Die Kirchen und die „Orangene Revolution“ in der UkraineWie Religion ins Spiel kam

Beim Machtwechsel in der Ukraine Ende letzten Jahres engagierten sich Christen und ihre Kirchen auf unterschiedliche Art und Weise: Der Präsidentschaftskandidat des herrschenden Systems genoss die massive Unterstützung mancher Hierarchen. Doch dann formierte sich eine breite christliche Koalition gegen die Wahlfälschungen und für den schließlich siegreichen demokratischen Kandidaten Juschtschenko.

Der Umstand, dass die Kirche in den Strudel der leidenschaftlichen Ereignisse der Orangenen Revolution geraten konnte, war in der Ukraine für keinen eine Überraschung, wenn man in Erwägung zog, welche Rolle im persönlichen Leben von Millionen ukrainischer Bürger die religiösen Gefühle und Beweggründe einnahmen, welchen Stellenwert die größten christlichen Konfessionen in der Tradition sowie im sozialen und politischen System des Landes besaßen. Der Glaube an Gott war während der Herrschaft des totalitären sowjetischen Systems jene letzte Bastion des menschlichen Geistes, die sich dem atheistischen Regime als uneinnehmbar erwiesen hatte, und zwar ungeachtet eines gegen die Gläubigen gerichteten rigiden antireligiösen Kampfes und blutigen Terrors. Die Forderung nach Geistesfreiheit, nach einer Legalisierung der offiziell „liquidierten“ und zwangsmäßig „vereinigten“ griechisch-katholischen Kirche wurde zum Bestandteil des Widerstandes gegen ein antihumanes, gottloses System. Dies hatte wesentlich die Widerstandsbewegung der Dissidenten sowie den nationalen Befreiungskampf innerhalb der UdSSR verstärkt.

Der Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums war von einem euphorischen Übergang von einer scheinbar ideologisch einheitlichen Gesellschaft zu einem stürmischen Pluralismus der Gedanken, Ansichten und Überzeugungen gekennzeichnet. Er wurde zugleich von einer Auffrischung des religiösen Lebens sowie einer zunehmenden Entfaltung konfessioneller Vielfalt begleitet. Nach Jahrzehnten der Verfolgung bekundeten die christlichen Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften in der Ukraine nicht nur große Lebenskraft, sie erfreuten sich in hohem Maße auch allgemeinen Vertrauens.

Das Erbe der Vergangenheit wirkt fort

Die Religionsgesetzgebung (Verfassung der Ukraine, Art. 35 sowie das Gesetz über Gewissensfreiheit und religiöse Organisation vom 23. April 1991) mit ihren Veränderungen und Ergänzungen weist im Allgemeinen einen demokratischen Charakter auf. Sie entspricht den Normen des internationalen Rechts, im Unterschied zum 1997 von der russischen Staatsduma beschlossenen Gesetz, das offensichtlich die Russische Orthodoxe Kirche begünstigt und andere religiöse Gemeinschaften diskriminiert. Gemäß den Verfassungsprinzipien der Ukraine sind Staat und Kirche voneinander getrennt, was eine gegenseitige Nichteinmischung sowie eine Priorität der persönlichen Gewissensfreiheit bedeutet. Die staatliche Gesetzgebung verleiht keiner Konfession einen Vorzug gegenüber anderen und verpflichtet die Staatsmacht, sich ihnen gegenüber gleich zu verhalten. Zugleich sind die kirchlich-staatlichen Beziehungen bis heute gekennzeichnet von einem hohen Grad der Abhängigkeit der religiösen Gemeinschaften von der Staatsmacht. Dies betrifft sowohl die nationale als auch die lokale Ebene. Der wichtigste Grund dafür ist die Fortdauer vieler Züge des imperial-totalitären Erbes der Vergangenheit.

