Was von Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) bleibtPosthum geboren

Vor 60 Jahren, am 9. April 1945, wurde Dietrich Bonhoeffer in Flossenbürg ermordet, am 4. Februar 1906 war er in Breslau geboren worden. Die Nachfrage nach seinen Texten ist ungebrochen, verkennt aber oft genug die Radikalität seiner Theologie. Dabei ist diese heute aktueller denn je.

„Der geschichtliche Jesus Christus“, hieß es in Dietrich Bonhoeffers „Ethik“-Fragment „Erbe und Verfall“ (1940), „ist die Kontinuität unserer Geschichte“. Weil aber Jesus Christus für Bonhoeffer der Messias Israels war, ist die abendländische Kultur mit dem jüdischen Volk unlöslich verbunden. „Der Jude hält die Christusfrage offen.“ Diesen letzten Satz hatte Bonhoeffer später an den Rand seines Manuskripts geschrieben – in einem Augenblick, als der gelbe Davidstern für Juden am 19. September 1941 verpflichtend wurde und die ersten Massendeportationen aus Berliner Wohnungen am 16./17. Oktober erfolgten („Ethik“: Dietrich Bonhoeffer Werke [DBW] 6, München 1992, 95).

Zusammenhang zwischen Bonhoeffers Friedensengagement und seinem späteren Widerstand

Die Auffassung, dass Israel eine genuine und bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung zukommt, auch für das Christentum, ist für Bonhoeffer inzwischen ebenso gesichert wie die Tatsache, dass sich antijudaistische Elemente der lutherischen Theologie zumal in seinen frühen Texten zur „Judenfrage“ finden lassen. Über sein gelebtes Todesbekenntnis hinaus bei ihm eine explizite und lupenreine „Theologie nach Auschwitz“ entdecken zu wollen oder entsprechend ihr Nichtvorhandensein zu kritisieren, ist ungeschichtlich und verbietet sich von selbst. Ebenso elementar war der Friedensgedanke Bonhoeffers, der vor allem in den achtziger Jahren in den Vordergrund einer interessierten Bonhoeffer-Interpretation gerückt worden war. Seine Dialektik bleibt bemerkenswert und zeitlos aktuell: „Dort, wo eine Gemeinschaft des Friedens Wahrheit und Recht gefährdet oder erstickt, muss die Friedensgemeinschaft zerbrochen und der Kampf angesagt werden“ (DBW 11, Gütersloh 1994, 339). Insofern gibt es einen theoretischen Zusammenhang zwischen Bonhoeffers Friedensengagement und seinem späteren Widerstand. Zur praktischen Umsetzung bedurfte es allerdings der Vermittlung seines Schwagers Hans von Dohnanyi, der in unmittelbarer Nähe zu Admiral Wilhelm Canaris arbeitete und wohl der eigentliche Aktive und Subversive war.

Bonhoeffer erlangte 1940, für den militärischen Dienst in der Abwehr, das kompromittierende Zertifikat seiner UK-Stellung. Das war die Zeit der überraschenden so genannten „Blitzsiege“ Hitlers. Die Opposition fühlte sich in ihrer Hoffnung auf eine rasche militärische Schlappe zurückgeworfen und irritiert. An diesem Tiefpunkt der Verschwörung stieß Bonhoeffer, der sich nicht taktisch am wechselnden Verlauf des Krieges ausrichtete, sondern moralisch am Schicksal der Opfer, als theologischer Gesprächspartner zum Kreis um Canaris, Ludwig Beck und Hans Oster.

