Vor 50 Jahren verstarb ein Mythos: Albert Einstein. Jeder kennt sein Gesicht, das schlohweiße Haar, den romantisch kontemplativen, in die Ferne und leicht nach oben gerichteten Blick. Er war als Erster imstande, die Masse des Weltalls abzuschätzen, hat jahrtausend alte Denkgewohnheiten, wie den Glauben an die Dreidimensionalität des Raumes, abgeschafft und wurde weit über die Physik hinaus zur Autorität. Man tut Einsteins Genie keinen Abbruch, wenn man kritisch anmerkt, dass er von Physik sehr viel, von den anderen Lebensbereichen oft sehr wenig verstand. Sein Physikerkollege Max Born machte frühzeitig auf den krassen Widerspruch aufmerksam, dass Einstein an eine total determinierte Welt glaubte, gleichzeitig aber als Pazifist an die Freiheit des Menschen appellierte. Seine Lieblingsphilosophen waren Spinoza und Schopenhauer, zwei Denker, an denen man sich unmöglich zugleich orientieren kann. Allerdings hat das Publikum einen gewissen Hang zur Idealisierung und das Bedürfnis nach dem Guru, der über alles Bescheid weiß. Dieses verbreitete Bedürfnis hat Einstein ein Stück weit bedient. Umso wichtiger ist es, sich auf seine wirklichen Leistungen zu beschränken, die in seinem Fall sehr beträchtlich waren.
Radikale Umbrüche in der Physik
Einstein ist in drei Feldern wirklich von Bedeutung: Erstens natürlich in der physikalischen Fachwissenschaft, wo er zu Recht mit den Allergrößten, wie zum Beispiel mit Isaak Newton, auf eine Stufe gestellt wird, zweitens aber auch innerhalb der Wissenschaftstheorie, wo sein Beitrag gewöhnlich überhaupt nicht beachtet wird, weil er den dort üblichen Gepflogenheiten widersprach, und drittens in Bezug auf seine Verhältnisbestimmung von Religion und Naturwissenschaft. Dieser dritte Bereich wird oft diskutiert und geriet früh ins öffentliche Bewusstsein.
Die innerwissenschaftliche Bedeutung von Einstein wird niemand unterschätzen. Nachdem wir die folgenden Revolutionen der Quanten- und Chaostheorie erlebt haben, sind wir an radikale Umbrüche in der Physik gewöhnt. Man kann sich heute keine rechte Vorstellung mehr davon machen, was es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bedeutete, dass Einstein Begriffe wie Gleichzeitigkeit, das Additionstheorem für Geschwindigkeiten oder die Euklidizität des Raumes aufhob. So ist jeder Mensch spontan davon überzeugt, dass unser subjektiv erlebtes „Jetzt“ für das gesamte Weltall gilt. Wenn jetzt ein Flugzeug an meinem Fenster vorbeifliegt, so scheint es mir undenkbar, dass es für einen anderen Beobachter später vorbeigeflogen sein konnte. Genau das ist aber nach Einstein möglich. Gehe ich im Intercity in Fahrtrichtung zum Speisewagen, dann bin ich mir sicher, dass ein externer Beobachter mich mit der Geschwindigkeit des Zuges plus meiner Gehgeschwindigkeit an sich vorbeifahren sieht. Im Prinzip ist das auch richtig, aber bei größeren Geschwindigkeiten trifft dies nicht mehr zu. Es gibt sogar eine Grenzgeschwindigkeit: die des Lichtes. Schneller als das Licht ist nichts und ob eine Lichtquelle auf mich zukommt oder sich von mir wegbewegt, die Lichtgeschwindigkeit ist immer dieselbe. Solche Phänomene erscheinen uns äußerst paradox. Noch unwahrscheinlicher kommt es uns vor, dass der Raum nichteuklidisch sein könnte. Es scheint uns „evident“, dass im Raum nur drei Linien senkrecht aufeinander stehen können. Auch nehmen wir die Zeit als eine zusätzliche, davon unabhängige Dimension wahr. Es scheint uns, dass die Zeit sich nicht mit den Dimensionen des Raumes mischt. Kant hat aus dieser Auffassung von Raum und Zeit ein geschichtlich unwandelbares „Apriori“ gemacht. Nachdem Einstein entdeckt hatte, dass dieses vorgebliche Apriori nicht wirklich gilt, wandte er sich – meines Erachtens voreilig – von Kant ab, denn die Kantische Transzendentalphilosophie steht und fällt nicht mir ihrer zeitbedingten Auffassung von Raum und Zeit.
