Der neue „Sozialkatechismus“ sichert das Erbe päpstlicher SozialverkündigungSystematische Bestandsaufnahme

Die Autoren des „Kompendiums der Soziallehre der Kirche“ haben sich offenbar bemüht, eine thematisch geordnete Synopse aller von ihnen für relevant gehaltenen Texte insbesondere der Lehrverkündigung Johannes Pauls II. zusammenzustellen. In seiner Selbstreferentialität wird der so genannte „Sozialkatechismus“ vielleicht der Verständigung nach innen, aber kaum dem Dialog nach außen dienen können.

Seit der ersten Sozialenzyklika „Mater et Magistra“ von Johannes XXIII. von 1961 gab es im Rückbezug auf die Veröffentlichung von „Rerum Novarum“ 1891 alle zehn Jahre ein neues päpstliches Lehrschreiben zur kirchlichen Soziallehre: 1971 „Octogesima adveniens“ von Paul VI., 1981 „Laborem exercens“ und 1991 „Centesimus Annus“ von Johannes Paul II. Als 2001 ein entsprechendes Lehrschreiben ausblieb, wurde dies von vielen als Hinweis darauf gewertet, die Fortschreibung der Soziallehre sei nach der erfolgten Grundlegung über 100 Jahre hinweg nun viel eher Sache nationaler oder regionaler Bischofskonferenzen als einer römischen Zentrale, die für den Bereich der Sozialethik vielleicht tatsächlich das Wort Pauls VI. ernst nehmen würde, dass es sich nämlich für sie „als untunlich“ erweise, „ein für alle gültiges Wort zu sagen oder allerorts passende Lösungen vorzuschlagen“ (Octogesima adveniens 4). Auch haben neben den wertvollen Impulsen Johannes Pauls II., der für die kirchliche Soziallehre tatsächlich neue Akzente gesetzt hat, in den letzten Jahrzehnten die Dokumente regionaler Bischofsversammlungen wie der lateinamerikanischen, Hirtenbriefe nationaler Bischofskonferenzen wie der US-amerikanischen oder Konsultationsprozesse und ihre jeweiligen Ergebnisse wie in Deutschland, der Schweiz oder Österreich die sozialethischen Debatten mindestens ebenso stark geprägt. Wichtige Innovationen wie unter anderen die „vorrangige Option für die Armen“, die inzwischen auch innerhalb römischer Verlautbarungen zur Selbstverständlichkeit geworden sind, haben unbestritten ihren Ausgangspunkt in regionalen Prozessen gehabt.

Die nicht-päpstliche Sozialverkündigung findet keine Berücksichtigung

Wenn nun im Oktober 2004 im Vatikan von Kardinal Renato Martini, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, ein „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ vorgestellt wurde, das überwiegend unter der Leitung seines Vorgängers in diesem Amt, dem vietnamesischen Kardinal François-Xavier Nguyˆen Van Thuˆan erarbeitet worden war, so sind von einem solchen Konvolut weniger neue Impulse zu erwarten als vielmehr eine systematische Bestandsaufnahme des Erbes der kirchlichen Sozialverkündigung, vor allem der päpstlichen.

Es handelt sich bei diesem auch als „Sozialkatechismus“ bezeichneten dicken Buch, das bislang nur in englischer und italienischer Sprache vorliegt, tatsächlich ganz überwiegend um ein „Kompendium“, das zu erheblichen Anteilen aus zitierten Texten früherer Dokumente besteht. Auf 331 Seiten Text wird in insgesamt 1232 Anmerkungen auf ältere Verlautbarungen des Lehramtes verwiesen und deren Texte ausführlich zitiert, also durchschnittlich 3,7mal pro Seite, was die Lesbarkeit des Textes nicht unbedingt fördert. Spitzenreiter der zitierten Dokumente ist laut Index der „Katechismus der Katholischen Kirche“ mit 333 Zitationen, darauf folgen die Konzilskonstitution „Gaudium et Spes“ mit 167 Nennungen und die Sozialenzykliken Johannes Pauls II.: „Laborem Exercens“ (63 Zitationen), „Sollicitudo Rei Socialis“ (110 Zitationen) und „Centesimus Annus“ (144 Zitationen).

