Chancen und Probleme einer „heiligen Maschine“Orgel und religiöse Kultur

Liturgisch und konzertant spielt die Orgel eine wichtige Rolle. Ihre Klangwelt und Technik faszinieren, zugleich aber werden kritische Stimmen laut. Ist die Orgel noch liturgiefähig? Wohin tendiert der Orgelbau, und welches Repertoire und welche gottesdienstliche Sensibilität brauchen Organisten?

Kein zweites Musikinstrument verfügt über die klangliche und optische Vielfalt der Orgel. Nahezu jede, vom tragbaren Positiv bis zur symphonischen Kathedralorgel, ist ein Unikat, eigens für den Auftraggeber entworfen und durch die Arbeit des Intonateurs speziell auf den jeweiligen Raum abgestimmt. Beispiellos ist auch ihre geschichtliche Variabilität: von der Erfindung der „Hydraulos“ genannten antik-profanen Wasserorgel durch den Mechaniker Ktesibios (um 250v. Chr.) in Kleinasien bis zum „Prototyp III“, einer jüngst im Rahmen eines Schweizer Forschungsprojektes entwickelten Orgel, die erstmals dynamisch-expressiv auf den Tastendruck des Spielers reagiert. Über den engeren Kreis der „Orgel-Freaks“ hinaus machen immer wieder spektakuläre Instrumente von sich reden. So erhielt die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles durch den Architekten Frank O. Gehry ein Instrument mit dem Design einer „Pommes frites Orgel“, deren kreuz und quer in den Raum ragende Holzpfeifen der beiden 32´-Register – teilweise leicht gekrümmt, aber allesamt klingend – den Kartoffelstäbchen in einer überdimensionalen Pommes-Tüte gleichen. Über 72 Register auf 4 Manualen und Pedal verfügt dieses von der japanischen Toyota Motor Company gestiftete Konzertinstrument, das die Firma Glatter-Götz aus Owingen am Bodensee im Sommer 2004 fertig gestellt hat.

Mit bislang nur wenigen Pfeifen kommt hingegen die neue Orgel in der ehemaligen Klosterkirche St. Burchardi zu Halberstadt aus. Seit dem 5. September 2001 erklingt auf ihr permanent nur ein einziges, wenige Noten umfassendes Stück aus der Feder des amerikanischen Avantgardisten John Cage (1912–1992): „Organ2 / ASLSP – as slow as possible“. Was aber bedeutet die Vortragsanweisung „so langsam wie möglich“ angesichts des unerschöpflichen Windvorrats der Orgel? Eine ästhetisch-theologische Diskussion über diese Frage markiert den Beginn dieses singulären Orgelprojekts, dessen Aufführungsdauer von den Initiatoren auf stolze 639 Jahre projektiert ist. Eingesetzt hat das aller kulturellen Kurzlebigkeit trotzende Stück mit einer mehrmonatigen Pause, in der nur das Rauschen der Balganlage zu hören war. Seit dem ersten Klangwechsel 2004 erklingt nun ein E-Dur-Dreiklang, von dem am 5. Juli 2005 die Töne gis´ und h´ weggenommen werden. Verbunden mit dieser noch im Bau befindlichen Orgel – viele Töne kommen schließlich gar nicht und einige erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten zum Einsatz – ist ein im Aufbau befindliches Zentrum zur Erforschung der Ästhetik und Musik von John Cage. Mit der Aufführungsdauer von 639 Jahren wollten die Initiatoren im Jahr 2000 zugleich an ein weit zurückliegendes orgelgeschichtliches Ereignis in Halberstadt erinnern. Für den dortigen Dom hatte im Jahr 1361, also 639 Jahre zuvor, Nikolaus Faber die berühmte, erstmals liturgisch genutzte und für den Orgelbau richtungweisende „Blockwerkorgel“ erbaut, die der Musikgelehrte Michael Praetorius im zweiten Band seines Lehrbuchs „Syntagma Musicum“ (1619) detailliert beschrieben hat.

