Der CELAM und der lateinamerikanische KatholizismusAlte und neue Aufgaben

Die für 2007 geplante 5. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopates könnte ein weiterer Meilenstein in der neueren Kirchengeschichte Lateinamerikas werden: Anders, aber nicht weniger prägend als die legendären Versammlungen in Medellín und Puebla.

Der Würfel ist gefallen, das Rätseln darüber, wann und wo sich gut 200 Bischöfe im übernächsten Jahr zur 5. Generalversammlung des Consejo Episcopal Latinoamericano (CELAM) einfinden werden, ist beendet: Am 14. Oktober diesen Jahres teilte Benedikt XVI. in einer Audienz dem Präsidenten des CE-LAM und Erzbischof von Santiago de Chile, Kardinal Francisco Javier Errázuriz Ossa, und drei weiteren südamerikanischen Kardinälen mit, dass die „V. Conferencia General del Episcopado Latinoamericano y del Caribe“ im Mai 2007 im brasillianischen Marienwallfahrtsort Aparecida stattfinden wird. Sie soll – und sie könnte – ein weiterer Meilenstein in der Kirchengeschichte dieses Halbkontinentes werden: anders, aber nicht weniger prägend als die legendären Versammlungen 1968 in Medellín (Kolumbien) und 1979 in Puebla de los Angeles (Mexiko), deren Bedeutsamkeit für den Weg der Kirche in Lateinamerika – und der Weltkirche! – gar nicht überschätzt werden kann. Zweifelsohne steht eine weitere Generalversammlung an. Denn Gesellschaft und Kirche in Lateinamerika wandeln sich mit einem immer höheren Tempo. Themen für den Austausch unter den Bischöfen haben sich mehr als genug angesammelt. Im Mai 2001 beschloss der CELAM folglich, den Papst zu bitten, eine 5. Generalversammlung einzuberufen. Johannes Paul II. stimmte zu. Zunächst war geplant, im Jahre 2005 zusammenzukommen, zum Goldenen Jubiläum des CELAM. Das hätte auch dem bisherigen Rhythmus entsprochen, nicht mehr als rund ein Dutzend Jahre von einer Conferencia General zur nächsten verstreichen zu lassen; die letzte hatte 1992 in Santo Domingo (Dominikanische Republik) getagt. Doch dann zeigte sich, dass es mehr Zeit brauchte, um die unterschiedlichen Vorstellungen darüber in Einklang zu bringen, welche Fragen zu behandeln seien und in welcher Form die Versammlung arbeiten solle. Hinzu kam die Ungewissheit über die Teilnahme des Papstes, die gute Tradition ist. Angesichts der schwindenden körperlichen Kräfte Johannes Pauls II. kamen der Heilige Stuhl und der CELAM überein, die Generalversammlung möglicherweise erstmals nicht an einen lateinamerikanischen Bischofssitz einzuberufen, sondern gegebenenfalls nach Rom, „je nachdem, ob der Papst reisen kann oder nicht“.

Herausforderungen im dritten Jahrtausend

Der Einschnitt durch den Tod von Johannes Paul II. betraf auch die bereits angelaufenen Vorbereitungen. An Benedikt XVI. lag es, die Zustimmung seines Vorgängers zur Einberufung der Versammlung zu bestätigen, was er noch im ersten Monat seines Pontifikates tat. Offen blieben hingegen damals das Datum, der Ort und das Thema. Letzteres hat der Papst inzwischen, während einer frühen Audienz für Kardinal Francisco Javier Errázuriz Ossa, am 7. Juli bestimmt: „Jünger und Missionare Jesu Christi, damit unsere Völker in Ihm das Leben haben – Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“

