Das Problem Gotteslästerung in einer multikulturellen GesellschaftWenn Grundrechte kollidieren

Durch die Präsenz des Islam in Westeuropa ist auch das Problem der Gotteslästerung und ihrer rechtlichen Sanktionierung auf die Tagesordnung zurückgekehrt. Lange Zeit wurde auch im christlichen Kulturkreis Gotteslästerung mit harten Strafen geahndet. Wie ist heute bei Konflikten zwischen Meinungs- und Religionsfreiheit zu verfahren?

Ali Mohaktik Nasab ist Herausgeber einer bekannten afghanischen Frauenzeitschrift. Dieses Magazin (Kaikik-i-San) hatte am 1. Oktober 2005 einen Artikel publiziert, in dem der Autor dafür plädierte, die Abkehr vom Islam nicht länger als ein Verbrechen zu betrachten, das mit dem Tode bestraft werden solle. In einem anderen Beitrag war die Praxis kritisiert worden, den Ehebruch mit hundert Peitschenhieben zu bestrafen. Unlängst wurde Nasab zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt – wegen „Gotteslästerung“. Wer nun meint, dies sei ein Relikt vergangener Zeiten, das sich fern von der Haustür noch zu manifestieren weiß, irrt sich. Vor wenigen Wochen hielt ich an der Universität Tilburg einen Vortrag über das Thema „Religion und Gewalt“. Ebenfalls eingeladen war der in den Niederlanden sehr bekannte Rechtsgelehrte Afshian Ellian, Ordinarius an der Universität Leiden. Ellian ist persischer Herkunft und ein prominenter Kritiker des „politischen“ Islam. Wir trafen uns vor der Veranstaltung im Universitätsrestaurant. Während des Essens fielen mir plötzlich drei Herren auf, die – mit Knopf im Ohr – dezent, aber deutlich sichtbar am Nebentisch saßen. Ellian bestätigte später, dass er rund um die Uhr bewacht wird, nachdem ihn andauernd Todesdrohungen erreichen, die mit seinem gotteslästerlichen Verhalten in Verbindung gebracht werden.

Zwischen Indifferenz und Konfliktfähigkeit

Schon längst ist die Frage, ob wir eine multikulturelle Gesellschaft wollen können, von den empirischen Gegebenheiten überholt. Lediglich die Frage, welche Art des Multikulturalismus wir wollen sollten, ist übrig geblieben. Und auch hier gilt es, Notwendiges von Fragwürdigem zu trennen. Eine Toleranz, die zwischen Lust an der Folklore und Gleichgültigkeit schwankt, ist hier fehl am Platz. Sie wird im Übrigen von nicht wenigen Kulturen als erniedrigend empfunden. Die Rechtsphilosophie des Multikulturalismus zielte auf etwas anderes – auf Minderheitenrechte. Mit Will Kymlicka (Multicultural Citizenship, Oxford 1995, 26 ff.) kann man zwischen zwei Modi unterscheiden. Es gibt „self-government rights“, die in einem gewissen Umfang politische Autonomie oder territorial begrenzte Formen der Rechtsprechung zulassen. Aber wie das Prädikat „territorial“ bereits deutlich macht, muss hier immer von der territorialen Homogenität einer kulturellen Gruppe in einem größeren nationalen oder transnationalen Zusammenhang ausgegangen werden. Dies ist in West-Europa nur äußerst selten der Fall.