Er war weniger „christlicher Theoretiker des Widerstandes“ (Eberhard Bethge) als vielmehr „intellektueller Seelsorger“, wie Sabine Dramm in ihren reflexiven Recherchen über Bonhoeffer und den deutschen Widerstand feststellt („V-Mann Gottes und der Abwehr“, Gütersloh 2005) und sich dadurch behutsam einer (auch ihrer eigenen!) Heroisierung Bonhoeffers widersetzt – was für die zahlreichen Biographien, die neben der „klassischen“ von Eberhard Bethge (Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, 8. Aufl., Gütersloh 2004) angeboten werden, nicht unbedingt gilt. Wie könnte ein „seelsorgerlicher“ Dienst Bonhoeffers ausgesehen haben? Letzte Verantwortung vor Gott überschreitet die Grenzen des Rechts, der Vernunft, der Moral. Die wirklich korrupten Verhältnisse sind weder einfach „vernünftig“, noch mit „sauberen Händen“ zu beenden oder zu verändern. Dadurch, dass Bonhoeffer all dies, gut protestantisch, im Geheimnis von Schuld und Vergebung verankerte, entmythologisierte er den Widerstand und versuchte, das Handeln vor dem ideologischen Zugriff zu bewahren. Die Niederlage Deutschlands im Krieg schien ihm Voraussetzung jeder künftigen deutschen Geschichte, die mit dem Anspruch auf Moralität verbunden sein wollte. Gab es Ansätze einer subversiven Theorie?

Das Bekenntnis kann anders als situativ nicht wirklich Bekenntnis sein

In seiner „Ethik“ nannte Bonhoeffer den Widerstand, in der Sprache der Bibel, „den Aufhaltenden“, den katechon (2 Thess 2,7), „die mit starker physischer Kraft ausgerüstete Ordnungsmacht, die sich den in den Abgrund Stürzenden erfolgreich in den Weg stellt“ (DBW 6, 122 f). Auch Carl Schmitt, juristischer Berater bei den Gleichschaltungsgesetzen des Dritten Reiches, der ihm durch seinen Schwager, den Staatsrechtler Gerhard Leibholz, bekannt gewesen sein musste, verwendete diesen frühjüdischen Begriff, um in ihm alles Apokalyptisch-Revolutionäre zu bannen und die Vision des (christlichen) Reiches stark zu machen. Das dürfte Bonhoeffer, der die Demokratie nicht gerade mit Leidenschaft vertrat, nicht gänzlich ferngelegen haben. Eine Gegenüberstellung mit Schmitt wird noch immer gescheut – offenbar um Bonhoeffer nicht in die gefürchtete Nähe zu irgend einer politischen Theologie geraten zu lassen. Aber für seine gesamte theologisch-praktische Arbeit war eine Erkenntnis elementar, die auch für jede „theologische“ politische Theologie, im Unterschied zu derjenigen Schmitts, konstitutiv ist: Das Bekenntnis (und seine Auslegung) interpretiert die konkrete Situation und kann anders als situativ nicht wirklich Bekenntnis sein. Dennoch darf die Situation nie selbst zum Inhalt des Bekenntnisses werden, nicht einmal im „status confessionis“, der im Extremfall gilt und anderen Prioritäten folgt (vgl. Gernot Gerlach, Bekenntnis und Bekennen der Kirche bei Dietrich Bonhoeffer, Münster 2003). Eine ausgeführte politische Theologie bei Bonhoeffer finden zu wollen, wäre ebenso abwegig, wie es falsch ist, politischtheologische Tendenzen seines Denkens systematisch zu ignorieren. Besonders die deutsche Bonhoeffer-Forschung war an diesem Punkt stets überaus zurückhaltend. Immerhin wird durch die jüngste Übersetzung von Clifford Greens Gesamtdarstellung Bonhoeffers aus dem Jahre 1972 (!) einer im weitesten Sinne politischen Interpretationshermeneutik auch hierzulande der Boden bereitet. Bonhoeffers soziale Definition der Wahrheit könnte damit, genauso wie die Tatsache, dass sein Denken nicht zuletzt am Thema der öffentlich und sozial figurierenden Macht orientiert war, stärker in den Vordergrund treten (Freiheit zur Mitmenschlichkeit. Dietrich Bonhoeffers Theologie der Sozialität, Gütersloh 2004).