Ein weiterer Aspekt noch, an dem sich heute die Geister scheiden: Im September 2002 fand in Villingen im Schwarzwald eine denkwürdige Orgelweihe statt. Geweiht wurde in der Benediktinerkirche eine „Silbermann-Orgel“, erbaut von dem elsässischen Orgelbauer Gaston Kern (Hattmatt) als völlige Rekonstruktion eines Instruments, dessen letzte Reste an Pfingsten 1944 in Karlsruhe in Flammen aufgegangen waren. Keine einzige Pfeife dieser von Johann Andreas Silbermann aus Straßburg für die „Herren Benediktiner“ in Villingen 1752 geschaffenen Orgel ist erhalten geblieben. Als Grundlage des Nachbaus dienten allein Silbermanns Pläne mitsamt seiner Korrespondenz sowie das Studium erhaltener Vergleichsinstrumente. Dieses privat initiierte, erfolgreich finanzierte und klanglich überzeugende Projekt dokumentiert eindrucksvoll den Stand heutiger historischer Orgelforschung, ruft aber auch ästhetische Probleme in Erinnerung: Kann „Rekonstruktion“ die Antwort auf gegenwärtige liturgischkonzertante Erfordernisse sein? Heftig entbrannt ist die orgelbauliche Kontroverse um „stilistische Reinheit versus kompromissbereite Vielfalt“ bekanntlich in einem langwierigen „Orgelstreit“ an der Dresdner Frauenkirche. Als man dort auf einen Nachbau der Gottfried-Silbermann-Orgel verzichtete und sich für ein vielseitig-modernes Instrument mit ca. 70 Registern in einem historisierenden Gehäuse entschied, zogen Mitglieder der „Silbermann-Fraktion“ aus Protest Sponsorengelder zurück, und der Nobelpreisträger Günter Blobel kündigte gar seine Ehrenmitgliedschaft im Kuratorium der Frauenkirche auf. Zwischen Innovation und Rekonstruktion bewegt sich gegenwärtig der Orgelbau. Auf die Spitze getrieben und zugleich als Inspiration genutzt wurde diese Spannung von dem französischen Orgelbauer Marc Garnier, dessen achtmanualige Orgel in Tokio (Metropolitan Art Space) sich auf drei großen Scheiben in wenigen Minuten um 180 Grad drehen lässt, was bei Konzerten auch regelmäßig vorgeführt wird. Das „historische Gesicht“ zeigt einen klassisch anmutenden Prospekt, hinter dem gleich zwei an barocken Vorbildern orientierte Orgeln platziert sind; das „moderne Gesicht“ hingegen bietet einen eher futuristischen Anblick mit einer modernen Konzertsaalorgel. Allein die großen Pedalpfeifen „teilen“ sich die zwei (optisch) bzw. drei (akustisch) zu einem Instrument verschmolzenen Orgeln.

Kein Instrument ist in seiner äußeren Form so variabel wie die Orgel. Die Gestaltung von Gehäuse und Prospekt bleibt eine künstlerisch-handwerkliche Herausforderung, immer abhängig von der Stilistik des Raumes, nicht selten auch von Vorgaben des Denkmalschutzes. Auf der einen Seite kommen neue Möglichkeiten zum Einsatz, wenn etwa der Bildhauer und Holzgestalter Armin Göhringer, der mit dem Orgelbauer (Oberharmersbach) zusammenarbeitet, einem Orgelgehäuse mit der Kettensäge eine „verletzte Oberfläche“ zufügt. Auf der anderen Seite begegnet man immer wieder Prospekten mit dem nüchternen Charme eines Kleiderschranks oder der „künstlerischen Ausdruckskraft von Schwarzwälder Kirschtorten“ (Claudius Winterhalter). Freilich darf auch gefragt werden, ob die „ästhetische Haltbarkeit“ innovativer Lösungen der handwerklich intendierten des Instruments entspricht. Zudem gibt es bei den ohnehin nur wenigen Kirchenbauten unserer Tage auch etliche, bei denen eine Orgel gar nicht eingeplant und die Möglichkeit einer integrativen Gesamtgestaltung somit von vornherein verspielt wird. Der Orgelersatz durch elektronische Klangerzeuger, in Ermangelung von Pfeifen gerne als „Sakralorgeln“ tituliert, scheint inzwischen eher rückläufig, nachdem sich deren Klangdefizite und kurze „Halbwertzeiten“ auch in Gemeinden sowie bei Pfarrern und Stiftungsräten herumgesprochen haben. Ein Orgelneubau ist für jede Gemeinde eine immense Herausforderung, aber auch ein gemeinsames künstlerisch-pastorales Projekt, das mehr als nur musikalische Chancen in sich birgt und gerade deshalb nicht gegen caritative Themen ausgespielt werden darf. Doch nicht nur Orgelbauer und Kirchenmusiker fragen besorgt, wie viele Gemeinden sich in Zukunft eine neue Orgel noch werden leisten können.