Im Falle der so genannten „polyethnic rights“ ist dies aber anders. Hier geht es in erster Linie um den Schutz von kulturellen Praktiken ethnischer Gruppen, die sich gegen eine „leitkulturelle“ Homogenisierung zu Wehr setzen. Der Streit um die Zulässigkeit des „Schächtens“ wäre ein gutes Beispiel für die Anerkennung solcher Minderheitenrechte. Obwohl das Schächten mit den bundesrepublikanischen Tierschutzbestimmungen nicht im Einklang ist, werden Ausnahmen von der Gesetzesregel zum Zwecke des Schutzes religiös-kultureller Gewohnheiten erlaubt. Einer der Gründe, weshalb solche Ausnahmen gestattet werden, hat mit der religiösen Verwurzelung mancher Praktiken von kulturellen Minoritäten zu tun. So wird die rituelle Beschneidung von Jungen jüdischer und islamitischer Herkunft bei uns erlaubt, obwohl es keinerlei medizinische Indikation für die generelle Entfernung der Vorhaut gibt. Rein rechtlich wäre der Eingriff im Grunde als Körperverletzung zu werten, als Verstümmelung. Aber seine religiöse Symbolkraft statuiert auch in diesem Fall eine Ausnahme von der Regel.

Minderheitenrechte entstehen nicht auf der Grundlage der Beschreibung kultureller Praktiken, sondern als das Ergebnis ihrerWertung. Wertungen sind aber trivialerweise nicht immer positiv, sondern können auch negativ ausfallen. Char-les Taylor, der unverkennbar Sympathien für das Grundanliegen des Multikulturalismus hat, kulturelle Minderheiten zu schützen, formulierte am Ende seines berühmten Essays zu diesem Thema äußerst vorsichtig, was seines Erachtens die Basis eines solchen multikulturellen Wohlwollens darstellt: „Es gibt die Annahme der Gleichwertigkeit [...] eine Haltung, die wir einnehmen, wenn wir das Studium des Anderen beginnen. Vielleicht brauchen wir gar nicht die Frage zu stellen, ob andere diese Haltung von uns als ein Recht fordern können. Wir könnten auch einfach fragen, ob wir uns den anderen in dieser Haltung nähern sollen oder nicht“ (Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt 1993, 70). In den Ohren jener, die einer Mentalität „politischer Korrektheit“ anhängen, mag die Formulierung „Annahme der Gleichwertigkeit“ anstößig klingen, weil hier von der Möglichkeit der Falsifizierbarkeit dieser Gleichwertigkeit ausgegangen wird. Annahmen können nämlich widerlegt werden. Sollten wir also in Zukunft von der Ungleichwertigkeit der Kulturen ausgehen? Nein, das sollten wir nicht. Täten wir das, würden wir in einem gefährlichen Kulturchauvinismus enden. Nehmen wir dagegen Gleichwertigkeit als eine wohlwollende Ausgangsposition an, bekunden wir Respekt und Anerkennung. Aber die Annahme der Gleichwertigkeit beinhaltet keineswegs, dass dieser Respekt und diese Anerkennung um jeden Preis erfolgen müsse. Wenn dies so wäre, ließe sich keinerlei moralische Kritik mehr üben. Und im Übrigen gehen auch längst nicht alle nicht-westlichen Kulturen von der Annahme aus, die westliche Kultur sei der ihren gleichwertig.

Gegen einen radikalen Moralrelativismus

„Gleichwertigkeit“ kann als eine Verstehensvoraussetzung aufgefasst werden, die uns auf die Spur andersartiger kultureller Werte bringen kann, aber nicht muss. Es gibt Kulturen, die keineswegs für ihre Bewohner adaptive Systeme darstellen. Nicht selten fördern Kulturen keineswegs die Lebensqualität ihrer Mitglieder, sondern schränken diese in hohem Maße ein. Unbelehrt durch die Tatsachen gravierender Verletzungen der Menschenwürde in verschiedenen Kulturen wird der eine oder andere zurückfragen, woher wir die Maßstäbe besitzen, die uns in die Lage versetzen, solche Verletzungen überhaupt zu beurteilen. Gegen einen solchen radikalen Moralrelativismus lässt sich einwenden, dass der Kanon der Menschenrechte trotz aller Kritik im Detail ein zuverlässiges, historisch plausibles und universalitätsfähiges Instrument solcher Bewertungen darstellt. Auf diesem Hintergrund kann man Multikulturalismus als eine wohlwollende, aber auch rechtsphilosophisch relevante Ausgangsposition politisch-moralischer Kritik betrachten. Wenn der Multikulturalismus Kulturen nicht abschotten will, sondern zum inter-kulturellen Gespräch beitragen möchte, ist also von der harmoniesüchtigen Einstellung Abschied zu nehmen, die in der sprichwörtlichen Nacht (der Moral) endet, in der alle (ethischen) Katzen grau sind.