Auf Dietrich Bonhoeffer zurück- und vorauszublicken bedeutet, sich seiner inmitten der gegenwärtigen Gottes- und Kirchenkrise zu erinnern und – trotz aller Diskrepanzen seines Werkes – jemandem zu begegnen, der noch um ein Zentrum wusste, von dem aus im Wirrwarr schlimmer Ereignisse frei und verantwortlich gehandelt und theologisch-kreativ gedacht werden konnte; es heißt aber auch, auf theologischhermeneutische Erkenntnisse zu stoßen, die noch immer für kreative Unruhe sorgen. So zeigt eine theorieschwere Studie von Jürgen Boomgaarden (Das Verständnis der Wirklichkeit, Gütersloh 1999), dass sich Bonhoeffer in einer Zeit philosophischer Innovationen und Diskussionen nicht einfach der modernen Philosophie unterworfen hat. Er wollte selber, also theologisch, philosophieren: Weil Gott dem Denken nicht total ausgeliefert, weil er ihm aber auch nicht strikt entzogen werden darf. Entsprechend hat er die Offenbarung interpretiert: Nicht als etwas, das schon verstanden sein muss, um überhaupt gehört werden zu können, sondern umgekehrt: Als Herausforderung, die die Zeit aufsprengt für den Augenblick, wo sich Dasein und Verstehen erschließen, dadurch, dass erstmals, auf der Basis seines heute gegebenen Wortes, inmitten der real existierenden Gemeinde, Gott erfahrbar wird und „gesagt“ werden kann. Bonhoeffer, der die Dialogphilosophie seiner Zeit wie kein anderer Theologe rezipiert hatte, unterhielt eine virtuelle, von den Interpreten noch immer nicht genügend wahrgenommene Beziehung zum Offenbarungs-Denken Franz Rosenzweigs. Erschwinglicher waren stattdessen Vergleiche mit Albert Schweitzer, Simone Weil, Edith Stein und vor allem Albert Camus. Der kritische Christ Bonhoeffer und der Agnostiker Camus waren sich vor allem durch den gemeinsam rezipierten Nietzsche und ihre Existenz im Widerstand nahe (vgl. Sabine Dramm, Dietrich Bonhoeffer und Albert Camus. Analogien im Kontrast, Gütersloh 1998). Bonhoeffer hatte zuletzt über die Frage nachgedacht, wer Christus für uns heute ist. Es war ihm offenbar wichtig, diejenige Kraftquelle – den jüdisch-christlichen Glauben – zu sichern, dem Europa sein Freiheitsdenken und den Begriff solidarischer Verantwortung verdankt, wie Bonhoeffer besonders in seinen „Ethik“-Fragmenten herausgestellt hatte. War er ein Vertreter jenes aufrechten, aber chancenlosen Konservatismus, der nicht begreift, dass es sachrationale und inzwischen längst ökonomische Gründe sind, nicht unmittelbar christliche, nach denen moderne Gesellschaften sich ausrichten?

Aufgaben eines zukunftsfähigen Christentums

„Wer ist Gott?“, fragte Bonhoeffer 1944. Seine Antwort ist zur „Erkennungsmelodie“ einer nachmetaphysischen Theologie geworden: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ,religiöses‘ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ,Dasein-für-andere’“ (Widerstand und Ergebung: DBW 8, Gütersloh 1998, 558). „Religionslose Christen“ nannte er die Gläubigen der Zukunft und dachte noch einmal an etwas ganz Ähnliches wie Franz Rosenzweig: „Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und (...) wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden“ (Rosenzweig: Das neue Denken, Gesammelte Schriften III, Den Haag 1984, 154). So problematisch der Begriff des „religionslosen Christentums“ ist: keiner scheint die Erfahrungen aus der deutschen Misere besser zu bündeln und deshalb geeigneter zu sein, die Aufgaben eines zukunftsfähigen Christentums zu benennen (vgl. Christian Gremmels/Wolfgang Huber [Hg.]: Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums, Gütersloh 2004). Ging doch der Kampf damals gegen die Religion: eine nationalsozialistisch pervertierte ebenso, wie die kirchlich nicht couragiert genug praktizierte, von der es im „Entwurf einer Arbeit“ (1944) hieß: „Kirche in der Selbstverteidigung, kein Wagnis für andere“ (DBW 8, 558). Bis heute ist Kritik am Begriff des „religionslosen Christentums“ geübt worden. Ist die Religion nicht zurückgekehrt als Bedürfnis und bleibende Sehnsucht? Tatsächlich hat die „missglückte Säkularisierung“ (Detlev Claussen) als Nebenprodukt eine „Alltagsreligion“ hervorgebracht, in der sich Spuren der alten, nicht mehr substantiellen Religion mit konformistischen Bewusstseinsbeständen mischen, eine „bürgerliche Religion“, die nichts mehr kostet und zu nichts mehr verpflichtet, aber vieles erträglicher macht.