Der Geist, der Einsteins Forschen beseelte, wird deutlich durch eine hübsche Anekdote aus dem Jahr 1919. Nachdem Einstein 1905 die Spezielle Relativitätstheorie entwickelt hatte, ging er 1916 zur Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie über, als deren Ausgangspunkt er die Äquivalenz von träger und schwerer Masse nahm. Während sich die Spezielle Relativitätstheorie leichter empirisch bestätigen ließ, fehlten für die Allgemeine lange die empirischen Belege. Schließlich hatte der englische Astrophysiker Arthur Eddington während einer Sonnenfinsternis im Jahr 1919 die Möglichkeit, die Ablenkung des Sternenlichtes im Gravitationsfeld der Sonne zu messen. Alle Physiker auf der ganzen Welt warteten gespannt den Ausgang dieses „experimentum crucis“ ab. Alle – außer Einstein. Einstein machte sich noch nicht einmal die Mühe, das Radio anzuschalten. Als ihm ein Assistent aufgeregt berichtete, dass seine Theorie durch Eddingtons Messungen bestätigt worden war, nickte er zustimmend mit dem Kopf, ohne sich sonderlich aufzuregen. Sein Assistent wurde ungeduldig und fragte den Meister: „Was hätten Sie denn gemacht, wenn die Experimente anders ausgegangen wären?“ Daraufhin Einstein trocken: „Dann hätte mir Gott Leid getan.“ Diese Begebenheit belegt, wie sehr Einsteins Physikverständnis von den gängigen empiristischen und materialistischen Vorstellungen abweicht. In allem Physiktreiben steckt nach Einstein ein apriorisches Element.
Die reduktionistisch und materialistisch eingestellten Wissenschaftstheoretiker haben es seit dem „Wiener Kreis“, also etwa Rudolf Carnap, Moritz Schlick und Otto Neurath, so dargestellt, als sei ihr Reduktionismus in Übereinstimmung mit der Theoretischen Physik. Sie verschwiegen, dass sich die bedeutendsten Physiker wie Max Planck, Einstein, Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg deutlich von ihnen distanziert hatten. Der springende Punkt dabei ist: Reduktionisten wie Carnap gingen davon aus, dass die materielle Welt und die unmittelbaren Sinnesaffektionen der einzige Inhalt seien, den die Physik dann systematischer darstellt. Die gesamte Theoretische Physik ist nur eine etwas höflichere Art zu sagen: „hier rot“, „dort schwer“, „hier heiß“. Der Physikalist Willard van Orman Quine hat diesen Standpunkt noch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts vertreten und daraus unmittelbar atheistische Konsequenzen abgeleitet.
Planck, Pauli, Heisenberg und vor allem Einstein interpretierten die Physik gerade nicht materialistisch. Sie bestanden darauf, dass der Physiker Ideen haben müsse, um eine neue Theorie zu erfinden. Diese Idee stammt nicht aus den Sinnesaffektionen, sondern aus dem schöpferischen Ingenium der menschlichen Vernunft. Unter den Wissenschaftstheoretikern war es einzig Karl Popper, der diesen Zusammenhang gesehen und herausgestrichen hatte. Er wusste, dass der Physiker über „regulative Ideen“ im Kantischen Sinn verfügen muss, soll er etwas Neues entdecken (vgl. Logik der Forschung, Tübingen 1976). Kant war der Meinung, dass unser Erkennen zwar auf das Sinnlich-Konkrete verwiesen ist, dass aber dieser materielle Bezug nur die eine Seite der Medaille ausmacht. Die andere Seite besteht in intellektuellen Kompetenzen wie dem Ordnen nach kategorialen Gesichtspunkten, insbesondere aber darin, dass unsere Vernunft ins Unendliche hinein ausgreift. Bei Kant ist der Ausgriff ins Unendliche keine platonische Ideenschau. Nach ihm steht der Mensch im Horizont des Absoluten, aber dieses Absolute lässt sich nicht ergreifen wie ein Gegenstand. Es ist wie der Horizont, der zurückweicht, wenn wir ihn fassen wollen. Dennoch gehört diese Spannung zwischen realer Endlichkeit und potenzieller Unendlichkeit zum Menschen und sie allein ist die Quelle von Innovation.
