HK: Herr Professor Schulze, wenn es heute unter Politikern, Wirtschaftslenkern oder Journalisten um den Zustand unserer Gesellschaft geht, dominieren Begriffe wie Reformunfähigkeit, Innovationsfeindlichkeit, Risikoscheu. Stimmt der Soziologe dieser Diagnose zu?
Schulze: Was die Politik angeht, ja. Trotz jahrelangen Bemühens hat sich da nur ganz wenig getan. Nehmen Sie nur die Auseinandersetzung um den Kündigungsschutz. Wir hätten mehr Bewegung im Arbeitsmarkt und könnten mehr Arbeitsplätze schaffen, wenn der Arbeitsmarkt so flexibel wäre, wie es die Betriebe im globalen Wettbewerb ja auch sein müssen. Unternehmer stellen bei uns immer nur so viele Leute ein, wie unbedingt nötig, denn die Auftragslage ist eben unsicher. In allen Ländern, die den Kündigungsschutz so gut wie abgeschafft haben, ist die Arbeitslosigkeit rapide zurückgegangen. Vorbildlich sind Schweden, Dänemark und die Schweiz. Heuern und feuern ist normal, Zeiten vorübergehender Arbeitslosigkeit sind unproblematisch, denn man fällt in ein komfortables soziales Netz, das den Aufkleber „Fordern und Fördern“ wirklich verdient. Bei uns wäre das undenkbar. Das Thema Kündigungsschutz ist ein Paradebeispiel für eine Verschiebung der Täterrolle. Als Täter gilt die böse Wirtschaft, das Unternehmertum, das Kapital. Dabei verläuft die Konfliktlinie ganz woanders: Zwischen denjenigen, die Arbeit haben, und denjenigen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Wir haben eine Reihe solcher Konflikte, die nach einem bestimmten Schema interpretiert werden – nach dem Links-Rechts-Schema oder nach dem Arbeit-Kapital-Schema. Die wirklichen Konfliktparteien bleiben weitgehend unerkannt.
HK: Liegt es an den falschen, weil überholten Deutungsmustern, dass wir uns so schwer tun, die dringenden Probleme unseres Landes zu lösen?
Schulze: Es gibt ein Schema F zur Interpretation von Arbeit:Arbeit ist, was ausgebeutet wird. Das traditionelle Lagerdenken sieht einen Interessenkonflikt zwischen dem Unternehmer und dem Arbeitnehmer. Wir leben aber nicht mehr im 19. Jahrhundert, sondern im 21. Längst besteht eine massive Interessenkonformität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, gute Standortbedingungen zum Beispiel. Wir brauchen lebensfähige Unternehmen, wir brauchen Arbeit, und wir müssen vor allem dem Mittelstand, der rund 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze bereitstellt, gute Bedingungen bieten. Sonst gehen immer mehr Arbeitsplätze verloren, da kann man mit der Trillerpfeife auf die Straße gehen, solange man will. Wenn die Räder hier still stehen, dann stehen sie eben still und drehen sich woanders.
HK: Lässt sich hierzulande noch begründet von Ausbeutung sprechen?
Schulze: Ausbeutung hat viele Gesichter: Wer Transfereinkommen bezieht, reguläre Arbeit ablehnt und sich noch unter der Hand was dazu verdient, beutet alle aus, die sein Transfereinkommen finanzieren. Auch all die kleinen und mittleren Betriebe, die in den letzten Jahren schließen mussten, weil sie den Arbeitskosten, der Abgabenlast, der Regulierungswut nicht mehr gewachsen waren, sind Opfer einer Ausbeutungsbeziehung, die Genossen nannten das früher „sinnvolle Marktbereinigung“.
„Es gibt hierzulande eine politische Korrektheit der Situationsdeutung“
HK: Warum halten sich die überholten Schemata so hartnäckig?
Schulze: Sie haben die Sympathie fast aller Intellektuellen und des Feuilletons. Man hat es seit dem 19. Jahrhundert eingeübt: das gierige Kapital, die unmoralische Wirtschaft, die Ausbeuter auf die eine Seite, die Schwachen, die Ausgebeuteten auf der anderen. Dieses Muster hat sich tief eingegraben. Wer einen flexiblen Arbeitsmarkt fordert, wird als Neoliberaler beschimpft. „Amerikanische Verhältnisse“ heißt es dann; Schweden und Dänemark werden nur erwähnt, wenn ihre vorbildlichen Sozialsysteme gelobt werden, nicht aber beim Thema Kündigungsschutz. In diesen Etikettierungen, Deutungsmustern, Konsensen steckt unser Denken fest.