Im Falle der Gotteslästerung, deren Definition im Laufe der Moderne erheblich eingeschränkt, aber gleichzeitig auch um die Beleidigung weltanschaulicher Bekenntnisse variabler Herkunft erweitert worden ist, stoßen wir auf einen genuin (wenn auch nicht ausschließlich) multikulturellen Konflikt und auf einen gravierenden Konflikt konkurrierender Rechte. Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit beziehungsweise der verbriefte Schutz ihrer Identität und ihrer Praktiken treten hier in Konkurrenz. Zwar ist der rechtliche Tatbestand der „Gotteslästerung“ noch recht selten, aber vor allem im Zusammenhang mit dem europäischen Islam treten verstärkt Fälle solcher Art auf. Salman Rushdie wurde wegen gotteslästerlicher Äußerungen in den „Satanischen Versen“ zum Adressaten eines Mordaufrufs. Auf dem Leichnam von Theo van Gogh, dem niederländischen Filmemacher und „agent provocateur“, fand man einen Brief, in dem als Motiv der Tötung die „Lästerung“ des Islam genannt wurde. Aber was ist das eigentlich, eine „Gotteslästerung“?

Gotteslästerung als Ehrkonflikt

Man könnte die Gotteslästerung als eine „Ehrverletzung Gottes in Worten, Taten und Gedanken aus der Perspektive einer wertenden Fremdzuschreibung“ bezeichnen. Diese Definition ist vorläufig, denn der Tatbestand und die entsprechenden Strafmotive unterliegen im Laufe der Jahrhunderte einem erheblichen Wandel. Entgegen der oft geäußerten Vermutung, die Lästerung oder Blasphemie sei in Zeiten einer einflussreich monoreligiösen Kultur eher selten gewesen, gilt es festzuhalten, dass sie in allen Zeiten außerordentlich verbreitet war, aber nicht immer gleich konsequent geahndet wurde.

Die wichtigsten Quellen für den normativen Tatbestand der Gotteslästerung sind natürlich in erster Linie die theologischen und die strafrechtlichen Kommentare. Sie gehört zunächst zu den „Sünden des Mundes“ oder zu den „Zungensünden“. Die „peccata verborum“ wurden ab dem Ende des 12. Jahrhunderts zunehmend systematisiert. Alexander von Hales nennt die Gotteslästerung oder Blasphemie eine Schmähung gegen Gott mit der Absicht, ihn zu entehren. Schon hier taucht eine Standardauflistung jener Kriterien auf, die bei der Identifikation der Gotteslästerung zur Anwendung kommen: Von einer solchen Lästerung ist die Rede, wenn Gott etwas zugeeignet wird, was ihm nicht zukommt; wenn ihm etwas weggenommen wird, was ihm zukommt; wenn den Geschöpfen etwas beigelegt wird, was allein Gott zukommt. Diese Definition lässt zunächst undeutlich erkennen, ob die Gotteslästerung im Bereich jener Schmähungen zu suchen ist, welche die Ehre Gottes antasten oder im Bereich häretischer Auffassungen, welche die Wahrheit verfehlen. Sind die Lästerungen „verba mala“ oder sind sie „verba falsa“? Sie sind beides, obwohl man hinzufügen muss, dass vielfältige Versuche einer Trennung zwischen Lästerung und Häresie unternommen wurden. An erster Stelle steht deshalb die Auffassung, die Gotteslästerung sei eine öffentliche Ehrverletzung des Schöpfers. Der Vorwurf gotteslästerlichen Redens bezieht sich „auf die verbale Verächtlichmachung Gottes“, wie es Gerd Schwerhoff ausdrückt. Aber die Nähe zur Häresie beziehungsweise die Auffassung, die Häresie sei auch eine Form der Blasphemie, macht diesen Vorwurf so gefährlich.