Gleichwohl, in Lateinamerika schreiten die Vorarbeiten voran. Ende September stellte Kardinal Errázuriz ein „documento de participación“ vor, „eine Einladung, sich an der 576 Vorbereitung zu beteiligen“. Einige Punkte darin verdienen besondere Beachtung: Schon das erste Wort des Themas „Jünger und Missionare Jesu Christi...“ lässt aufhorchen. Erstaunlicherweise wurde der in der Sprache und Theologie der Evangelien zentrale Begriff der „Jüngerschaft“ im Sprachgebrauch der Kirche in Lateinamerika (und nicht nur dort) bislang kaum aufgegriffen. Eine der Ausnahmen war die 14. Generalversammlung der Oberinnen der Schwesternorden im Mai 2004, die sich unter dieses Wort stellte. Ansonsten traute sich (fast) nur die Bewegung der Charismatischen Erneuerung von Jüngern zu sprechen, beispielsweise in ihren „Jüngerschaftsschulen“. Die protestantischen Kirchen gebrauchen „Jüngerschaft“ ungleich häufiger und selbstverständlicher. Zuweilen ist von Sekten zu hören: „Wir sind die wahren Jünger Jesu, ihr aber folgt stattdessen den Lehren der Kirche.“ Wenn der CELAM dieses Wort nun aufgreift, stellt er damit zum einen – ad extra – klar, dass es niemand gepachtet hat und erst recht nicht die Sache, um die es dabei geht. Zum anderen erinnert er – ad intra – an den Ruf in die Nachfolge. Die Kirche in Lateinamerika dankt Gott für die Missionare und Verkündigung der Frohen Botschaft. Das ist eine notwendige Kurskorrektur im Vergleich zum Jubiläumsjahr 1992, als selbst in manchen kirchlichen Erklärungen (von den säkularen ganz zu schweigen) zu einseitig von den Schattenseiten der Mission die Rede war. Nicht, dass es die nicht gegeben hätte. Doch das Evangelium war auch in kolonialen Zeiten vor allem Licht und Befreiung.

In drei Absätzen (34, 116 und 126) wird die Treue zur in Medellín und Puebla verkündeten „Option für die Armen“ betont, zuerst in einem Unterabschnitt zur Sozialpastoral. Wünschenswert wäre, wenn sie aus dieser Ecke herausgeholt würde. Denn sie gilt für kirchliches Handeln insgesamt. Das vierte Kapitel zählt die Herausforderungen auf, vor die man sich im dritten Jahrtausend gestellt sieht: ein Spektrum fast aller Prozesse, die Kontinent und Kirche prägen. Alles will und soll behandelt werden – und wehe, wenn ein Gesichtspunkt fehlen sollte! Dann würden die Bischöfe, deren Entwurf von vielen Seiten mit Argusaugen studiert wird, Prügel beziehen. Das Kunststück wird sein, in einem Text von geradezu enzyklopädischer Fülle (und Ausgewogenheit) dem prophetischen Wort Gehör zu verschaffen. Als Schlusspunkt wird angekündigt, dass die Bischöfe bei der Generalversammlung eine „Große Kontinentale Mission“ ausrufen werden. Bislang liegen bloß Absicht und Begriff auf dem Tisch. Zu bestimmen, wie diese Mission verwirklicht wird, ist eine der Aufgaben der Konferenz. In die Vorlage eingeschoben sind 18 Blöcke mit Leitfragen zu den zuvor angesprochenen Themen. Sie sollen die Leser zur Mitwirkung an der Vorbereitung anregen. Teils sind sie in der Form von Katechismusfragen gehalten, teils dienen sie der Gewissenserforschung hinsichtlich dessen, was die Kirche seit der letzten Versammlung erreicht hat und was nicht, oder sind Bitten um Vorschläge, was zu tun ansteht. Der CELAM wünscht eine breite Diskussion über den künftigen Kurs, nicht nur unter den Bischöfen, sondern ebenso unter Theologen und bis in die Gemeinden. Die deutschen Hilfswerke Kirche in Not, Misereor und Adveniat haben sich bereits im November 2004 bereit erklärt, diesen Prozess wo nötig zu unterstützen.