Kirche ohne Orgel – Orgel ohne Kirche

Das gegenwärtige religiös-kulturelle Image der Orgel lässt fast vergessen, dass die westliche Kirche im ersten Jahrtausend ganz ohne Orgel auskam. Die orthodoxe Kirche und strenge Richtungen des Judentums verzichten bis heute auf die „Königin der Instrumente“. Zudem war die Orgel anfangs ein dezidiert weltliches Instrument zu Repräsentationszwecken. Ihr Einzug in die Kirche war keineswegs selbstverständlich, dafür umso nachhaltiger. Aus einem geduldeten Instrument wurde im Lauf der Jahrhunderte das assoziativ am stärksten mit Kirche und Glaube verbundene. Orgelklang und religiöse Andacht, das erklingt für viele im Unisono. Diese vorschnelle Gleichsetzung überhört jedoch, dass es eine Fülle „weltlicher“ Orgelmusik gibt, zu deren Darstellung allerdings nicht allzu viele Orgeln in Konzertsälen. Daraus resultiert eine Art von „Besuchsrecht“ solcher Werke im Kirchenkonzert, wodurch das religiöse Orgelklischee noch verstärkt wird. Wenn etwa Charles Ives’ (1874–1954) „Variations on ,America‘ “, parodistische Orgel-Variationen über „Heil dir im Siegerkranz“, im Kirchenraum erklingen, weiß man nicht so recht, worüber man meditieren oder ob man schmunzeln soll. Andererseits entstand die „Symphonie passion“ von Marcel Dupré am 8. Dezember 1921 mitten in einem großen amerikanischen Kaufhaus! Die halbstündige Komposition erwuchs aus einer Improvisation Duprés an der damals weltgrößten Orgel des „Wanamaker Store“, Philadelphia, mit über 350 Registern auf sechs Manualen, die bis heute zweimal an jedem Werktag erklingt.

Leider sind die wenigen außerkirchlichen „Spielfelder“ der Orgel gefährdet. Im Rundfunk nehmen die Sendeminuten für Orgelmusik ab, was die Programmverantwortlichen damit begründen, dass die Orgel polarisierend wirke: sie löst große Begeisterung aus und trifft gleichzeitig auf schroffe Ablehnung. Dass sie für viele assoziativ im Schatten der Kirche steht, gereicht ihr inzwischen wohl mehr zum Nachteil als zum Vorteil. Organisten mögen sich trösten: Die „innerkirchliche“ Kritik am Orgelspiel ist wohl so alt wie die Kirchenorgel selbst. Bereits im 19. Jahrhundert brachte es der Aachener Kaplan H. W. Schonnefeld auf eine griffige Formel: Der „Mißbrauch der Orgel und des Orgelspiels“ besteht darin, dass „der Organist zu viel, zu lange, zu stark oder zu wild spielt“. Sattsam bekannt sind die heutigen, mehr oder weniger berechtigten Urteile im Minusbereich. Sie reichen von „einschläfernd“ und „pompös“ über „unpersönlich“ und „anachronistisch“ bis zu „amtskirchlich“. Und mit der Liturgiereform kamen nicht nur neue Chancen, sondern es wurden auch neue Schwachpunkte offenbar. Häufig wird die Vielfalt der Orgel-Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, weil es an der Verbindung von musikalischer und liturgischer Kompetenz fehlt. Chancen der Profilierung bleiben ungenutzt, so dass ein Einheitsklang dominiert, der den Rhythmus des Kirchenjahres ebenso einebnet wie die innere Dramatik einer Feier. Die Intonation zu einem Halleluja-Ruf etwa erklingt wenig inspiriert und zum Mitsingen kaum inspirierend, wenn der nach vorne drängende Ruf wie ein in sich abgerundetes Lied behandelt wird, ohne Rücksicht auf musikalische Gestik, liturgische Bedeutung und theologische Aussage. Bei einem Anfang Januar 2005 im Fernsehen aus dem Berliner Dom übertragenen ökumenischen Gedenkgottesdienst anlässlich der Flutkatastrophe in Asien schloss der Organist die vierte Strophe des Gemeindeliedes „O Heiland, reiß die Himmel auf“ bei den erwartungsvollen Worten „komm, tröst uns hier im Jammertal“ mit vollem Werk und in strahlendem Dur. Das vermittelt kaum Hoffnung, sondern befremdet.