HK: Wo sehen Sie weitere „versteckte“ Konflikte und Konfliktlager?
Schulze: Etwa im Interessenkonflikt zwischen jüngeren und älteren Arbeitnehmern. Bewerbungen von Leuten über 40, so heißt es, werden in den Personalabteilungen erst gar nicht gelesen. „Jugendwahn“ ist das gängige Erklärungsmuster für dieses Verhalten. Unerwähnt bleibt die Tatsache, dass ältere Mitarbeiter deutlich teurer sind als ihre jungen Kollegen, weil bei uns die Tariflöhne und AT-Gehälter mit den Berufsjahren ansteigen. Ein anderes Beispiel ist der Interessenkonflikt zwischen verschiedenen Lebensbereichen: Arbeit und Karriere auf der einen Seite, Familie, Kinder und Freizeit auf der anderen. Die meisten von uns verfolgen das Projekt des schönen Lebens, aber wer noch Arbeit hat, kommt oft gar nicht dazu, weil er den Job seines nicht eingestellten Kollegen miterledigen muss.
HK: Was macht dieses schöne Leben aus?
Schulze: Das, was im Grundgesetz garantiert ist: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, oder – wie in der amerikanischen Verfassung – der „pursuit of happiness“. Das lässt sich nicht mit dem Links-Rechts-Schema oder dem Schema der Klassengegensätze erfassen – im Gegenteil. Diese Schemata verneinen, dass es das schöne Leben überhaupt geben kann, solange die Klassengegensätze nicht aufgehoben sind. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ist der dazugehörige Leitspruch. Entsprechend werden diese neuen sozialen Konflikte auch gar nicht thematisiert. Das werfe ich der politischen Klasse und den Medien vor: Es gibt hierzulande eine politische Korrektheit der Situationsdeutung – gepaart mit der Angst der Politiker, unpopulär zu werden, ihre Wählergruppen zu verschrecken. Nur bin ich mittlerweile fest davon überzeugt, dass die Wähler es letztlich honorieren, wenn die Dinge ehrlich beim Namen genannt werden.
HK: 1992 haben Sie – jenseits dieser alten Deutungsmuster – unsere Gesellschaft als „Erlebnisgesellschaft“ beschrieben, Ihr gleichnamiges Buch wurde ein Bestseller. In dieser Erlebnisgesellschaft steht das bewusste Erleben im Zentrum; diese Erlebnisorientierung war zugleich Ihre Grundlage für eine Theorie der Konstitution sozialer Milieus. Trifft diese Einteilung heute noch zu? Ihnen ist seinerzeit auch vorgeworfen worden, dass durch die Klassifikation sozialer Milieus nach Lebensstil, Alter und Bildung, die realen gesellschaftlichen Konflikte und die soziale Ungleichheit unterbelichtet bleiben.
Schulze: Es gibt soziale Ungleichheit, aber dieser Begriff erklärt nicht, was die entwickelten Industrienationen heute ausmacht, da er rein ökonomische Faktoren zum Kriterium dafür macht, wie ein Mensch lebt und welche Chancen er hat. Früher konnten nur materiell Bessergestellte etwas aus sich machen, das stimmt, aber in den reichen Zivilgesellschaften des Westens haben alle Menschen die Möglichkeit, ihr Leben zu gestalten. Die Grundversorgung ist sichergestellt, Deutschland gibt etwa ein Drittel seiner Einnahmen für Soziales aus. Es ist heute vor allem eine Frage der Mentalität, was man aus seinem Leben macht und welche Prioritäten man setzt. Diese Mentalität habe ich in den Milieus der Erlebnisgesellschaft beschrieben. Heute würde ich die Akzente vielleicht anders setzen, denn es ist ja nichts in Beton gegossen. Vor allem nicht in der Soziologie, auch wenn man diesen Eindruck gelegentlich haben kann, wenn man die Bannerträger der sozialen Ungleichheit so reden hört. Wir befinden uns mitten in einem kollektiven Lernprozess; es wird vieles ausprobiert, neue Lebensstile entwickeln sich. Die veränderte gesellschaftliche Realität wird heute in Alltagsgesprächen, in der Werbung, in den Medien reflektiert. Soziale Ungleichheit? Der Begriff zeigt vor allem, dass sein Benutzer sich erfolgreich die Ohren zugehalten hat.