Eine Struktur für die Kirche in Lateinamerika

Welch ein Unterschied zur 1. Generalversammlung, deren Vorlauf darin bestand, dass sie überhaupt Zustande kam. Denn Zusammenarbeit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl waren in der Kirche Lateinamerikas nicht immer selbstverständlich. Als sich Süd- und Mittelamerika vor fast 200 Jahren befreite, blieb nur die Einheit Brasiliens gewahrt, der spanische Kolonialbesitz hingegen zerfiel in schließlich 18 Staaten. In welchem Land auch immer: Es war die Nation, die hochgehalten wurde. Als Lateinamerikaner empfand man sich, wenn überhaupt, erst an zweiter Stelle. Die Argentinier gar verstanden sich „eigentlich“ als Europäer, die es unglücklicherweise auf den falschen Kontinent verschlagen hatte. Zwar war man über Jahrhunderte verbunden, durch das Spanische als die dem Großteil der Bevölkerung (zumindest amtlich) gemeinsame Sprache, durch ähnliche geschichtliche Erfahrungen und durch die katholische Prägung – kulturell wie religiös. Doch mancher Bischof pflegte über Legaten und Nuntien engeren Kontakt mit Rom als mit seinen Nachbarbischöfen. Es brauchte die Entstehung des Begriffes „Dritte Welt“ im Kalten Krieg, damit auch in Lateinamerika das Bewusstsein der Gemeinsamkeit belebt wurde. 1955, im selben Jahr also, in dem in Bandung (Indonesien) erstmals die Staatsoberhäupter Asiens und Afrikas zusammenkamen, versammelten sich vom 25. Juli bis zum 4. August in Rio de Janeiro die lateinamerikanischen Bischöfe: ein Ausdruck von „Lateinamerikanität“ wie von Kollegialität. Nicht, dass es nicht vorher schon Kontakte gegeben hätte: auf gelegentlichen Nationalkonzilien oder -synoden; dadurch, dass die meisten Bischöfe das Collegio Pio Latino Americano, das 1858 gegründete Konvikt für in Rom studierende Prieser, durchlaufen hatten; beim ersten und einzigen „Concilium Plenarium Americae Latinae“ 1899 in Rom, zu dem sich 53 Erzbischöfe und Bischöfe aus Lateinamerika einfanden, weniger aus eigenem Antrieb als auf Einladung des Heiligen Stuhls, nach einer von der Kurie vorgegebenen Tagesordnung und in lateinischer Sprache. Damit hatte es aber für mehr als ein halbes Jahrhundert sein Bewenden.

Die 1. Generalversammlung 1955, nun „im eigenen Haus“, war ein Durchbruch. Den Weg bereitete die schnelle Folge der Gründungen der Bischofskonferenzen Anfang der fünfziger Jahre und die Unermüdlichkeit vor allem dreier Männer: Dom Hélder Câmara, Bischof Manuel Larraín Errázuriz von Talca (Chile) und Erzbischof Antonio Samoré, seit 1950 Nuntius in Kolumbien, dem das Zusammenfinden der Kirche in Lateinamerika ein Herzensanliegen war. Wegweisend war die Tagung nicht zuletzt dadurch, dass es diesmal nicht dabei blieb. Sie endete mit dem Beschluss, anstelle bloß gelegentlicher Treffen der Kirche in Lateinamerika nun eine Struktur zu geben und den Papst zu bitten, einen Lateinamerikanischen Bischofsrat mit einem Sekretariat in Rom einzurichten. Pius XII. stimmte zu, allerdings mit einer klugen Änderung: Der Sitz des CELAM sollte in Lateinamerika selbst sein. Nach längeren Beratungen entschied man sich für Bogotá (Kolumbien).