Indirekt jedoch wird an solchen Beispielen deutlich, dass Musik auch und gerade im Kirchenraum „Klangrede“ ist, und nicht nur „Umrahmung“. Gerade am Thema der Liedbegleitung lässt sich ein ganzes pastoral-didaktisches Programm festmachen: von der Wichtigkeit „pädagogischer“ Einführung, die Musik und Inhalt vorstellt (Vorspiel) über die klare, aber nicht starre Führung, die leitet und zugleich nachgeben kann (Begleitung), vom sensiblen Agieren und Reagieren (Kommunikation), das die Singenden atmen lässt, bis zur Wichtigkeit der Klangfarbe („der Ton macht die Musik“). Schädlich ist allerdings die übliche Beschränkung der Orgel auf Liedbegleitung, weil es von der Gregorianik bis zum Neuen Geistlichen Lied zahlreiche Gesänge gibt, die sich mit der Orgel nur unzureichend begleiten lassen. Neu zu entdecken sind die überaus vielfarbigen gestischen Möglichkeiten der Orgel, vom Stammeln und Röcheln bis zu triumphalen Klängen. Ihr Feind ist einzig die sterile Einfallslosigkeit, ihre Stärke liegt dagegen im Prozessualen: großflächige Entwicklungen, rascher Klang- und Farbwechsel, das Spiel mit dem Raum, mit Gesten, Bildern und Affekten, mit Wort und Ton. Die liturgische Devise kann nur lauten: die Möglichkeiten ausschöpfen und erweitern, die Unmöglichkeiten einschränken. Nicht alles, was gesungen wird, muss von der Orgel begleitet werden; und nicht jede freiwillige oder unfreiwillige Pause sollte mit Orgelzwirn „überbrückt“ werden.

Jahrzehnte nachdem die Brüder von Taizé ihre große Orgel verkauft und durch ein asthmatisch hüstelndes Positiv ersetzt haben, formulierte der Komponist und Dirigent Hans Zender das schärfste Verdikt. Er sieht die Orgel als „Teil des abendländischen Museums“ und will sie gänzlich aus der Liturgie verbannen, weil sie mit ihrem „triumphalistischen Getöse“ nur noch ein „Klischee von geistlicher Musik“ vermittelt. Das ist zweifellos eine Unterschätzung der organistischen Möglichkeiten. Wichtiger wäre deren Stärkung: durch geeignete Literatur für neben- und hauptamtliche Spieler und vor allem durch eine Neubesinnung auf die Möglichkeiten der Improvisation. Nur die Improvisation kann sich unmittelbar in die Liturgie „einmischen“. Im Idealfall gerät das musikalische Mitspielen so zum Mitfeiern im Sinne einer „musikalischen Kon-Zelebration“ (Wolfgang Bretschneider).

Orgelspiel kann mehr sein als die Begleitung von Gesang und die Entfaltung virtuos-solistischer Kunst. Die Orgel kann verkündigen! In Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“ musikalisiert das Orgelspiel die Osterfreude: „Gewaltig staunte das Kirchenvolk, als plötzlich beim Gloria die Orgel aufbrauste und mit jubelndem Figurenwerk anzeigte, auf welche Weise sich ein Christ über diesen Tag zu freuen habe.“ Solche Chancen bieten sich für das gesamte Kirchenjahr und in der „Binnendramatik“ jeder Feier. Neben guter künstlerischer Ausbildung und einem reichen Repertoire benötigen Organistinnen und Organisten hierfür ein waches Gespür und tiefere liturgische Kenntnisse, als sie gemeinhin in der Ausbildung vermittelt werden. Vice versa gilt das im Übrigen für die musikalischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Liturgen. Was für viele Aspekte der Liturgie nach mehr als vierzig Jahren Reform gilt, trifft auch auf die Orgel zu: die Möglichkeiten sind da, werden aber noch längst nicht ausgeschöpft! Zu schwach beleuchtet sind vor allem jene Aspekte, die über das gängige Schema von Intonation und Strophe hinausgehen: Musik zur Einstimmung, Begleitmusik zu Prozessionen wie der Evangelienprozession, Klang-Charakteristik von Festen und Bußzeiten im Kirchenjahr, Orgel-Exegese zu biblischen und anderen Texten. Eine solche „liturgische Virtuosität“ muss sich allerdings zwischen den verschiedenen Rollenträgern erst einmal einspielen. Das liturgisch-musikalische Gegeneinander ist dabei unbedingt zu vermeiden, das Miteinander anzustreben – und dennoch wird es häufig bei einem höflichen Nebeneinander bleiben.