Für die Methode der Darstellung ist charakteristisch, dass die genannten Dokumente fast vollständig in diesem Kompendium auftauchen. Offenbar haben sich die Autoren des Kompendiums, das laut der Einführung von Kardinal Martini einen „kurzgefassten, aber vollständigen Überblick über die soziale Unterweisung der Kirche“ geben sollte, darum bemüht, eine thematisch geordnete Synopse aller von ihnen für relevant gehaltenen Texte zur Soziallehre der Kirche, insbesondere der Lehrverkündigung Johannes Pauls II. zusammenzustellen. Dabei hat man sich nicht auf „Sozialenzykliken“ beschränkt, sondern auch Dokumente wie „Familiaris Consortio“ (1982), „Christifideles Laici“ (1988), „Veritatis Splendor“ (1993), „Evangelium Vitae“ (1995) sowie die Botschaften des Papstes zu den Weltfriedenstagen, knapp 100 Ansprachen des Papstes bei unterschiedlichsten weiteren Anlässen, verschiedene Instruktionen der Glaubenskongregation und die „Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre in der Priesterausbildung“ der Kongregation für das katholische Bildungswesen von 1989 berücksichtigt. Gar nicht zitiert werden jedoch sozialethische Stellungnahmen regionaler oder nationaler Bischofskonferenzen, Stellungnahmen von Orden oder gar Veröffentlichungen von Sozialethikerinnen oder Sozialethikern, auch wenn Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano in seinem einleitenden Grußwort auf den wertvollen Beitrag der genannten Gruppen summarisch hinwies. Möglicherweise hat diese fehlende Berücksichtigung der nicht-päpstlichen Sozialverkündigung einen einfachen Grund darin, dass andernfalls das Material mit der gewählten Präsentationsmethode überhaupt nicht mehr zu bewältigen gewesen wäre. Trotzdem entsteht auf den ersten Blick der Eindruck einer fehlenden Sensibilität und Offenheit für die Perspektiven der Bischofskonferenzen, denen allein (aber immerhin) die Aufgabe einer jeweils unterschiedlichen „Anwendung“ der fundamentalen Prinzipien „überlassen“ wird (Nr. 8 – hier wie im folgenden in eigener Übersetzung).

Auch wirken die Aussagen dieses Sozialkatechismus über weite Strecken hinweg als ein in sich geschlossenes, selbstreferentielles System, das der Aufgabe, nicht nur der Verständigung nach innen, sondern auch der Darstellung nach außen und dem Dialog mit Mitgliedern anderer Kirchen und Kirchlicher Gemeinschaften sowie anders denkenden „Menschen guten Willens“ (Nr. 12) zu dienen, kaum gerecht werden kann. Wer nicht wirklich die „zentralkatholische“ Position in ihrer spezifischen Argumentationsweise kennen lernen oder sich ihrer vergewissern will und sich deshalb diese eher mühsame Lektüre zumutet, wird sich von diesem Text kaum beeindrucken und in Frage stellen lassen, zumal eine Auseinandersetzung mit außerhalb katholischer Denktraditionen stehenden moraltheoretischen Positionen so gut wie gar nicht stattfindet. Nur an zwei Stellen wird beispielsweise der „Kontraktualismus“ erwähnt, wobei den Verfassern diese Erwähnung nicht als wichtig genug erschien, um sie unter diesem Stichwort in das ansonsten sehr ausführliche und mit 167 Seiten sehr umfangreiche Register aufzunehmen. Ohne dass unter verschiedenen Varianten dieses in der praktischen Philosophie spätestens seit John Rawls wieder breit diskutierten Ansatzes differenziert wird, wird er dann pauschal als unvereinbar mit der „Sozialnatur“ des Menschen und als „reduktionistisch“ abgelehnt (Nr. 149, Anm. 297, Nr. 203), obwohl doch nach dem Selbstverständnis dieser Ansätze der Sozialvertrag die Sozialnatur gerade zur Voraussetzung hat beziehungsweise dessen Ausdruck ist. Umgekehrt werden Positionen, die sich zumindest die katholische Kirche erst nach schmerzlichen Konflikten zu eigen gemacht hat, ohne jede Selbstkritik vereinnahmt, zum Beispiel wenn ohne Einschränkung und ohne Hinweis auf diese Konflikte behauptet wird, das Prinzip der Religionsfreiheit sei ein spezifisches Ergebnis des Christentums und einer seiner fundamentalen historischen Beiträge zur Kultur (Nr. 50). Mit keinem Wort wird auch auf die verspätete kirchliche Rezeption des Menschenrechtsgedankens hingewiesen, sondern nur betont – was unstrittig ein großes Verdienst ist –, dass insbesondere Johannes Paul II. das Thema Menschenrechte zu einem Kernbereich kirchlicher Sozialverkündigung gemacht hat (Nr. 152).