Es war ein Kairos, als sich die Kirche in Lateinamerika schließlich im CELAM zusammenfand. Es war jene beneidenswerte Zeit des Mutes zur Horizonterweiterung, in der Pius XII. in der Enzyklika „Fidei Donum“ zur Entsendung von Priestern in die Länder des Südens aufrief (1957), in der hierzulande zwei große weltkirchliche Werke entstanden (Misereor 1958, Adveniat 1961) und in der Johannes XXIII. das Zweite Vatikanum einberief (1962 –1965). Als Antwort auf die Gründung des CELAM und zu dessen Unterstützung hatte der Heilige Stuhl seinerseits 1958 die Commissio pro America Latina (CAL) eingerichtet, die bei der Kongregation für die Bischöfe angesiedelt ist und deren Motor Kardinal Antonio Samoré war. Falsch ist die gelegentlich zu hörende Behauptung, die CAL sei geschaffen worden, um den CE-LAM zu kontrollieren, auch wenn es später gelegentlich Interventionen gab. Richtig ist, dass es fortan die Kirche in Lateinamerika war, die in der Kraft des Geistes des Konzils agierte, und dass die Kurie reagierte.

Die Sonderstellung der Brasilianischen Bischofskonferenz

Jene Bewegung, aus der heraus der CELAM gegründet wurde, war also einer der Schritte, die vorbereitend ermöglichten, dass das Konzil zu einem gnadenreichen Aufbruch der Kirche in die Gegenwart wurde.

Der CELAM ist älter als die entsprechenden Bischofsräte für Afrika (Symposium of Episcopal Conferences of Africa and Madagascar – SECAM/SCEAM, 1969 gegründet) und Asien (Federation of Asian Bishops’ Conferences – FABC, 1970 gegründet) oder Europa (CCEE). Vor allem spielt er für die Kirche in Lateinamerika eine unvergleichlich größere Rolle als SECAM und FABC in ihren Kontinenten. 22 Bischofskonferenzen bilden den CELAM, nämlich 21 nationale (davon 19 spanischsprachig) sowie die Antilles Episcopal Conference, der die 20 Bischöfe aus dem Bereich der ehemaligen britischen und niederländischen Kolonien in der Karibik sowie die der drei französischen Départements d’Outre-Mer angehören. Bisher 30 Mal trat der CELAM zur „Asamblea Ordinaria“ zusammen, zunächst jährlich, seit dem Zweiten Vatikanum alle zwei Jahre. Alle vier Jahre wird der Vorstand gewählt, wobei sich eingespielt hat, dass einer der beiden Stellvertreter des Präsidenten aus Brasilien kommt (falls der Vorsitzende nicht selbst Brasilianer ist). Für je vier Jahre wird auch der – stets sehr detaillierte – Aktionsplan verabschiedet. Die Vorhaben dieses „Plan Global“ zu verwirklichen beziehungsweise dessen Umsetzung nachzuhalten, ist Aufgabe der zuständigen Bischöflichen Kommissionen und der seit ihrer Neuordnung 2003 nur noch 50 Mitarbeiter zählenden Geschäftsstelle, die derzeit vom chilenischen Schönstattpater Sidney Fones Infante geleitet wird. Unter den Einrichtungen des CELAM ist allen voran das Institut für Pastoral und Theologie (Instituto de Teología Pastoral – ITEPAL) zu nennen, das sich der Weiterbildung von Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Laien widmet, und das Biblische Zentrum. Zudem gibt der CELAM zwei Zeitschriften heraus („Boletín CELAM“ und „Revista Medellín“) sowie eine Fülle von Büchern und Reihen zu allen Themen der Pastoral. Der CELAM finanziert seine Arbeit durch die Erträge aus einem vor allem von der CAL bereitgestellten Fonds, durch Zuschüsse von Adveniat, Misereor, der US-Bischofskonferenz und zum geringen Teil aus der von den zugehörigen Bischofskonferenzen entrichteten Umlage.