Physik ist ohne Metaphysik nicht zu haben
Damit sind wir mitten in der Metaphysik, die die meisten Wissenschaftstheoretiker ablehnten. Aber es ist eben tatsächlich die Frage, ob Physik ohne eine solche schwache, im Subjekt begründete Metaphysik des Ausgriffs ins Unendliche überhaupt möglich ist. Planck, Einstein, Heisenberg und Pauli gingen allerdings noch darüber hinaus, indem sie behaupteten, dass diese Idee, nach der wir ausgreifen, auch in der Welt wirksam ist. Nach ihrer Auffassung ist sie der Garant der Weltordnung. Gott ist also in der Ordnung der Welt präsent. Diese Physiker waren Platoniker. An sich ist ein solcher Platonismus eine Begleiterscheinung der Physik von ihren Anfängen über Galilei bis heute (vgl. die Theorien von Roger Penrose). Dass die menschliche Vernunft Ideen haben muss, wenn sie schöpferisch sein will, wird man akzeptieren. Dass unsere Ideen zugleich die Wesensgründe der Natur ausmachen, wie die Platoniker lehren, scheint weniger einsichtig, wenn man sich auf die mathematisch-physikalischen Theorien beschränkt. Diese sind so abstrakt, dass viele Philosophen zweifeln, ob diese mathematisch beschriebene Weltordnung ein Hinweis auf die göttliche Vernunft im Weltall sein kann. In jedem Fall steckt aber in der Physik ein ideelles Moment, sei es auf der Subjekt- oder auf der Objektebene. Einstein sagt: „Zur Aufstellung einer Theorie genügt niemals das bloße Zusammenbringen registrierter Erscheinungen – es muss stets eine freie Erfindung des menschlichen Geistes hinzukommen, die dem Wesen der Dinge näher auf den Leib rückt. Der Physiker darf sich nicht begnügen mit der bloßen phänomenologischen Betrachtung, die nach der Erscheinung fragt, sondern muss vordringen zur spekulativen Methode, welche die Existenzform sucht.“ Genauso wie im Folgenden könnte das auch Hegel gesagt haben: „Die brauchbaren mathematischen Begriffe können durch Erfahrung wohl nahe gelegt, aber keinesfalls aus ihr abgeleitet werden. Erfahrung bleibt natürlich das einzige Kriterium der Brauchbarkeit einer mathematischen Konstruktion für die Physik. Das eigentlich schöpferische Prinzip liegt aber in der Mathematik. In einem gewissen Sinn halte ich es also für wahr, dass dem reinen Denken das Erfassen des Wirklichen möglich sei, wie es die Alten geträumt haben.“ Positivismus ist das nicht. Einsteins metaphysischen Protest gegen eine allzu enge, empiristisch und materialistisch vorgehende Wissenschaftstheorie sollte man sehr ernst nehmen. Physik ist ohne Metaphysik nicht zu haben.
Diese Offenheit gegenüber der Metaphysik führte bei den genannten Physikern, vor allem aber bei Einstein dazu, dass sie zugleich offen gegenüber der Religion waren. Philosophen von Carnap bis Quine begründeten hingegen ihren weltanschaulichen Atheismus aus einer sensualistisch und antimetaphysisch interpretierten Physik. In seinem Buch „Unterwegs zur Wahrheit“ (Paderborn 1995), einer Art von philosophischem Testament, bekennt sich Quine klar zum Atheismus. Danach können wir von der Wissenschaft her mit bestem Wissen und Gewissen sagen: „Es gibt keinen Gott, und es gibt auch kein Leben nach dem Tode.“ Diese Urteile folgen aus einer engen, sensualistisch interpretierten Physik. Wenn wir der Meinung sind, dass sinnliche Erfahrung nicht nur – wie bei Kant – der Ausgangspunkt unserer Theoriebildung, sondern auch schon ihr Inhalt ist, dann beschreibt die Physik nur das, was wir im Prinzip auch anfassen können. Dann verhält sich die Physik zur alltäglichen Sinneserfahrung, wie sich nach Freud die Kunst zur Sexualität verhält: Kunst ist sublimierte Sexualität, so wie Physik nur sublimierte Sinneserfahrung ist. Die großen Physiker haben niemals so simpel gedacht. Für sie drückte sich im mathematischen Schema der Sinn der Natur aus, der sich als Einheit in der Vielheit offenbart. So sagte Heisenberg einmal im Gespräch mit Einstein: „Ich muss zugeben, dass für mich von der Einfachheit und Schönheit des mathematischen Schemas, das uns hier von der Natur suggeriert worden ist, eine ganz große Überzeugungskraft ausgeht. Sie müssen das doch auch erlebt haben, dass man fast erschrickt vor der Einfachheit und Geschlossenheit der Zusammenhänge, die die Natur auf einmal vor einem ausbreitet und auf die man so gar nicht vorbereitet war.“ Für die genannten Physiker war die Welt ein ideendurchtränktes Phänomen. Daher war Einstein, ebenso wie Planck, Pauli oder Heisenberg, kein Atheist. Ganz allgemein sollte es die szientifischen Materialisten nervös machen, dass viele sehr bedeutende Physiker von Galilei über Newton bis Einstein, Schrödinger und Heisenberg tief gläubige Menschen waren. Wenn der Atheismus eine natürliche Konsequenz der Physik wäre, könnte dieses Phänomen nicht auftreten.