In diesem Sinne ist Bonhoeffers Religionskritik zu verstehen. In der nachkopernikanischen Welt, so erkannte er bereits früh, tritt an die Stelle von „Glaube“ das von den englischen Deisten stammende Wort „religio“ – Ernst Feil hat es untersucht (Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs, Hg. Ernst Feil, Münster 2000). Es bedeutet „die letzte, feinste der Möglichkeiten des Menschen“ (DBW 11, 145) – eine „ewige Rechtfertigung für alles Bestehende“, alles Geschehende, von dem es dann gerne heißt: es musste geschehen. Und wenn es schlimm war, was geschah, war Religion gleichzeitig „die metaphysische Reinigung von der Anklage“, die auf ihm lastet (DBW 6, 145). Deshalb meinte Bonhoeffer, dass das religionslose Christentum so etwas wie ein Stachel im Fleisch der „aufgeklärten“ Gesellschaften sei, verpflichtet nicht einer banalen, sondern einer „tiefen Diesseitigkeit (...) in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist“ (DBW 8, 541). Realisiert man, dass diese Zeilen am Tag nach dem gescheiterten 20. Juli geschrieben wurden, als Bonhoeffer sich keine Hoffnungen mehr auf Überleben machte, wird klar, an welche „Erkenntnis“ hier gedacht war und wie weit unterhalb dieses Anspruchs sich der „wellnessartige“ Umgang mit Religion heute vollzieht – durch den schon wieder jene herangebildet werden könnten, die nach innen (also weg-)schauen würden, falls die menschenverachtende Gewalt zurückkehrte: „dieser Feind“, wie Walter Benjamin in seiner Meditation über die Geschichte schrieb, der „zu siegen nicht aufgehört“ hat (Gesammelte Schriften I/2, Frankfurt 1974, 695). Bonhoeffer dichtete: „Noch drückt uns böser Tage schwere Last“ (DBW 8, 608). Im Gedanken des „religionslosen Christentums“ blickte Bonhoeffer kritisch auf die westliche Christenheit, ihre Angepasstheit und ihren Provinzialismus. Er hielt ihre Verkündigung für „kraftlos“, unfähig, Christus als Herrn der Welt in seiner Universalität angemessen vertreten zu können. Wenn diese Einschätzung realistisch war: Was bedeutet sie für das Projekt einer Reevangelisierung und Missionierung Europas, das die Kirchen derzeit beschäftigt?

Präzise Reflexion und innige Spiritualität

Die religionslosen Christen sind für Andere da, ohne deren Anderssein zu vernichten; sie buchstabieren den Glauben im Plural unterschiedlicher Erfahrungen und bewahren ihn zugleich in einer Weise, die ihn vor kultureller Vereinnahmung, multikultureller Vermischung und religiöser Versteinerung bewahrt. Bonhoeffer ist nicht mehr dazu gekommen, seine konstruktive Christentumskritik zu entfalten. Aber indem er sich unter dem Stichwort „Arkandisziplin“ die Frage stellte, wie die christlichen Geheimnisse „vor Profanierung behütet werden“ können (DBW 8, 415), hat er die Richtung erkennen lassen: Es ging ihm nicht um liberale Anpassungen, sondern um die christliche Identität inmitten säkularer Strukturen – eine Identität, die der Identifikation mit Anderen entspringt und anders nicht zu gewinnen ist. „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert“, hieß es in der Rechenschaft „Nach zehn Jahren“, am Jahreswechsel 1942/43, „dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben“ (DBW 8, 38). Diese Perspektive war es, die ihn zu einer seiner produktivsten theologischen Thesen führte.