Die Arbeitssprache des CELAM, das heißt die Sprache seiner Veröffentlichungen und die erste Sprache seiner Versammlungen ist die von fast zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas: das Spanische. Ein Drittel spricht Portugiesisch. Die Auswirkungen dieser sprachlichen Kluft sind nicht zu unterschätzen, auch wenn die brasilianischen Bischöfe bei kontinentalen Treffen den Beiträgen auf Spanisch folgen können und nicht wenige selbst auf Spanisch das Wort ergreifen. Umgekehrt geschieht es fast nie: Innerhalb Lateinamerikas beansprucht das Spanische mittlerweile mit der gleichen Selbstverständlichkeit sein ungefragtes „Recht, allgemein verstanden zu werden“, wie das Englische im Weltmaßstab. Doch für die Brasilianer ist es eben nicht die eigene Sprache. Der Hauptgrund jedoch, weshalb die „Conferência Nacional dos Bispos do Brasil“ (CNBB) im CELAM eine Sonderstellung einnimmt, ist nicht die Sprache, sondern das schiere Gewicht ihrer Größe. Der CNBB gehören 417 Bischöfe an, und sie unterhält ein Generalsekretariat, das personell und finanziell um einiges besser ausgestattet ist als das des CELAM. Das Angebot der CNBB (an Foren des Erfahrungsaustausches, an Weiterbildungskursen, an Publikationen usw.) ist derart umfassend, dass kaum ein Bischof, eine Ordensschwester oder ein Pfarrer aus Brasilien sich die Mühe macht nachzuschauen, was denn der CELAM bereit hält. Und in nicht wenigen Feldern der Pastoral sieht sich die CNBB – ob zu Recht oder im Einzelfall auch nicht – als Avantgarde für ganz Lateinamerika. Insofern könnte die CNBB eher dem CELAM die Richtung weisen als umgekehrt, und mit Kardinal Aloísio Lorscheider OFM (übrigens bis 2004 Erzbischof von Aparecida) schenkte die CNBB dem CELAM einen seiner besten, tatkräftigsten Präsidenten. Allerdings griff der CELAM in der Vergangenheit überraschend wenige Initiativen der CNBB auf. Das mag teils daher rühren, dass die CNBB manchem Bischof als ohnehin (zu) „fortschrittlich“ galt, teils daher, dass man im spanischsprachigen Raum zu bequem ist mitzuverfolgen, was jenseits der Sprachgrenze geschieht.

Die Bekehrung der Kirche in Medellin

Aus sprachlichen Gründen oft abgehängt ist die Bischofskonferenz der Antillen. Auch Haiti bringt sich infolge der eingeschränkten Arbeitsmöglichkeit der Bischofskonferenz (es mangelt an Personal, an Infrastruktur und an Kommunikation) kaum ein und schickt allzu häufig weder Delegierte noch Berichte. Der CELAM beschloss, die Kirche in drei Ländern besonders zu unterstützen: in Haiti, in Kuba und in Nicaragua.

Marcos Gregorio McGrath, Bischof von Santiago de Veraguas, dann Erzbischof von Panama, und eine der ganz großen Gestalten des CELAM, erinnerte wieder und wieder daran, dass der CELAM nicht „an sich“ da sei, sondern dazu, die Aufgaben der Kirche gemeinsam anzugehen. Denn einander im Dienst am Evangelium zu ermutigen, war im Jahr 1955 bitter nötig. Die Mehrzahl der Lateinamerikaner lebte in Armut, wenn nicht im Elend. Mehr als die Hälfte der Staaten wurden von Diktatoren und autoritären Regimes beherrscht und ausgeplündert oder von Bürgerkriegen zerrissen. Die Menschenrechte galten nichts. Und auch innerkirchlich war – wenn man hinter die lebendige Volksfrömmigkeit sah – viel zu tun: Vielerorts herrschte die Meinung, zum Christsein genüge der Empfang der Sakramente, es mangelte an Priestern, die religiöse Bildung war erschreckend gering und nur eine Minderheit der Priester und Bischöfe setzte sich für das Recht der Armen und der Unterdrückten ein.