Alle bisherigen Wahlkämpfe in der Ukraine wurden ausnahmslos von einer Steigerung der Aktivitäten der Staatsvertreter im religiösen Bereich begleitet. Dabei ging es um steuerliche und finanzielle Begünstigungen für kirchliche Institutionen, die Anordnung von Rückgaben verstaatlichter Kultgebäude (die in sowjetischer Zeit beschlagnahmt und profaniert worden waren). Es folgten Verleihungen von Staatspreisen an kirchliche Würdenträger, begleitet von demonstrativer Toleranz und großzügigen Opfergaben, zur Schau gestellten Kirchen-, Synagogen- und Moscheenbesuchen. Nicht selten fielen den Gläubigen während der Gottesdienste die ungelenken, weil ungewohnten Bekreuzigungen der hohen Besucher mit ihren versteinerten Mienen auf. Das Besondere am Wahlkampf von 2004 wurde der Umstand, dass beide Hauptkandidaten für den Präsidentensessel – Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowytsch – als gläubige, ja praktizierende Christen hingestellt oder betrachtet wurden. Der Unterschied lag darin, dass man sich über die religiösen Überzeugungen des einen aus dessen öffentlichen Äußerungen und seinem Verhalten eine Meinung bilden konnte, während die demonstrative Frömmigkeit des anderen derart auffällig von ihm selbst und allen Kanälen der offiziellen Massenmedien propagiert wurde, dass der durchschnittliche Bürger unweigerlich an der Aufrichtigkeit des Gelesenen (oder Vernommenen), beziehungsweise Gesehenen zweifeln musste.

Die Religiosität von Wiktor Juschtschenko erscheint als organische Konstante seiner Persönlichkeit sowohl als Mensch wie auch als Politiker. Er hat seine weltanschaulichen Überzeugungen niemals geleugnet, sich jedoch auch nie bemüht, sie zu betonen. Wenn man berücksichtigt, dass vor und während des Wahlkampfes die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Informationsmittel die Erörterung konkreter Themen mit dem Oppositionskandidaten vermied, hatte es auch keine Gelegenheit gegeben, solche praktisch zu demonstrieren. Schließlich bestand diesbezüglich auch kein entsprechender öffentlicher Bedarf. Vielen Staatsbürgern war Juschtschenko als einer der vielleicht ersten aktiven Bürger in der heutigen Ukraine in Erinnerung, für den die Gebote des Evangeliums keine lauten Losungen, sondern Lebensprinzipien waren. Er hatte sich über Ehrlichkeit, Klarheit, moralische Verantwortung vor den Menschen und vor Gott mit der gleichen Überzeugung in der Zeit, als er der Regierung vorstand, geäußert wie auch später, als er sich in der Opposition befand.

Janukowytsch gab sich demonstrativ gläubig

Über die Frömmigkeit von Janukowytsch hatte man zu sprechen begonnen, als er zum alleinigen Kandidaten der Staatsmacht bestimmt wurde. Der Korrespondent der russischen lzwestija in Kiew schrieb, er habe die Gelegenheit gehabt, sich selbst zu überzeugen, dass der amtierende Premier Janukowytsch „ein tief gläubiger Mensch“ sei, der von früh bis spät in die Nacht arbeite und stets noch Zeit für die Bibel finde. Dem Autor dieser Reportage war es sogar gelungen, einen Augenzeugen zu finden, der noch im Alter von 80 Jahren fähig war, sich an ein kleines Kreuz an Janukowytschs Brust zu erinnern, und zwar ausgerechnet in dem Jahr, als er nach anderen – offiziellen – Daten Mitglied der kommunistischen Partei geworden war (vermutlich um in ihren Reihen missionarisch zu wirken...). Die mächtige Gestalt des amtierenden Premiers in Begleitung seiner ein flammendes Kerzlein tragenden Ehefrau auf dem Hintergrund der auf Staatskosten restaurierten und neuerrichteten Kirchen und Klöster war neben Popen mit Weihrauchkesseln und Bischöfen mit Weihewedeln, alten Mütterchen mit kleinen Ikonen und Großväterchen mit Orden an der Brust auf den Seiten der unter Staatskontrolle erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften sowie im staatlich kontrollierten Fernsehen zu sehen.

Den Höhepunkt der „ökumenischen“ Unterstützung des „einzigen Regierungskandidaten“ Janukowytsch bildete am 30. September 2004 dessen Begegnung mit den Mitgliedern des Allukrainischen Kirchenrates. Dieser Kirchenrat, der ausschließlich konsultative Funktion besitzt, gilt als Koordinierungsorgan, wo es um kirchlich-staatliche und zwischenkonfessionelle Probleme und Interessen geht. Als das Oberhaupt der Autokephalen Orthodoxen Kirche, Methodij (Kudrjakow), die kollektive Meinung der Anwesenden zur politischen Lage zum Ausdruck brachte, stellte er gegenüber dem Kandidaten fest: „Allein unter Ihrer Führung wird es in der Ukraine Stabilität und Frieden geben. Nur Ihre Offenheit und Ihr Gerechtigkeitssinn gewähren die Sicherheit, dass alle Konfessionen sich an die ukrainischen Gesetze halten werden, weil sie in Ihnen persönlich einen Vater sehen werden.“