Dass die ehemals dominierende Rolle der Orgel in der Liturgie etwas eingeschränkt wurde, ist nicht zu bedauern. Bei „Jugendgottesdiensten“, Erstkommunion oder Firmung bleibt sie jedoch nicht selten völlig stumm, weil eine Band mit Keyboard und anderen Instrumenten spielt. Hier wären weniger Berührungsängste denkbar und mehr gegenseitige Inspiration. Zwischen Monopol und Boykott sollte es kreative Zwischenlösungen geben. Auch diese stehen unter der Überschrift des spielerischen Miteinanders, das die liturgische Erneuerung seit mehr als 40 Jahren prägt und zugleich ihr neuralgischer Punkt geblieben ist. Eine quantitative Einschränkung bei qualitativer Steigerung täte der Orgel sowie ihren Spielern und Hörern vielerorts gut.

Konzertante Chancen der Verkündigung

Orgelkonzerte gehören zum kirchlichen Kulturprogramm, vor allem in den warmen Sommermonaten. Kaum ausgeschöpft sind dabei die Möglichkeiten kreativer Programmgestaltung unter Berücksichtigung der quasi rhythmischen Dynamik des Kirchenjahres und der „sanft missionarischen Dimension“ (Kardinal Karl Lehmann) von Kirchenmusik und geistlicher Musik. Weniger Orgel ist auch hier letztlich mehr, so dass Kombinationen wie Orgel und Rezitation, Orgel und andere Instrumente („Orgel plus“) große Chancen haben. Zudem gibt es zukunftsweisende Konzepte für die Verbindung von Orgelmusik mit liturgischen Impulsen, etwa bei Projekten wie die „Nacht der offenen Kirchen“. Eine lange Tradition hat auch die Erweiterung des Repertoires durch Bearbeitungen: von den für Orgel gesetzten Renaissance-Motetten über J. S. Bachs Transkriptionen von Vivaldi-Konzerten bis zu Ouvertüren und Bruckner-Sinfonien auf der Orgel. Bearbeitungs-Ausflüge in die „leichte Muse“ mit vierhändig-vierfüßigen Strauß-Walzern, einer Prise Gershwin und etwas Pop haben sich im Kirchenraum als nur kurzzeitig effektvoll erwiesen. Silvesterkonzerte mit oder ohne Trompete füllen die Chorkasse für das nächste Oratorienkonzert. Auf den dabei mancherorts üblichen Sektempfang auf der Orgelempore kann verzichtet werden. Wesentlich zukunftsträchtiger sind Kinderkonzerte, die Musik und Instrument spielerisch vermitteln.

Zu den wichtigen Innovationen der letzten Jahrzehnte zählt die Sensibilität für eine historisch angemessene Aufführungspraxis, von der Renaissance bis zur Avantgarde. Von der Aneignung „originaler“ Fingersätze bis zur Auseinandersetzung mit grafischer Notation reicht das reizvolle Studium der Orgelmusik. Und verglichen mit anderen Musiksparten ist der Anteil neuer Musik in Orgelkonzerten – von Olivier Messiaen bis Petr Eben – insgesamt recht hoch. Die theologisch-ästhetische Erschließung dieser Werke steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Häufig unterlaufen und kontrastieren neue Kompositionen die traditionsgesättigte Hörerwartung, was bei den Konzertbesuchern Interesse weckt, aber auch Ratlosigkeit und Aggression; spektakulär György Ligetis „Volumina“ (1962/66), ein Cluster-Stück, das mit dem Ausschalten des Orgelmotors quasi-morendo zu Ende kommt – ein Effekt, dessen allzu häufige Wiederholung allerdings zur Trivialisierung führt. Die „Choralvorspiele I/II“ von Dieter Schnebel (1966/69) schließen mit einer Art Auszug der Orgel aus der Kirche, indem Registranten auf Orgelpfeifen blasend ins Freie ziehen. Geistliche Musik soll mit der Welt verschmelzen und neu beginnen mit dem Auszug aus dem Binnenraum Kirche! In den „Trakturen“ für Orgel (1 Spieler, 2 Registranten) und Tonband von Wilfried Michels (1974) schließlich werden die gemeinhin minimierten, nun aber mit Mikrophonen aufgenommenen und über Lautsprecher verstärkten Trakturgeräusche aus dem Innern der Orgel zu einem neuen Aspekt von Orgelmusik.