Zum Inbegriff der „Bekehrung“, von der viele Bischöfe sprachen, wurde „Medellín“: jene zweite Generalversammlung 1968, bei der es darum ging, die Hinwendung der Kirche zur modernen Welt durch das Zweite Vatikanum nach- und mitzuvollziehen und unter dem Leitwort „Die Kirche in der gegenwärtigen Umwandlung Lateinamerikas im Lichte des Konzils“ dessen Anstöße in den Alltag der lateinamerikanischen Wirklichkeit einzupflanzen. Rückblickend sagte Kardinal Pablo Muñoz Vega, Erzbischof von Quito, 1981 in einer Feierstunde des CELAM anlässlich des 20-jährigen Bestehens von Adveniat über das Schlüsselereignis Medellín: „Dort hat unsere Kirche versucht, im Schmelztiegel der Anfragen, die von der Stimme der Armen und der des Heiligen Geistes an uns gerichtet wurden, sich zu prüfen und zu reinigen.“ Dazu nutzten die Bischöfe die bewährte Methode: sehen – urteilen – handeln. Dieser Dreischritt gehorchte der Aufforderung des Konzils, die Zeichen der Zeit zu erkennen und im Lichte des Evangeliums zu bedenken. Gute Theologie ist stets – wie der heilige Bernhard sagt – „ante et retro oculata“. Das eine Auge nimmt die Zeichen der Zeit wahr. Das andere Auge schaut auf Jesus Christus. In der Nachfolge Jesu kann sich die Kirche angesichts von Armut und Unrecht nicht die Hände in Unschuld waschen. Sie verpflichtete sich zu fünf Optionen: der Option für das Volk Gottes, der für die Armen, der für die Basisgemeinden, der für die Teilkirche und der für die ganzheitliche Befreiung. Nicht weniger heilsam war die Wiederentdeckung der Heiligen Schrift und die Einladung an alle Laien zum Engagement in Kirche und Gesellschaft. Damit wurde die in der lateinamerikanischen Ausprägung der Katholischen Aktion noch wirksame Aufteilung in Weltdienst und Heilsdienst und deren Zuweisung an die Stände der Laien und der Priester überwunden, wobei nach diesem Verständnis die Ersteren nicht kraft eigener Vollmacht durch die Taufe tätig waren, sondern delegiert durch den Klerus. Wirkte Medellín (fast) wie ein Blitz aus heiterem Himmel, so hatten sich dank der dort ausgelösten Dynamik bis zur dritten Generalversammlung große Erwartungen aufgebaut, die sich beispielsweise in vielen „Briefen des Volkes Gottes an seine Hirten“ spiegeln. „Puebla“ markierte 1979 dann die halbe Strecke auf dem Weg von der ersten zur bevorstehenden fünften Konferenz und die Halbzeit in der gut 50-jährigen Geschichte des CELAM.

Zu Füßen des großen Bruders

Die Auseinandersetzung um die „Theologie der Befreiung“ hatte im Vorfeld einen ersten Höhepunkt erreicht. Die Bischöfe erhoben dreifach „prophetische Anklage“: gegen Kapitalismus („Fetisch des Marktes“), Neokolonialismus und Materialismus, gegen die „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ (der damals herrschenden Militärdiktaturen), gegen den Marxismus. Sie ergänzten die in Medellín beschlossenen Optionen unter anderem um die Option für die Jugend. Deutlicher als je zuvor war die Wertschätzung der Volksfrömmigkeit: „Die Volksreligiosität ist (...) eine aktive Form, in der das Volk sich ständig selbst evangelisiert.“ (Puebla, Nr. 450)