Zwischen einem autoritativen und einem offenen Verständnis der Soziallehre

Diese Passagen stehen beispielhaft für einige „dogmatische“ und „apologetische“ Textteile, die jedoch einen gewissen Ausgleich in der Einleitung finden, wo in direktem Bezug zum Zweiten Vatikanischen Konzil die kirchliche Sozialverkündigung als ein „Dienst“ (Nr. 13) verstanden wird, durch den sie einen „Beitrag anbietet“ (Nr. 14–15) und einen „Dialog“ (Nr. 18) zur Beantwortung der schwierigen Herausforderungen, denen sich die Menschheit heute angesichts gegenwärtiger „Zeichen der Zeit“ (Nr. 55) gegenüber sieht.

Überhaupt hat man den Eindruck, das Kompendium versuche eine prekäre Balance zwischen einem traditionell-autoritativen und einem dialogisch-offenen Verständnis von Soziallehre – meiner Einschätzung nach mit einem leichten Übergewicht für letzteres. Die Soziallehre wird in Nr. 72 mit Sollicitudo Rei Socialis 41 identifiziert als „die genaue Formulierung der Ergebnisse einer sorgfältigen Reflexion über die komplexen Wirklichkeiten menschlicher Existenz in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene, und dies im Licht des Glaubens und der kirchlichen Überlieferung“. Dies geschehe dort, wo christliches Leben und Gewissen mit der realen Welt in Kontakt kämen (Nr. 73, CA 59 zitierend). Deshalb sei die Soziallehre auch nicht ursprünglich ein „organisches System“. Gewisse Veränderungen „mögen stattgefunden haben hinsichtlich ihrer Natur, Methode und epistemologischen Struktur“ (Nr. 72). Die Soziallehre sei eine „Baustelle“, auf der immer weiter gearbeitet würde (Nr. 86). Es findet sich auch eine interessante Unterscheidung in drei Ebenen: die fundamentale Ebene der Motivationen, die direktive Ebene der Normen und die deliberative Ebene der Gewissen in ihrem Bemühen, diese Normen konkret anzuwenden (Nr. 73). Wertvoll daran könnte die Differenzierung zwischen motivationalen Fundamenten und moralischen Normen sein, dies klingt nach einer gewissen „Autonomie“ des Moralischen. Dem entspricht, dass sehr deutlich auf das thomistische Verständnis der Moral und des „natürlichen Sittengesetzes“ als Vernunftmoral Bezug genommen (Nr. 140) und die „rechte Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ (Nr. 45 nach GS 36) betont wird.

Gilt das Subsidiaritätsprinzip auch für kirchliche Organisationsformen?

Problematisch ist jedoch, dass der Bereich des Deliberativen auf Anwendungsfragen beschränkt bleibt. Es erscheint zudem fraglich, ob die genannte Differenzierung durchgehalten wird, denn in den darauffolgenden Abschnitten ist wieder sehr allgemein im Blick auf die gesamte Soziallehre davon die Rede, ihre Grundlagen seien biblische Offenbarung, lehramtliche Tradition, menschliche Natur und der Dialog mit allen Wissenschaften, durch den die Soziallehre „verlässlich, konkret und relevant“ würde (Nr. 78). Dem Lehramt komme die Aufgabe zu, alle Beiträge aufzugreifen, zu interpretieren und zu einem „einheitlichen Ganzen“ zusammenzufügen (Nr. 43). Dass dabei jedoch der Philosophie ein privilegierter Stellenwert eingeräumt wird, spricht umgekehrt wieder eher für eine Interpretation im Sinne einer gewissen Autonomie des Moralischen: „Aus Gründen der Vernunft verbindet sich die Soziallehre der Kirche in ihrer eigenen inneren Logik, mit anderen Worten, mit der ihr eigenen Argumentation, mit der Philosophie.“ (Nr. 42)