Allerdings lässt sich die Blasphemie nicht ohne die zentrale Bedeutung der „Ehre“ verstehen, die für die vormodernen Kulturen eine so überragende Bedeutung besitzt. Die Gotteslästerung ist ein Ehrkonflikt, so dass sie nur verständlich wird, wenn man die „Logik“ der Ehre berücksichtigt. Sie weicht nämlich in signifikanter Weise ab von der Logik der „Würde“, die in den frühmodernen Gesellschaften beginnt, die Codes der Ehre abzulösen. Verschiedentlich ist auf die Eigenart der Ehre-Orientierung hingewiesen worden: Ehre ist „Standesehre“ (Georg Simmel) und findet ihren Ausdruck „in der Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung“ (Max Weber). Sie erfüllt die Funktion einer komplexen sozialen Integration in einer Gruppe und einer sozialen Interaktion zwischen Gruppen. Die „Ehre“ umfasst jeweils differenzierte und weitestgehend ritualisierte Praktiken der Ehrerbietung und -bezeugung. Ihr zentrales Prinzip ist das der Asymmetrie. Sie ist demnach gekoppelt an die Anerkennung sozialer Ungleichheit als Bedingung der Möglichkeit einer Anerkennung der Person auf dem Hintergrund ihrer sozialen Stellung. Der moderne Begriff der Würde dagegen beruht auf ganz anderen Prämissen – auf der Prämisse der Gleichheit der Person unabhängig von ihrer Position. Hier überwiegt eine egalitäre Zuweisung von Würde, dort – auf dem sozialen Felde der „Ehre“ – eine elitäre Dosierung der Anerkennung. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass „Würde“ auch dann noch vorhanden ist, wenn sie gänzlich unsichtbar geworden ist. „Ehre“ dagegen fällt und steht mit der Sichtbarkeit ihres Ausdrucks und mit der ebenso sichtbaren, genau kodierten, ja peniblen Anerkennung der Asymmetrie. Und gerade deshalb hat Hegel Recht, wenn er sie „das schlechthin Verletzliche“ nennt. „Der Maßstab der Ehre“, so schreibt er in den „Vorlesungen über die Ästhetik“, „geht also nicht auf das, was das Subjekt wirklich ist, sondern auf das, was in dieser Vorstellung ist“. In der Ehre habe der Mensch „das nächst affirmative Bewusstsein seiner unendlichen Subjektivität, unabhängig von dem Inhalt derselben“.

In der Tat ist die Ehre unabhängig von den realen Leistungen ihres Subjekts, unabhängig von dessen moralischen Qualitäten. Die Ehre setzt die soziale Differenz in Szene und gilt in der Selbstwahrnehmung ihres Trägers als bedingungslos, als losgelöst von charakterlicher oder moralischer Exzellenz. Deshalb wird „der Schein der Ehre das eigentliche Dasein des Subjekts“, sagt Hegel, und dieser Schein ist buchstäblich aufzufassen: Ehre ist sichtbar. Ihre Verletzung betrifft nicht dies oder jenes, sondern „die Persönlichkeit“, die „sich angegriffen erachtet“. Eine Ehrverletzung hat aus diesem Grunde etwas Totales. Nicht eine besondere Qualität oder Eigenschaft ihres Subjekts wird in Abrede gestellt, sondern die Person als solche wird desavouiert. Es geht hier um nichts weniger als um Leben und Tod. Im Falle der Gotteslästerung handelt es sich um eine Ehrverletzung des Unendlichen, um eine unendliche Verletzung, um die Negierung allerhöchster Asymmetrie, könnte man sagen. Gott als solcher wird hier gekränkt und nicht nur dieses oder jenes Attribut, das wir ihm zuschreiben sollten. Genau diesen Unterschied macht auch die Trennung der Blasphemie von der Häresie möglich, obwohl die Grenzziehung oft äußerst schwierig ist. Die Häresie ist attributiv, die Lästerung inklusiv – sie inkludiert die gesamte Person Gottes und nicht nur einige seiner Eigenschaften. Gerade deshalb waren die Strafen zum Teil drakonisch. Prozesse wegen Gotteslästerung endeten häufig mit Folter und Verstümmelung, nicht selten mit einem grausamen Tod.