Die vierte Generalversammlung 1992 in Santo Domingo blieb überschattet von den vorangegangenen Auseinandersetzungen zwischen dem CELAM und der vatikanischen Kurie über die Vorgaben für die Konferenz und die Freiheitsräume, die man den lateinamerikanischen Bischöfen einräumen mochte (oder eben nicht). „Santo Domingo“ vermochte keine „Medellín“ und „Puebla“ vergleichbaren Anstöße auszulösen. Die dort verabschiedeten Dokumente wurden und werden in den Pfarreien und Gemeinden weit weniger gelesen. Was von Santo Domingo bleibt, ist, dass die Bischöfe das Thema der Inkulturation des Evangeliums auf die Agenda setzten. Es steht immer noch auf der Tagesordnung. In Santo Domingo tagte man – wie ein Teilnehmer im Blick auf die Karte meinte – „fast zu Füßen des Großen Bruders jenseits des Rio Grande“. Lateinamerika ist „nur“ der halbe Kontinent. Wie steht es, was die katholische Kirche angeht, um das Zusammenspiel des ganzen? Die Geographie könnte nahe legen, dass die Bischöfe aus Süd und Nord womöglich gemeinsam handeln. Doch die Geschichte und die Verschiedenheit der Kulturen, auch der kirchlichen, stehen dem entgegen, und zwar beiderseits. Von der „Missionary Society of St. James the Apostle“ (der 1959 gegründeten Vereinigung der nach Lateinamerika ausgesandten Weltpriester) und den dort tätigen Orden abgesehen, blieb die Kirche in Lateinamerika meist außerhalb des Gesichtskreises ihrer Schwesterkirche in den USA, wurde jedenfalls weniger wahrgenommen als in Europa.

Visionen geben Kraft zum Glaubenszeugnis

Auch aus lateinamerikanischer Warte gab es Hürden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im Zuge des Kalten Krieges hatte Lateinamerika (im nichtkirchlichen Bereich) viele, zu viele Interventionen und „Empfehlungen“ aus den USA einstecken müssen, als dass man deren Nähe – auch für die Kirche – nachsuchen mochte. Auf höchster Ebene, nämlich der der Leitungen der Bischofskonferenzen, gab es immerhin seit einem ersten Treffen 1959 an der Georgetown-Universität in Washington regelmäßigen Kontakt. Fast jedes Jahr kamen (und kommen) der CELAM und die „United States Conference of Catholic Bishops“ (NCCB) der USA sowie die Kanadier zu ihrer „Reunión de Obispos Católicos de América“ zusammen. An der „Basis“ spielten sich interamerikanische Kontakte erst später ein, insbesondere infolge der zunehmenden Einwanderung aus Lateinamerika in die USA.

Die Migration ist eine der Entwicklungen, die im Geburtsjahr des CELAM niemand erahnen konnte, jedenfalls nicht in dem jetzigen Ausmaß. Niemand sah voraus, dass sich die katholische Kirche dem ökumenischen Dialog mit dem Lateinamerikanischen Kirchenrat („Consejo Latinoamericano de Iglesias“ – CLAI) öffnen würde. Ebenso wenig war damals an ein Wachstum der protestantischen Kirchen und Sekten zu denken, das heute das konfessionelle Gefüge Lateinamerikas erschüttert. Selbst in Santo Domingo spielte das Thema „Sekten“ eine erstaunlich geringe Rolle. Niemand hätte sich vorstellen können, dass die Schar europäischer Missionare, die vor einem halben Jahrhundert einen Großteil der Pastoral trug, zwar zunächst allmählich weiter wachsen, dann aber rasant schrumpfen würde. Niemand wusste 1955 um die kommenden dramatischen Veränderungen des Ordenslebens und der Orden, noch um die Konflikte, die sich zwischen der Ordenskonferenz („Confederación Latinoamericano de Religiosos“ – CLAR) und dem CELAM, vor allem aber zwischen CLAR und dem Vatikan entzünden sollten. Und von der „Theologie der Befreiung“ war in Rio de Janeiro nicht nur nicht die Rede, es gab nicht einmal einen Gedanken daran.

