In der jahrhundertelangen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Glaube und Vernunft zeichnet sich eine neue Konstellation ab. Als Johannes Paul II. vor sechs Jahren seine Enzyklika „Fides et ratio" vorlegte, haben nicht wenige dem Papst Respekt gezollt. Eine ähnliche Resonanz fand jetzt die Rede, die Kardinal Joseph Ratzinger in der Kathedrale von Caen im Rahmen der Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie hielt. Ratzinger machte bei seiner Rede zum Jubiläum des „D-Day" in der heutigen Welt gleichermaßen „Pathologien der Religion" wie „Pathologien der Vernunft" namhaft.
Der christliche Glaube kann es sich heute freilich weniger denn je leisten, auf die Aktivierung der Vernunft für die Rückfrage nach den eigenen Ursprüngen und der eigenen Geschichte wie vor allem auch im Interesse des Streits um Religion und um die humane Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verzichten. Er ist sich das um seiner Identität wie um seiner öffentlichen Präsenz und Ausstrahlung willen schuldig, allen damit verbundenen Schwierigkeiten zum Trotz. Alle für die kommende Zeit möglichen und wünschenswerten Bündnisse von Glaube und säkularer Vernunft werden wohl fragil bleiben.
Von Ulrich Ruh