daraus, dass sie mit allen zur Verfügung wissenschaftlichen Methoden und Hilfsmitteln die wechselvolle Geschichte der Kirche in all ihren Facetten ausleuchtet und durch hochspezialisierte wie durch allgemein verständliche Darstellungen präsent macht. Sie braucht nicht Weltgericht zu spielen und hat auch keinen Alleinvertretungsanspruch, wohl aber eine unverzichtbare und verantwortungsvolle Aufgabe in der Auseinandersetzung um den Weg des christlichen Glaubens durch die Zeit. Gerade wer sich eine neue Dynamik dieses Glaubens erhofft, darf sich vor der genauen und vorurteilsfreien Beschäftigung mit der Geschichte der Kirche nicht drücken.

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