Der Aufbau des Kompendiums entspricht eher einem deduktiven Ansatz. Nach einer Einleitung unter der Überschrift „Ein umfassender und solidarischer Humanismus“ stehen in einem ersten grundlegenden Teil vier Kapitel, die sich mit Gottes Heilsplan für die Menschheit, der Mission der Kirche, dem kirchlichen Verständnis des Menschen als Person und den Menschenrechten sowie den daraus abgeleiteten Prinzipien kirchlicher Soziallehre beschäftigen. Als solche „immerwährende“ und „universell gültige“ Prinzipien, die das „Herz“ der Katholischen Soziallehre ausmachen (Nr. 160) werden genannt: die Würde der menschlichen Person, das Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität. Hierauf bauen in einem zweiten Teil sieben Kapitel auf, die sich wichtigen speziellen Themen der Soziallehre, nämlich der Familie, der Arbeit, der Wirtschaft, der Politik, der „Internationalen Gemeinschaft“, der Umwelt und dem Frieden widmen. Abweichend von bisher üblichen Darstellungsformen in der Soziallehre beginnen diese Kapitel jeweils mit einer ausführlichen Reflexion „biblischer Aspekte“. In einigen dieser Kapitel ist in Anspielung auf Rerum Novarum von „neuen Dingen“ die Rede, die die Soziallehre heute herausforderten. Der dritte, sehr viel kürzere Teil verpflichtet die Kirche als Ganze und insbesondere die gläubigen Laien darauf, die Soziallehre als integralen Bestandteil kirchlichen Selbstverständnisses und als Richtschnur für ihr Handeln anzuerkennen. Dabei finden sich jedoch leider kaum Aufforderungen, die genannten Prinzipien, beispielsweise das Subsidiaritätsprinzip, auch auf kirchliche Organisationsformen und Strukturen selbst anzuwenden. Am Ende wird das Kompendium mit einer allgemeinen Einbettung der Soziallehre in die Zielperspektive einer „Zivilisation der Liebe“ abgeschlossen.