„Wir stürmen nicht mehr in gleichem Maße voran wie in den fünfziger oder sechziger Jahren“
HK: Sie haben die Idee kollektiven Lernens und des Common Sense in einem vor zwei Jahren veröffentlichten Buch mit dem Titel „Die beste aller Welten“ ausführlich beschrieben. Demnach befindet sich der Zeitgenosse heftig auf Sinnsuche, widersetzt sich der ungebremsten Steigerungsideologie, entdeckt das Absurde des ewigen Rufs nach Wachstum. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?
Schulze: Die naive Übertragung des Steigerungsdenkens hat bei kultur- und subjektbezogenen Projekten nicht funktioniert. Wir können nicht immer intensivere Erlebnisse haben. Das Subjektive lässt sich nicht als ein Medium endloser Steigerung vorstellen, das Bewusstsein ist kein Speicherchip, der immer mehr Informationen verarbeitet. Subjektivität kann man sich nur aneignen, indem man sich auf die Logik des Subjektiven einlässt.
HK: Worin unterscheiden sich die Logik des Subjektiven und die Logik der Steigerung?
Schulze: Die Logik des Subjektiven bedeutet: Annäherung an eine Gestalt, an etwas, das man irgendwann als gut empfindet und deshalb in seiner Entwicklung abschließt. Wenn ich am Klavier um die Interpretation einer Sonate ringe, habe ich eine bestimmte Vorstellung davon, wie ich sie spielen möchte. Natürlich sind auch technische Probleme zu lösen – Steigerungsfragen eben. Wenn ich aber die technischen Hürden überwunden habe, stehe ich vor der Gestaltungsaufgabe, und irgendwann ist es vielleicht so weit, dass ich sage, jetzt ist es so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich könnte es vielleicht auch anders machen, aber es gibt kein „besser“. Man kann doch auch nicht sagen, dass Schumann besser ist als Beethoven. Es gibt keine aufsteigende Innovationsgeschichte in der Musikgeschichte, es gibt nur immer wieder das Andere.
HK: Was ist das Bessere, was das Andere, wenn ich mich frage, wie ich leben will? Warum stellt sich für uns heute so deutlich die Frage nach dem guten Leben?
Schulze: Die Suche nach immer stärkeren (Erlebnis-)Reizen, der Wunsch, immer mehr in die Zeit hineinzustopfen, die Anhäufung von Gegenständen in Wohnungen, das Aussehen unserer Städte – all dies folgt der Logik der Steigerung, vorgestellt als ein endloser, immer nur aufwärts gehender Pfad. Davon beginnen sich die Menschen heute zu verabschieden. Sie suchen eine Form, mit sich und ihrem Leben umzugehen, die ähnlich unserem Umgang mit Kunst ist, unserer Art Kunst zu interpretieren und ein Kunstwerk herzustellen. Irgendwann ist dieses Werk für eine bestimmte Lebensphase fertig – sie haben sich dem angenähert, was sie wollten und gehen darin auf.
HK: Steckt demnach in der dem Zeitgenossen vielfach attestierten Unbeweglichkeit und Innovationsmüdigkeit, seinem Beharren auf dem Vertrauten und Bekannten vielleicht doch nur ein Moment des Innehaltens, der Selbstvergewisserung, des Bremsens bei zu hohem Tempo?
Schulze: Wir müssen zwei Dimensionen unterscheiden: die des Seins und die des Könnens und Habens. Wir dürfen nicht einfach sagen, wir haben jetzt die Phase der Steigerung hinter uns gelassen. Es gibt keine Reihenfolge: erst Materialismus, dann Postmaterialismus, erst Haben und Können, dann das Sein. Man wird dem, was wir tun, am ehesten gerecht, wenn man sagt, dass wir eben zweidimensional leben. Unsere Handlungsprojekte tummeln sich in dem durch diese beiden Dimensionen aufgespannten Raum.