Im Laufe der Neuzeit nimmt der Vorwurf der Gotteslästerung insgesamt ab. Geahndet wird er jedoch bis weit in frühe Moderne mit teils gravierenden körperlichen Strafen. Dabei ändern sich jedoch erheblich die Motive, gotteslästerliches Verhalten zu ahnden. Dennoch kann man mit Leichtigkeit ein konstantes Motiv entdecken, das sich bereits in den frühesten gesetzlichen Regelungen findet: das Motiv der Wahrung der öffentlichen Ordnung. Nicht nur die Ehre Gottes müsse wiederhergestellt werden, sondern die Folgen der Strafe Gottes für die Schändung seiner Ehre sollten gemildert, abgewandt oder verhindert werden. Schon die berühmte Novelle 77 der justinianischen Gesetzgebung aus dem Jahre 538 erwähnt den „Zorn Gottes“, der zu besänftigen sei, „damit nicht die Städte mit ihren Bewohnern zu Grunde gehen“. Zwar ist hier nicht ausdrücklich von der Wahrung der öffentlichen Ordnung die Rede, aber die eventuellen Folgen einer nicht geahndeten Beleidigung Gottes („Hungersnot, Erdbeben und Pest“) führen unmittelbar in den Ruin einer solchen Ordnung. Ordnungspolitische Maßnahmen bilden als Strafzweck das Herzstück sämtlicher strafgesetzlicher Regelungen der Gotteslästerung. Erheblich ändert sich jedoch das Schutzobjekt solcher Gesetze.

Schutzobjekt ist seit der Aufklärung immer weniger der Schutz der Gottesehre, sondern der Schutz der Öffentlichkeit. An die Stelle der Ehre Gottes rückt nun die Religion und ihre Institutionen, die es zu schützen gilt, weil sie erheblich zum moralischen Ordnungsprofil der Gesellschaft beitragen. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, statt die „Religion“ als Schutzobjekt zu nennen, von dem generellen „Schutz des öffentlichen Friedens“ zu sprechen. In § 166 des deutschen Strafgesetzbuches taucht der gesetzestechnische Ausdruck „Gotteslästerung“ mittlerweile nicht mehr auf. Von der „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“, die „geeignet [sind], den öffentlichen Frieden zu stören“, ist nunmehr die Rede. Geahndet werden können solche Tatbestände mit einer Geldstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren.

Die Rückkehr der Gotteslästerung in den öffentlichen Diskurs der westlichen Gesellschaften hat mit einer Konfrontation zweier Kulturen zu tun – im Falle des Islam haben wir es in hohem Maße mit einer Kultur der Ehre zu tun, die nun auf eine Kultur stößt, die den Ehrbegriff in hohem Maße verabschiedet hat und an der Würde des Einzelnen orientiert ist. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau beruht auf der egalitären Grundausrichtung des Würde-Konzepts (und der Praxis der Menschenrechte), nicht auf einer asymmetrischen Ehrevorstellung „Kulturen der Ehre“ spiegeln auch heute noch in ihren religiösen Selbstartikulationen jene Ehre-Empfindlichkeit wieder, die in vor-modernen Gesellschaften des Westens ebenfalls eine überragende Bedeutung gehabt hat. Wenn Gotteslästerung von Muslimen als Kriegsgrund oder als Motiv tödlicher Wiederherstellung der Familienehre genannt wird, gibt es keinen Grund, dieses Motiv als vorgeschoben oder uneigentlich zu betrachten (vgl. Ulrich K. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Gedanken aus dem alten Europa, Berlin 2003, 170 ff.). Es ist tief in einer Kultur der Ehre verwurzelt.