Vielstimmig bis gegensätzlich erklingt das „literarische Echo“ auf Orgelklänge in Gedichten und Romanen, aber auch in Philosophie und Theologie. Als „Kosmogonie“ und als das „am wenigsten menschliche Instrument“ deutet sie der rumänisch-französische Philosoph E. M. Cioran. Hingegen Günter Anders in seinen „Ketzereien“: „Auf keinem Instrument kann man so schwindeln wie auf einer Orgel.“ Lyrik von Reiner Kunze fängt die dissidente Atmosphäre von Orgelkonzerten in der DDR ein; das Gedicht „Orgelkonzert (Toccata und Fuge)“ aus „Die wunderbaren Jahre“ (1977) spiegelt im graphischen Aufbau sogar die Architektur von Prospekt und Spieltisch. Bei Hans Magnus Enzensberger wiederum finden wir in den 99 Meditationen „Die Geschichte der Wolken“ (2003) eine Hommage an den Orgelbauer Heinrich Andreas Contius und dessen Orgel im lettischen Liepaja: „Doch wenn von den siebentausend Pfeifen / die größte erschallt, der Untersatz, / zweiunddreißig Fuß hoch, / erbeben Himmel und Erde.“

Die kulturelle Charakteristik der Orgel kulminiert in ihrer religiösen Aura. Fremd und groß wirkt sie, zugleich majestätisch und unerklärbar. Warum aber gilt sie als das „religiös musikalischste“ aller Instrumente? Klangpracht und Tonumfang legen Analogien zur göttlichen Allmacht nahe, ihr gleichsam unendlicher Atem scheint dem Wehen des Geistes vergleichbar, und immer wieder wird ihr Spieler als „homo artifex“ gedeutet, der improvisierend Klang-Welten erschafft. Schattenseite dieser emphatischen Sicht ist die inzwischen gut erforschte und dokumentierte ideologische Vereinnahmung der Orgel, etwa im Dritten Reich. Hierbei verselbständigen sich, im Verein mit Gigantomanie, Momente wie „das Statische“ des Orgelklanges. Immerhin soll die „Heldenorgel“ im Bürgerturm der Burg Kufstein als größte Freiluftorgel der Welt heute „Gedanken des Friedens und der Völkerverbindung“ erwecken. Welche Zukunft ist der Orgel beschieden? Im Unterschied zum Gesang „mit Herz und Mund“ zählt sie nicht zu den biblisch-liturgischen Notwendigkeiten. In der Liturgie kann sie fast alles – sie kann aber auch fast alles kaputt machen. Die Stärke der Orgel liegt nicht in einer ihrer Klangfarben, auch nicht im Klischee des Grandiosen. Ihre kulturelle, spirituelle und technische Stärke liegt in der Vielfalt, ihr Feind ist gedankenlose Eintönigkeit. Die Orgel ist ein Instrument für Trauer und Trost wie für Jubel und Ekstase. Gerade ihre liturgischen Partner und „musikalischen Geschwister“ wie Klavier und Keyboard, Blasmusik, Band oder Harmonium zeigen indirekt, wie umfassend die Orgel ist. Mehr noch als im Literaturspiel liegen ihre liturgischen Chancen in der Improvisation. Gute Organisten sind die größte Stärke der Orgel. Was die „musikalischen Kon-Zelebranten“ brauchen, ist eine solide Ausbildung, ein breites Repertoire und wache liturgische Sensibilität – und nichts weniger wünschen sie sich von den Zelebranten.

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