Allerdings entsprechen die Gottesvorstellungen der meisten Physiker nicht dem, was die Bibel lehrt. Einstein sagt: „Ich glaube an Spinozas Gott, der sich der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.“ Das heißt: Einsteins Gottesbild ist, wie übrigens auch das von Planck, nicht personal. Der Physiker Steven Weinberg, der nach einer „Weltformel“ sucht, war der Meinung, dass man lieber gleich Atheist werden sollte, als an einen lieb- und leblosen Gott zu glauben. Er sagt dementsprechend: „Die Weltformel wird mit uns Menschen nichts zu tun haben. Sie wird uns die Welt kalt und unpersönlich erscheinen lassen“ („Es gibt keinen Beweis für Gott“, in: Bild der Wissenschaft, Nr. 12/1999).
Auch unter Theologen ist strittig, ob die mathematische Weltordnung einen Verweis auf Gott enthält oder nicht. Sieht man in ihr einen Verweis auf Gott, dann muss man diesen Gott nicht auf ein unpersönliches Prinzip reduzieren, wie das Einstein oder Planck getan haben. Es könnte ja auch so sein, dass sich Gott in der Natur nur uneigentlich artikuliert. Der Gott der Bibel ist jedenfalls ein Gott der Menschen, ein Gott der Geschichte, die als Heilsgeschichte gelesen wird. Gleichzeitig ist Gott aber auch in der Ordnung der Natur präsent, wenn auch weniger deutlich. Das heißt, dass man den Gott der Naturordnung und den Gott der Heilsgeschichte nicht auseinander reißen sollte, obwohl die Bibel den Akzent auf die Geschichte und nicht auf die Natur legt.
Jedenfalls haben Theologen wie Wolfhart Pannenberg deutlich gemacht, dass die von der Physik beschriebene Gesetzlichkeit der Natur in das Heilsgeschehen einbezogen werden kann (vgl. Systematische Theologie, Band II, Göttingen 1991). Allerdings gilt dies nur unter einer Voraussetzung, die Einstein nicht akzeptiert hätte. Für den Theologen ist das kontingente Werden, also die Geschichtlichkeit, primär und alle Regularität sekundär. Damit Geschichte primär sein kann, muss es sie überhaupt geben, was Einstein bestritt. Sein berühmter Satz „Gott würfelt nicht“ war gegen die nächste Physikergeneration gerichtet, die die Quantentheorie entwickelt und mit ihrer statistischen Deutung den Indeterminismus in unser Naturbild eingeführt hatte. Nur über solche Kontingenzen in der Natur gewinnt auch Pannenberg den Boden, um von der Natur aus in die christliche Schöpfungslehre zu gelangen. Bei Einstein ist noch alles deterministisch abgedichtet, daher sein Bezug auf Spinozas „Gott“, der ebenfalls ein ungeschichtliches Seinsprinzip war.
Wesentlich bleibt trotzdem, dass Einstein die religiöse und metaphysische Sphäre eröffnet hat gegenüber einem weit verbreiteten Positivismus und Materialismus, der sich zu Unrecht in Übereinstimmung mit der Physik wähnt. Einstein ist groß nicht nur als Physiker, sondern auch als Metaphysiker. Er sagt: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestation tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.“