HK: Verliert die Dimension des Könnens und Habens nun an Bedeutung? Haben wir uns jetzt genug um deren Steigerung gekümmert?
Schulze: Es gibt – vor allem global gesehen – nach wie vor massive Probleme des Könnens und Habens, und es kann nicht die Rede davon sein, dass dieser Pfad zu Ende beschritten wäre. Mehr als sechs Milliarden Menschen auf der Welt müssen ernährt werden, es gibt Hunger, bittere Armut, eine enorme Ungleichheit bei der Verteilung von Ressourcen. Auch in der medizinischen Forschung gibt es noch viel zu tun. Davon abgesehen muss all das auch erhalten bleiben, was wir uns geschaffen haben: Die Infrastruktur, die Energieversorgung, die Bereitstellung von Konsumgütern. Damit wir „sein“ können, müssen wir an unserem Können und am Haben weiterarbeiten. Es nimmt aber die Dringlichkeit der Steigerung ab, und es wird schwieriger, hohe Wachstumsraten zu erzielen – etwa im Vergleich zu Staaten und Gesellschaften, die erst in die Industrialisierung und den freien Wettbewerb eintreten. Es wäre naiv anzunehmen, dass wir im gleichen Maß voranstürmen können, wie wir das in den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren konnten. Es gibt einfach Gegenstände, die zu Ende perfektioniert sind. Und wir als Menschen haben nur eine begrenzte Anzahl von Bedürfnissen. Das Steigerungsspiel ist nicht vorbei, aber es verliert seine kulturelle Prägekraft, es ist in den Industrienationen der ersten Generation einfach nicht mehr so wichtig.
„Selbstmanagement will gelernt sein, Verantwortung für sich selbst auch“
HK: Angesichts der wirtschaftlichen Lage im Land entstehen Verteilungskonflikte um Arbeit, Bildung, Steuern. Drohen neue gesellschaftliche Spaltungen? Der allgemeine Wohlstand, von dem alle im Nachkriegsdeutschland auf unterschiedlichem Niveau profitierten, hat die Gesellschaft doch auch zusammengehalten. Wie stabil ist sie unter den aktuellen Bedingungen?
Schulze: Ich denke, dass die Solidarität nach wie vor da ist, das sieht man etwa an der enormen Spendenbereitschaft bei Katastrophen. Aber wir stellen fest, dass Geld allein nicht reicht und fragen uns, ob wir es richtig verwenden. Wir hatten vor kurzem eine Diskussion über das so genannte Unterschichten-Fernsehen. Bemerkenswert daran war, dass dieser Ausdruck nicht mehr die fürsorgliche Vereinnahmung der Schwachen transportierte. Es ging nicht mehr darum, sich stark für sie zu machen, wie das in solchen Diskussionen sonst üblich ist. Vielmehr tat sich eine soziale Distinktionsgeste kund, und es lag Spott, Verachtung, Kopfschütteln darin: Da gibt es Leute, die von irgendwelchen Transferleistungen leben, die nicht mehr arbeiten, auf dem Arbeitsmarkt auch gar nicht mehr anschlussfähig sind und die sich dann – weil ihnen nichts Besseres einfällt – von ihrem Geld Unterhaltungselektronik kaufen, sich ausschließlich von Fett und Kohlenhydraten ernähren, ihre Tage sinnlos vor dem Fernseher vertun.
HK: Gab es dieses bürgerliche Kopfschütteln nicht immer schon?
Schulze: Neu daran ist: es geht nicht mehr um den Gegensatz zwischen den Arbeitern, die ungebildet sind, aber nützlich sind und denjenigen, die gebildet sind und von den Arbeitern profitieren. Es geht nicht um den Dünkel, die Distinktion der Reichen und Arrivierten gegenüber dem Dienstpersonal. Die Lager haben sich verändert. Jetzt schütteln diejenigen den Kopf, die noch im System anschlussfähig sind, die arbeiten, eigenes Geld verdienen und die – ein Motiv aus der Erlebnisgesellschaft – nicht so doof sind, dass sie nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, sondern sinnvoll damit umgehen. Da taucht ein ganz neues Prestige-Denken auf. Die Erlebnisgesellschaft kultiviert nicht nur das Motiv der Sinnsuche, sie begründet auch eine neue Verachtung gegenüber denjenigen, die sich langweilen, die sich nicht selbst organisieren können, die Möglichkeiten hätten, sie aber nicht nutzen.