Im Bestreben, mögliche negative Folgen unsauberer Machenschaften des Gegenkandidaten zu neutralisieren, hatte Wiktor Juschtschenko noch am gleichen Tag über seinen Pressedienst erklärt, er sei gläubiger orthodoxer Christ, der aufrichtig den Glauben anderer respektiere, „unabhängig davon, ob sie die Orthodoxe Kirche, die Moschee, Synagoge oder katholische Gotteshäuser besuchen“. Er bat darum, denen keinen Glauben zu schenken, die ihm etwas anderes zuschreiben wollten. Dabei sicherte er zu, dass er im Falle seiner Wahl „allen Konfessionen entsprechende Bedingungen“ garantieren wolle, damit sie imstande seien, „das Licht des Glaubens den menschlichen Seelen zu vermitteln“. Die Ukraine kennt eine bunte konfessionelle Palette mit zahlreichen Widersprüchen und Konflikten, innerkirchlichen Trennungen und Spaltungen, ferner eine aggressive Rhetorik und feindselige Stimmungen. Eine angespannte Wahlatmosphäre schafft unwillkürlich für etliche Kirchen eine gute Gelegenheit, zum wiederholten Mal den Staat an ihre Existenz und Notwendigkeit, die Gesellschaft an ihre Anwesenheit zu erinnern. Die Perspektive eines Machtwechsels verleitet gleichzeitig durch den Gewinn der Zuneigung des „begünstigten“ Kandidaten dazu, den konfessionellen status quo in Bewegung zu bringen und dabei die eigene Stellung zu stärken, ja sogar einen Konkurrenten in die Enge zu treiben, der einen anderen Kandidaten bevorzugt.

Eine solche Verhaltenslogik ist vor allem für die so genannten „traditionellen“ Kirchen charakteristisch, zu denen in der Ukraine orthodoxe Gemeinschaften gehören, die mit ihrem Erbe auf das Kiewer Reich zurückgehen. Als Grundrivalen im Ringen um eine privilegierte Stellung treten bereits traditionell zwei große orthodoxe Jurisdiktionen auf: die Kiewer und die Moskauer. Beide betonen, „dem Staat zu dienen“, wobei die eine sich der „unabhängigen Ukraine“, die zweite nostalgisch die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der „Heiligen Rus’“ hegt. So hat das Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats, Filaret (Denysenko), noch vor Beginn des offiziellen Wahlkampfes in einem Interview mit dem Radiosender Hromads‘ke radio (Bürgerradio) am 23. Juni 2004 erklärt, eventuell die Kandidatur von Janukowytsch zu unterstützen, falls er die von ihm geleitete Kirche begünstigen würde. „Wir schränken den Willen unserer Gläubigen nicht ein, sie können die eine oder andere Partei wählen“, sagte er, „jedoch bitten wir darum, dass sie sich an das Prinzip der Verteidigung der Interessen des ukrainischen Staates und der Kirche des Kiewer Patriarchats halten.“

Kirchliches Engagement in Etappen

Die Hauptlosungen von Janukowytschs Wahlkampagne stimmten mit den ideellen Prioritäten der konkurrierenden Kirche überein: Verzicht auf eine Europa-Orientierung und der Wunsch, einen „einheitlichen Wirtschaftsraum“ mit Russland, Weißrussland und Kasachstan zu schaffen; Versprechungen, der russischen Sprache den Status einer Staatssprache innerhalb der Ukraine und den Einwohnern eine mit Russland gemeinsame Staatsbürgerschaft zu geben. Die engen Verbindungen des Kandidaten der Staatsmacht mit der Kirche des Moskauer Patriarchats beruhte nicht nur auf einer gemeinsamen Ideologie, sondern auch auf einer langen Erfahrung „praktischer Zusammenarbeit“. Im Verlauf der letzten Jahre hatte die Führung dieser Kirche eine Reihe von offiziellen Abkommen geschlossen, die eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Ministerien vorsahen. Dank dem regierenden Premierminister wurde das Heilige Mariä-Entschlafungskloster von Swjatohorsk restauriert, die Kathedrale von Bilhorod wieder aufgebaut. In der kirchlichen Presse wurde mit besonderer Pietät berichtet, dass in der Zeit, als Janukowytsch noch das Donetzker Gebiet verwaltet habe, dank seiner finanziellen Unterstützung 63 Gotteshäuser der Kirche des Moskauer Patriarchats errichtet worden seien.