Für denjenigen, der mit den Texten Katholischer Soziallehre vertraut ist, bietet das Kompendium wenig wirklich Neues, erst recht natürlich keine Modifikation bisheriger, mit Nachdruck vertretener Positionen etwa zur Unauflöslichkeit der Ehe (Nr. 225–226), zur Empfängnisverhütung (Nr. 233 ff.) oder zur Homosexualität (Nr. 228). In einigen Bereichen jedoch finden sich Ausführungen zu Themen, die zumindest so in den bisherigen Sozialenzykliken nicht oder kaum vorkamen. In Nr. 244 ff. finden sich eindringlich unterstützende Aussagen zur UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die auch vom Heiligen Stuhl ratifiziert worden ist. In Nr. 295 wird betont, dass auch Frauen das Recht auf Arbeit hätten; die Präsenz der Frauen in der Arbeitswelt müsse garantiert werden. An mehreren Stellen wird detailliert und sachkundig auf das Phänomen der Globalisierung eingegangen, die an sich weder gut noch schlecht sei (Nr. 310), aber entsprechend moralischer Prinzipien gestaltet und gesteuert werden müsse, wofür es angesichts des Bedeutungsverlusts der Nationalstaaten (Nr. 370) globale Regelungen und entsprechende Institutionen brauche. Vor allem müsse der Irrtum vermieden werden, der die gegenwärtigen Veränderungen deterministisch verstehe (Nr. 317) und damit einer politischen Gestaltung entziehe. Dies gelte insbesondere für die Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte (Nr. 361, Nr. 368 ff.) und die Forderung nach einer Reform der Weltmarktregeln, die in ungerechter Weise die Produkte der armen Länder diskriminierten (Nr. 364). Ein fairer Marktzugang sei das Hauptproblem der Entwicklung (Nr. 447). In den Ausführungen zu „Moral und Wirtschaft“ mit einer unvoreingenommenen Würdigung der Marktwirtschaft als eines „Instruments“ (Nr. 347) bei gleichzeitiger Warnung vor einer „Vergötterung des Marktes“ (Nr. 349) finden sich einige interessante „moderne“ Bemerkungen dazu, dass die Moral sogar ein Faktor der Effizienz innerhalb der Wirtschaft sein könne (Nr. 332), etwa dann, wenn der Respekt vor der Würde der Arbeitenden die Produktivität steigere (Nr. 340), so dass Moral und Gewinnorientierung keine absoluten Gegensätze sein müssten. Eine menschliche Entwicklung der ärmeren Länder könne auch sehr wohl im Interesse der reicheren Länder liegen. Zugleich wird betont, Unternehmen müssten eine sehr viel größere Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen als in der Vergangenheit (Nr. 342). Herausgestellt wird auch die Macht und Verantwortung der Konsumenten (Nr. 358). Im Kapitel 8 über die „politische Gemeinschaft“ und im Hinblick auf das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft wird auf die Notwendigkeit eines „echten Pluralismus“, vor allem in den Medien (Nr. 414) hingewiesen. Längere Passagen widmen sich dem Thema „Zivilgesellschaft“, der gegenüber dem Staat eine Priorität zukomme (Nr. 418). Manche Ausführungen in den Texten zur „Internationalen Gemeinschaft“ und zum Frieden lesen sich wie ein kritischer Kommentar zum Krieg der USA gegen den Irak, etwa wenn unter Bezug auf die Botschaft des Papstes zum Weltfriedenstag 2004 gesagt wird, es dürfe nicht der Versuchung nachgegeben werden, auf das Recht des Stärkeren an Stelle der Stärke des Rechts zu setzen (Nr. 437), oder wenn Präventivkriege als unerlaubt bezeichnet werden, sofern nicht eindeutig eine drohende Aggression nachgewiesen wird und sie nicht von einer legitimierten Instanz auf Weltebene ausdrücklich erlaubt werden (Nr. 501). Ja im Grunde sei sogar die Drohung mit einem Krieg bereits zu verurteilen (Nr. 438). Der Kampf gegen den Terrorismus dürfe nicht dafür eingesetzt werden, die universelle Geltung der Menschenrechte und den Respekt vor der Würde einer jeden Person zu unterlaufen (Nr. 514). Der Umweltproblematik wird anders als in bisherigen Sozialenzykliken ein ausführliches Kapitel (Kapitel 10) gewidmet, wobei grundsätzlich ein Weg zwischen einer „utilitaristischen Reduktion“ der Natur und einer Verabsolutierung derselben (Nr. 463) gesucht wird, menschliche Eingriffe in die Natur als grundsätzlich erlaubt angesehen werden (Nr. 473) und die Ausführungen zu Einzelfragen inhaltlich nicht über das hinausgehen, was unter Umweltethikern als selbstverständlich gilt.