HK: Peter Glotz hat für die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts einmal das Schreckenszenario einer Zweidrittelgesellschaft gezeichnet, in der das untere Drittel ganz einfach abgeschrieben ist. Lässt sich diese Entwicklung gar nicht mehr abwenden?
Schulze: Selbstmanagement will gelernt sein, Verantwortung für sich selbst auch. Dazu sind langwierige Erziehungsprozesse nötig, aber wer das Pech hat, in ein bestimmtes Ambiente hineingeboren zu werden und seiner eigenen Trägheit überlassen bleibt, hat mit 20 Jahren ganz schlechte Karten. Um Selbstmanagement und Eigenverantwortung zu vermitteln, müsste schon im Kindesalter angesetzt werden – allerdings herrscht da in Deutschland ein enormes Defizit.
HK: Für viele war dies der eigentliche Pisa-Schock: In welchem Maße bei uns die Herkunftsfamilie über Bildungs- und damit Lebenschancen entscheidet.
Schulze: Jemand, der keine sozialen Kompetenzen besitzt, der nicht richtig lesen, schreiben, rechnen kann – wie soll man den in eine Gesellschaft integrieren, in der Bildung und Qualifikation alles sind? Einen gewissen Anteil solcher Menschen wird es wohl in unserer Gesellschaft geben – ein Drittel scheint mir aber etwas übertrieben. Einige von ihnen sind Opfer der Erziehungs- und Leistungsverweigerung, wie sie in den Anfängen der Erlebnisgesellschaft in Mode war. Wir dürfen aber auch nicht in allen nur Opfer sehen. Jeder trägt eine Verantwortung, muss sich in die Pflicht nehmen lassen. Immer nur Mitleid, Fürsorge und Geld reichen nicht. Leute integrieren sich nur, wenn sie etwas machen, Leute integrieren sich nicht, wenn sie nur versorgt werden.
HK: Welche Angebote findet der Zeitgenosse für seine Sinnsuche, wer bietet Antwort auf die Frage nach dem guten Leben?
Schulze: Es ist ein immer noch wachsender Beratungsmarkt entstanden, der die Menschen auf ihre Subjektivität fokussiert und sie mit einer Sprache ausstattet, in der sie sich darüber klar werden, wo sie stehen und welchen Lebensweg sie gehen sollen: In der Psychotherapie, in der Literatur, in sozialen und kirchlichen Einrichtungen, in Bürgerinitiativen, in Selbsthilfegruppen, Ratgebersendungen im Fernsehen. Selbst Filme, in denen Leute gezeigt werden, die ihr Wohnzimmer renovieren, einen Bildhauerkurs besuchen oder ihren alten Trabi für eine Ausstellung aufpolieren, verweisen das Individuum auf sich selbst und seine Möglichkeiten.
„Modernität besteht darin, dass man offen ist und Unsicherheit anerkennt“
HK: Hängt auch die vielfach behauptete Renaissance der Religion mit dieser neuen Aufmerksamkeit für das Sein zusammen, einem neuen Denken jenseits von Können und Haben?
Schulze: Diese Renaissance hat viele Facetten. In dem weltweiten Vormarsch der evangelikalen und charismatischen Kirchen sehe ich eher ein Zurückschreiten, eine Abkehr von dem, was kulturell erarbeitet wurde: Dass nämlich der Einzelne für das Erleben seines Lebens Verantwortung ergreift und auch die Risiken akzeptiert, die sich damit verbinden – auch das Risiko des Scheiterns. Was in den Erweckungsbewegungen angeboten wird, sind charismatische Führer, starre Formen, nach denen es zu leben gilt, soziale Kontrolle. Wer aus einer Situation extremer Freiheit kommt, mag das als eine Art Schutz empfinden, es ist jedoch eine Form der Entmündigung.
HK: Worin besteht die Verlockung zu solcher Regression?