Im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit

In einer solchen Situation ist der „milde“ Multikulturalismus überhaupt nicht hilfreich. Wer in diesem Zusammenhang von der normativen Gleichwertigkeit einer Kultur der Ehre und einer Kultur der Würde spricht, übersieht die wirklich tief reichende prinzipielle Inkommensurabilität beider Kulturmuster. Obzwar im Einzelnen Ehrencodes auch unter den Bedingungen der Kultur der Würde überlebt haben, kann es keine wie immer geartete Versöhnung zwischen der asymmetrischen Grundstruktur der einen und der egalitären Basisoption der anderen geben. Wir empfinden mittlerweile die Strafpraktiken der einstigen Regelungen der Gotteslästerung als ungeheuerlich und maßlos und haben diese Empfindungen auch angesichts der heutigen Ahndungen von Ehrverletzungen im islamischen Kulturbereich, weist dies exakt auf jene von Hegel beschriebene „Unendlichkeit“ der Verletzung und ihrer Sühne hin. In einer Kultur der Menschenrechte können weder die traditionellen Legitimationen des Delikts der Gotteslästerung noch die Strafpraktiken, die mit diesem einhergehen, Sympathie geschweige denn Anerkennung finden. Wohl können und müssen die Konflikte, die im Spannungsfeld von Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Wahrung des öffentlichen Friedens bestehen, wahrgenommen und mit den Mitteln des Rechtsstaats geschlichtet werden.

In einigen europäischen Ländern werden mittlerweile Diskussionen strafrechtlicher Natur geführt, die diesem neuen Sachverhalt Rechnung tragen. In diesen Tagen wird im englischen Unterhaus eine „Radical and Religious Hatred Bill“ verhandelt. In den Niederlanden ist eine heftige Debatte über die Erweiterung der Strafbarkeit von Beleidigung und Gotteslästerung entstanden. Während Ministerpräsident Balkenende und Justizminister Donner – beides Christdemokraten – eine solche Erweiterung in Erwägung ziehen und dabei die Religionsfreiheit hervorheben, weist der liberale Koalitionspartner dieses Ansinnen ab und argumentiert mit dem anderen Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Beide Grundrechte stehen zunächst in einem horizontalen Verhältnis zueinander, was bedeutet, dass keine prinzipielle Vorrangstellung des einen vor dem anderen besteht. In der Praxis aber wird häufig das Recht auf Religionsfreiheit, das als Grundrecht die Strafbarkeit der Beleidigung und der Gotteslästerung begründet, im Konfliktfall als höherrangig betrachtet. Dies führt im niederländischen Strafgesetz (Art. 137c) dazu, dass die Glaubensverkündigung beziehungsweise die Artikulation religiöser Überzeugungen anders, nämlich strikter geschützt sind als normale Meinungsäußerungen. Aber nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung steht hier zur Debatte. Hinzu kommt das Verbot der Diskriminierung, das sowohl mit der Religionsfreiheit als auch mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung in einen Konflikt geraten kann. Die juridische Richtschnur bei Auseinandersetzungen über „Gotteslästerung“ sollte meiner Meinung nach die Wahrung der öffentlichen Ordnung sein. In den meisten Fällen kann darauf vertraut werden, dass solche Konflikte auf dem Felde der „civil society“ – also ohne politische und gerichtliche Interventionen – geschlichtet werden. Nur im äußersten Fall sollte das ordnungspolitische Argument zur Anwendung kommen. Darüber hinaus sollte die latente Privilegierung der Religionsfreiheit zuungunsten der Meinungsfreiheit kritisch unter die Lupe genommen werden. Was aber eine juridische Regelung nie erfassen, geschweige denn hervorrufen kann, ist die Höflichkeit, die in öffentlichen Debatten und Stellungnahmen so selten anzutreffen ist. Sie würde manch erbitterten Streit zurückstufen auf eine zivile Auseinandersetzung.

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