Der entscheidende „katholische“ Ansatz bei einer Vernunftmoral

Sehr deutlich zeichnen sich in diesem Kompendium diejenigen Positionen ab, die wohl tatsächlich für eine „katholische“ Soziallehre als unverzichtbar zu gelten haben. Zum einen ist dies der Ansatz bei einer Vernunftmoral, die für sich in Anspruch nimmt, die eigene Position argumentativ unter Rekurs auf eine allgemeinmenschliche Vernunft begründen zu können und allein dadurch auch einen universellen Anspruch (Nr. 84) erheben kann. Diese Vernunftbasis auch heute noch als „natürliches Sittengesetz“ zu bezeichnen, ist zumindest missverständlich, da der Begriff des „Natürlichen“ in diesem Zusammenhang seine frühere Bedeutung weitgehend verloren hat. Der systematische Kern einer solchen vernunftbegründeten Moral ist die Personwürde (v.a. Kapitel 3), die gleiche Würde von Frau und Mann (Nr. 111 vgl. 146), die auch so formuliert werden kann, dass der Mensch niemals einfach nur als Mittel (Nr. 133) gebraucht, sondern immer als Person mit eigener Würde respektiert werden muss. Ob sich die Verfasser der Nähe ihrer Position, die eine starke Betonung der Freiheit des Menschen (Nr. 135 ff.) impliziert, mit der Ethik Kants bewusst sind, geht aus dem Text leider nicht hervor. Die Aussage, dieses Instrumentalisierungsverbot sei in der Familie „immer“ gewährleistet (Nr. 213) stellt natürlich eine Idealisierung dar, die allenfalls als normative Forderung an die Familie sinnvoll ist.

Zentral ist sicherlich auch die neuerlich eingeschärfte Lehre von der „universellen Bestimmung der Güter“ (Nr. 171 ff., vgl. GS 69, CA 30 ff.), wobei hier Universalität auf alle gegenwärtig lebenden Menschen und diachron auf alle Generationen ausgedehnt wird. Diese Lehre steht im Zusammenhang mit der häufigen Betonung der Einheit der Menschheitsfamilie (Nr. 171, 371, 428–432). Aus dieser Perspektive wird es notwendig, Gerechtigkeitsfragen in globaler Perspektive zu stellen und die weltweite Dimension der sozialen Frage (Nr. 182, 373) zu betonen, wobei unklar bleibt, ob die weltweite Verteilungsgerechtigkeit nach Meinung der Verfasser des Kompendiums die Absicherung eines Minimums für alle oder eine darüber hinausgehende Verteilung nach egalitaristischen Prinzipien erforderlich macht. Das Recht auf Privateigentum wird jedenfalls als ein aus dieser universellen Bestimmung der Güter abgeleitetes, sekundäres Recht (Nr. 176–181) verstanden: „Das Privateigentum ist also – unabhängig von den konkreten Formen seiner Ausgestaltung und rechtlichen Regelung, in seinem Wesen tatsächlich nur ein Instrument zur Wahrung des Prinzips der universellen Bestimmung der Güter, letztlich deshalb nur ein Mittel, kein Ziel.“ (Nr. 177) Deshalb ist das Kompendium offen sowohl für die Forderung nach einem Gemeinschaftseigentum indigener Völker (Nr. 180) wie für aus Gerechtigkeitsgründen notwendige Landreformen (Nr. 300). Die Option für die Armen wird als Konsequenz aus diesen universellen Gerechtigkeitsforderungen verstanden (Nr. 182–184, 449). Problematisch ist hier jedoch, dass zu wenig differenziert wird, was die Gerechtigkeit gerade im globalen Horizont von wem verlangt, welche Pflichten den unbestreitbaren Rechten der Armen entsprechen und wer genau welche Verantwortung trägt. In manchen Formulierungen, etwa wenn von Solidarität als „totaler Gratuität“ (Nr. 196) gesprochen wird oder betont wird, „Gerechtigkeit alleine ist nicht genug“ (Nr. 206, 582), sondern darüber hinausgehend eine umfassende Liebe unter allen Menschen eingefordert wird, scheint hier ein ethischer Perfektionismus durch, der wenig realistisch ist, als Maxime für die Schaffung von gerechten Institutionen ungeeignet scheint und auch eine moralisch problematische Überforderung darstellen könnte. Besonders hervorzuheben ist schließlich, dass das Kompendium keinen Zweifel daran lässt, dass die Soziallehre der Kirche unverzichtbarer Teil ihres Verkündigungsauftrags ist. Ohne Soziallehre ist Evangelisierung nicht möglich (Nr. 62, 64, 66). Die Soziallehre hat denselben Stellenwert wie die Morallehre der Kirche (Nr. 80). Wenn dies seitens der pastoral Verantwortlichen und der Gläubigen tatsächlich stärker ernst genommen würde, könnte die Kirche in der Welt von heute deutlich an moralischer Autorität gewinnen.

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