Das damals Undenkbare ist heute gewohnt. Die Aufmerksamkeit, die jene neue Praxis des Evangeliums auch in Europa erregte, hat nachgelassen. Was nicht heißt, dass es die Basisgemeinden, die Option für die Armen oder die Lebensgestaltung aus der Bibel nicht mehr gäbe, im Gegenteil: All das ist – wenn auch keineswegs überall – heute kirchlicher Alltag, macht also keine Schlagzeilen. Es geschieht tagtäglich tausendfach in den Gemeinden und in den Pfarreien, in den Bistümern und in den Orden. Der Beitrag des CELAM bestand und besteht darin, den vielen nationalen und diözesanen Initiativen lateinamerikanische Weite zu geben, so dass einer den andern im Glauben bestärkt. Das ist seine Leistung, ebenda endet allerdings auch seine Kompetenz. Direktiven kann der CELAM nicht erlassen. Es bleibt zunächst den Bischofskonferenzen und dann und vor allem den einzelnen Bischöfen überlassen, was sie von den Vorgaben des CELAM aufgreifen und was nicht. Wären die Beschlüsse von Medellín, Puebla und Santo Domingo in toto verwirklicht worden, so herrschten nicht bloß in der Kirche in Lateinamerika, sondern auf dem Halbkontinent selbst fürwahr paradiesische Zustände. Doch Routine, Beharrungsvermögen, Mutlosigkeit und die eigenen Grenzen sind zuweilen mächtiger als die Visionen. Bei aller Unvollkommenheit: Es sind nicht zuletzt ihre Visionen, die der lateinamerikanischen Kirche jene vorbildliche Kraft zum Glaubenszeugnis geben.

Alte Hausaufgaben sind noch zu erledigen, neue drängen sich auf. Um nur einige aus dem innerkirchlichen Bereich zu nennen: der Brückenschlag zwischen den lateinamerikanischen Kulturen und der europäisch geprägten Tradition (Stichwort „Indigene Theologie“), die Frage der Übertragung kirchlicher Dienstämter an Laien, das nach Dafürhalten des CELAM dringliche Gespräch zwischen der Katholischen Soziallehre und den Weiterentwicklungen der Theologie der Befreiung, die Seelsorge in den Megastädten, die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Sekten, die auch in Lateinamerika fortschreitende Säkularisation, die noch keineswegs selbstverständliche interkontinentale Solidarität... Es gibt viel zu tun. Im oben vorgestellten „Dokument zur Teilnahme“ sind die Anliegen benannt. In den ersten Erklärungen zur 5. Generalversammlung fiel auf, welch großen Raum die Referenzen und Reverenzen an den Heiligen Vater und seinen Primat einnahmen. Das erklärt sich zum einen daraus, dass man auf diese Weise Widerstände von Seiten der Kurie zu überwinden hoffte. Denn dass eine weitere Generalversammlung bewilligt werden würde, war keineswegs gewiss. Es mag zum anderen auch an der gewandelten Zusammensetzung des lateinamerikanischen Episkopates liegen. Der Anteil derjenigen Bischöfe ist gewachsen, für die die Verbundenheit mit dem Papst nicht nur selbstverständlich ist, sondern denen außerdem daran liegt, ihr „cum Petro et sub Petro“ immer wieder zu betonen. Die Geschichte des CELAM ist ein Teil der Geschichte des Episkopates. Sie spiegelt die Veränderungen, die Neuausrichtungen in theologischen Grundüberzeugungen und in pastoralen Grundsatzentscheidungen beim Übergang von einer Generation von Bischöfen zur nächstfolgenden. Eine kollektive Biographie des lateinamerikanischen Episkopates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist noch nicht geschrieben und kann vorläufig noch nicht geschrieben werden. Jedenfalls stehen nun die Anliegen Lateinamerikas im Vordergrund. Aus kleinen Nuancen wie etwa dem Umstand, dass Kardinal Giovanni Battista Re, der Präfekt der Kongregation für die Bischöfe, bei der Feier des 50. Jubiläums im Mai 2005 in Lima die Mitbrüder aufrief, die Eucharistie in die Mitte des Prozesses der Erneuerung der Kirche in Lateinamerika zu rücken, während Kardinal Errázuriz davon sprach, dass es darum gehe, die Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden, wollten einzelne Kommentatoren vermeintlich scharfsinnige, tatsächlich unsinnige Schlüsse über einen Richtungsstreit an den Haaren herbeiziehen. Wozu? Die Dinge sind im Fluss, in der Diskussion. Die Vorbereitung ist nicht die Versammlung selbst und Positionspapiere sind nicht das Endergebnis.

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