Schulze: Speziell der Protestantismus, der ja auch über eine moderne Theologie verfügt, hat eben beides hervorgebracht: die Rückwärtsgewandtheit in den Erweckungsbewegungen auf der einen Seite und auf der anderen – ganz im Sinne Schleiermachers – die theologische Reflexion, die alles auflöst und nur noch die Idee von Gott übrig lässt. Der Einzelne bleibt ganz im Ungewissen. Das ist eine extrem schwierige Religion für schlichte Gemüter, nichts für Leute, die spirituell Obdach suchen. Der Wunsch, das Leben auf eine lohnende Weise zu leben, kann einen eben auch dazu bringen, fremde Seins-Angebote zu übernehmen und sich – eine durchaus ja noch beliebte kirchliche Metapher – als Schäflein in eine Herde zu integrieren und die Rückkehr in ein Idyll zu leben.
HK: Was wäre heute eine moderne, nicht regressive Religiosität?
Schulze: Modernität besteht darin, dass man offen ist, Unsicherheit anerkennt und versucht – ein zentraler Begriff – zu begegnen. Begegnung heißt, dass man in seiner singulären Subjektivität einem singulären Aspekt der Welt begegnet – einem anderen Menschen, einem Kunstwerk, der Natur, Gott. Diese moderne Religiosität steht diametral zur Rückkehr ins Schäfchen-Dasein: Wir gestehen uns ehrlich ein, dass wir nichts wissen. Wir haben vielleicht eine Ahnung, stehen in einer kulturhistorischen Tradition, die uns beeinflusst, die wir aber auch relativieren. Religion ist eine ganz extreme, leidenschaftliche Form der Suche nach Begegnung.
HK: Droht unserer Gesellschaft – über den religiösen Bereich hinaus – eine Spaltung in Modernitätsverweigerer und moderne Virtuosen?
Schulze: Nehmen Sie den Medienbereich: Es gibt Medien, die sehr diskursiv angelegt sind und die Dinge offen lassen. Ihnen stehen solche mit ganz festen Deutungsangeboten gegenüber. Und die Medien sind ein wichtiger Teil der kollektiven Verständigung darüber, was der Fall ist, wie wir unsere Kultur zu beschreiben haben. Auch bei den Medienkonsumenten sehe ich eine solche Spaltung: Auf der einen Seite solche, die die Welt als schon gedeutet empfangen wollen und die ständig in diesen Deutungsmustern miteinander verkehren. Auf der anderen Seite solche, für die überhaupt nichts feststeht, die den Satz von Popper: „Alles Wissen ist Vermutungswissen“ ernst nehmen und immer wieder neu bereit sind, zu zweifeln und sich unsicher zu fühlen; solche, die immer schon alles wissen, und solche, die neu hinschauen können.
„Die Menschen können und wissen oft mehr, als ihnen abverlangt wird“
HK: Liegt in dieser Offenheit nicht eine enorme Überforderung für den Einzelnen?
Schulze: Die Menschen sind gar nicht so überfordert, im Gegenteil: sie können und wissen oft mehr, als ihnen abverlangt wird. „Überforderung“ ist ein Begriff des Scheiterns. Er unterstellt, dass die Menschen nicht lernfähig sind und einen festen Rahmen brauchen, um sich im Leben zurecht zu finden. Ich bin der Meinung, dass jeder lernen kann, die Offenheit der Moderne als Bereicherung zu empfinden und nicht als Last. Es braucht eben nur seine Zeit. Am Anfang der Moderne verschwand zunächst der Aberglaube aus dem Denken, und ein umfassender, naturwissenschaftlich inspirierter, kollektiver Lernprozess setzte ein. Heute hat jeder ein weitreichendes technisch-naturwissenschaftliches Grundverständnis. Jetzt befinden wir uns in einer Phase der Kultur- und Subjektaneignung. Sie steht noch ganz am Anfang, und es muss wieder ein solcher Lernprozess stattfinden, den wir durch Reden, Denken, Deuten und Zweifeln zum Thema machen. So wie in der Psychotherapie eine Sprache geschaffen wurde, um mit seelischen Problemen umzugehen, so werden wir auch für das Soziale eine Sprache schaffen, in der wir uns allmählich darüber klar werden, wie wir leben wollen. Dies wird den Horizont unseres Denkens deutlich erweitern, und wir werden die Freiheit, die wir haben, immer besser zu nutzen verstehen.