Schon in „Akt und Sein“ (1931) stand der Satz, in dem sich ein neues theologisches Denken ankündigte: „Einen Gott, den ,es gibt‘, gibt es nicht, Gott ist im Personbezug“ (DBW 2, München 1988, 112). In den Gefängnisbriefen wurde der Gedanke weiter zugespitzt und vertieft: „Der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt“ (DBW 8, 558). Gottes „Antlitz“, möchte man mit Emmanuel Lévinas sagen, ist das des bedrohten Anderen, und ein anderes „Sein“ Gottes gibt es nicht – es wäre Produkt religiöser Phantasie und Projektion. Darum hat Bonhoeffer vom „leidenden Gott“ gesprochen, dem Gegenbild all dessen, was die „Religiösen“ von Gott erwarten. Ein im Leiden geschärfter, nicht-religiöser Glaube war es, aus dem er die künftige Theologie, Spiritualität und christliche Praxis hervorgehen sah – ein Grund, weshalb Befreiungstheologen wie Gustavo Gutiérrez oder Frei Betto ihn als einen der ihren betrachteten. Klaus-Michael Kodalle hat sich früher als andere gegen den Mythos Bonhoeffer gewehrt und die Suche vieler Interpreten nach einem geschlossenen theologischen System bei ihm als „Herrschaft der Hermeneuten“ kritisiert. Er gibt zu bedenken, dass „hier einer am Werke ist, dem selten das Glück der Muße beschieden war“: „Das Fragmentarische dieses Lebens in einem fürchterlichen geschichtlichen Augenblick prägt auch die Theorieform“ (Dietrich Bonhoeffer. Zur Kritik seiner Theologie, Gütersloh 1991, 9). Mit dem gleichen Recht wird man sagen dürfen, dass die Ausnahmesituation der Haft, die Bonhoeffer gleichsam nötigte, Vergangenes nicht verloren zu geben und die Zukunft zu beanspruchen, für die Gefängnisbriefe und ihre „Denkform“ der eigentliche „Glücksfall“ war: Nicht aus der ruhigen Betrachtung, sondern aus der Not geboren, verbinden sie präzise Reflexion, innige Spiritualität und freundschaftliche Kommunikation. Nichts wird ins andere aufgelöst. Die Theologie bleibt radikal, sie plaudert nicht und betet nicht, sondern sie argumentiert; die Gebete sind eindringlich und „fromm“, die freundschaftlichen Erinnerungen und Erwägungen, die beides „erden“, sind profan bis zum Trivialen (was in der erweiterten letzten Auflage der Werkausgabe noch deutlicher zutage tritt).

Den ganzen Bonhoeffer wahrnehmen

Das komplexe Denken der Gefängnisbriefe war nicht nur theologiepraktisch bedeutsam, sondern führte auch zu neuen theologischen Erkenntnissen, die nicht das Gesamtwerk hinter sich haben müssen, um gültig zu sein. So hat nach Bonhoeffer die mündige Welt mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt und den Blick freigemacht für den Gott der Bibel; umgekehrt erscheinen die Verhältnisse aus dieser biblischen Perspektive in ihrer ganzen Banalität und Gottferne, die „nicht irgendwie verdeckt, sondern vielmehr gerade aufgedeckt“ werden (DBW 8, 537). Ein einziger Satz fasst diesen Befund zusammen, der die Situation der modernen Theologie sowie ihre gegenwärtige und zukünftige Aufgabe umreißt: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ (DBW 8, 534) – als Glaubende, inmitten der methodischen Gottlosigkeit der wissenschaftlichen und politischen Moderne. Zeitgenossenschaft war es, die Bonhoeffer gelebt und die er der Theologie vorgeschrieben hat. Die imposante Bonhoeffer-Werkausgabe ist abgeschlossen (DBW I–XVII, München und Gütersloh 1986–1999). Eine mehrbändige Auswahl aus allen Schaffensperioden ist in Vorbereitung (Christian Gremmels/Wolfgang Huber [Hg.]: Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Gütersloh 2006). Die Nachfrage ist ungebrochen und scheint – im Verlangen nach Leitbildern und Idolen? – noch immer zu steigen. Dabei wird Bonhoeffer, trotz seiner theologischen Vorbehalte, besonders als „religiöser“ Autor gelesen und in allen nur denkbaren Variationen angeboten. Im Zentrum steht „das“ Gedicht des Tegeler Gefangenen: „Von guten Mächten“ (DBW 8, 607 f), das auch zum ökumenischen Kirchenlied gediehen ist. Konzentriert auf das Positive, das es beschwört, wird das Dunkle gern übersehen, nur dies Letzte nicht: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Genau das aber war Bonhoeffers immer besorgtere Frage im Blick auf die Kirche und das Christentum der Zukunft. Nur wer den ganzen Bonhoeffer wahrzunehmen bereit ist, darf auch seine Lieder singen! 

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