Aufgrund so weitreichender Interessenverbindungen vollzog sich das Engagement der Kirche des Moskauer Patriarchats für den Wahlkampf Janukowytschs in Teiletappen. Das Kirchenoberhaupt musste betont neutral bleiben, politisch korrekte Sendschreiben herausgeben und sich nur „zufällig“ in Begleitung des Premiers begeben, der gleichzeitig Präsidentschaftskandidat war. Die Hierarchen konnten politische Richtlinien offenherziger oder verhaltener bekanntgeben. So äußerten der Bischof von Perejaslaw Chmelnyzkyj sowie der Vikar der Kiewer Metropolie, Mitrofan, in einem Interview mit dem „Bürgerradio“ am 12. Juli 2004, die Gläubigen könnten Janukowytsch unterstützen, „weil er unserer Pfarrgemeinde geholfen hat“. Noch offener drückte sich ein anderer führender Hierarch der Kirche des Moskauer Patriarchats, Metropolit Ahafanhel von Odessa und Ismail aus, einer der größten Eiferer für die „Einheit des Großen, Kleinen und Weißen Russland“. In einem Hirtenbrief rief er die Odessaer Gläubigen auf, bei den nächsten Wahlen ihre Stimme dem „würdigen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch“ zu geben, weil dieser die Aufmerksamkeit „Gottes und der Menschen“ verdiene.

Dem Vorsteher der Kirche des Moskauer Patriarchats, Erzbischof Wolodymyr, gelang es nicht, bei der „partiellen Einmischung“ zu bleiben. Der Sieg Juschtschenkos in der ersten Wahl am 31. Oktober sowie dessen neutrale Begegnung mit dem Erzbischof am 8. November, die laut der Berichterstattung der Moskauer Medien einen „konstruktiven Charakter trug“, zwangen den Gegenkandidaten, alle Möglichkeiten zu mobilisieren, um das von ihm gewünschte Ergebnis doch noch zu erreichen. Die Spieleinsätze waren zu hoch, um bei den Mitteln noch wählerisch zu sein. Bereits am nächsten Tag wurde auf allen von der Staatsmacht kontrollierten Fernsehkanälen der Text eines Auftritts von Metropolit Wolodymyr gesendet, bei dem er zusicherte, dass er nur in Janukowytsch einen „wahren gläubigen orthodoxen Menschen“ sehe, der würdig sei, den Staat zu lenken. Danach erließ die Kirche des Moskauer Patriarchats eine Erklärung, die Begegnung des Metropoliten mit Juschtschenko habe einen „inoffiziellen“ Charakter gehabt. Man habe ihn gesegnet, wie eben alle Christen gesegnet würden. Die Rolle des Metropoliten als Regierungsagitator auf dem Bildschirm war dermaßen peinlich, dass sogar die oppositionelle Presse voller Mitgefühl vom fürchterlichen Druck auf den betagten und gesundheitlich stark angeschlagenen Vorsteher der Orthodoxen Kirche sowie über die Drohungen von Bischof Ilarion von Donetzk, ihn seines Amtes zu entheben, wenn er sich nicht an die richtige Linie halten werde, berichtete.

Der Einfluss des „russischen Faktors“

Oppositionelle Medien berichteten, dass am 14. November in Kirowohrad Bischof Pantelejmon Romanowskyj dadurch von der Notwendigkeit zu überzeugen versuchte, den „Gotteskandidaten Janukowytsch“ zu wählen, dass er Juschtschenko einen „griechischen Katholiken“ nannte, dessen ganze Familie protestantisch sei. Sollte er die Macht ergreifen, würde er alle orthodoxen Kirchen schließen und auf dem Gelände des Kiewer Lawraklosters sowie auf dem des Klosters Potschajiw Konzentrationslager für orthodoxe Gläubige errichten...

Indem sie die Wähler in Angst und Unruhe versetzten, hofften die PR-Manager Janukowytschs, diese zu veranlassen, sich in ihrer Entscheidung nicht von rationaler Logik, sondern vom Herdeninstinkt, einer Angst vor Veränderungen und dem Wunsch der Bewahrung einer scheinbaren Stabilität lenken zu lassen. Die offizielle Propaganda und die Boulevardpresse versuchten mit allen möglichen (und unmöglichen) Mitteln, den Bürgern ein Feindbild aufzuoktroyieren. Zu den „Faschisten, Nationalextremisten, internationalen Terroristen, Juden-Freimaurern“ und allen anderen möglichen Westagenten wurden auch die „Kirchensektierer“ (Anhänger der Autokephalie), Unierte (griechische Katholiken) und „Sektanten“ (Protestanten) hinzugerechnet, wobei sie als „wahre“ Christen lediglich diejenigen betrachteten, die den „orthodoxen Präsidenten“ unterstützten. Daher schien die „Allianz“ des „einzigen Kandidaten“ mit der „einzig wahren Kirche“ viel natürlicher und verlockender im Kontext der für den Wahlkampf gewählten Konfliktstrategie als eine Unterstützung interkonfessionellen Friedens. Der Gleichklang der Interessen ging nicht nur aus einer jahrhundertealten Tradition hervor, die auf einem besonderen Einklang der vaterländischen Orthodoxie mit der Macht beruhte, sondern war auf dem „russischen Faktor“ begründet.

Janukowytsch jonglierte nicht nur mit pro-russischen Losungen, in seine Wahlkampagne waren hohe russische Summen investiert worden. Als Agitator der Kutschma-Erben hatte sich sogar Präsident Putin betätigt, der kurz vor jeder Wahlrunde die Ukraine besucht hatte und seinem Günstling jeweils „zum Sieg“ nach jeder gefälschten Wahl gratuliert hatte. Es war der Eindruck entstanden, dass nicht so sehr Janukowytsch den „russischen Faktor“ ausnutzte, als vielmehr der amtierende Premier zum gehorsamen russischen Werkzeug geworden war. Zu einem ähnlichen Werkzeug politischen Einflusses und der Wahlmanipulationen war die Kirche des Moskauer Patriarchats geworden. Schließlich war es gar nicht notwendig, sie zu dieser Rolle zu zwingen. Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass dieser Kirche die Mehrheit der russischsprachigen und pro-russisch orientierten Bevölkerung angehört, dass ein gewisser Teil ihrer Hierarchie und Geistlichkeit sich bis heute mit der Existenz des ukrainischen Staates nicht abfinden kann. Sie verheimlichen nicht ihre Hoffnung auf eine Erneuerung des Imperiums in Gestalt einer „Union slawischer Brudervölker“, mit der Hoffnung auf die Rückkehr zu einem Monopolstatus auf dem gesamten „kanonischen Gebiet“ der ehemaligen UdSSR. Die Vertreter dieser Kirche in der Ukraine und die ihr nahestehenden Politiker planen schon seit geraumer Zeit, nach dem Beispiel Russlands Veränderungen der Religionsgesetzgebung einzuführen, die eben dieser Glaubensgemeinschaft juristische Vorrechte einräumen sollen.

Nicht mit dem eigenen Volk gerechnet

Gewiss, mit dem Sieg des einzigen „kanonischen“ Kandidaten wären die Chancen eines solchen Szenariums erheblich gewachsen. Doch in ihren Plänen hatten die „frommen“ Pseudopolitiker und politisch engagierten „Klerikalen“ eines nicht einberechnet – das eigene Volk. Das ungewöhnliche Ausmaß der Fälschungen bei der zweiten Wahl am 21. November 2004, die offensichtliche Missachtung der grundlegenden Bürgerrechte sowie die brutale Missachtung der Menschenwürde haben Millionen von Menschen auf die Straßen und Plätze der Hauptstadt und anderer Städte der Ukraine geführt. Vor den Kirchen und ihrer Führung war in aller Schärfe die Frage aufgetaucht: zu wem sie halten sollten – zum Regime oder zum bestohlenen Volk?

Das massive Auftreten eines organisierten, friedlichen Widerstandes rief bei jenen Religionsgemeinschaften, denen der aufgezwungene Schutz seitens der Repräsentanten der Staatsmacht zuwider geworden war und die an einer Stabilisierung des autoritären Oligarchensystems mit einer dominierenden Rolle der von ihm begünstigten Konfession überhaupt nicht interessiert waren, ein radikales Umdenken hervor. Sie beschlossen, ihre Stimme zu erheben und sich mit jenen zu solidarisieren, die aufgestanden waren, um ihre Rechte zu verteidigen. Bereits am zweiten Tag nach der Wahl, als sich beunruhigende Nachrichten über kriminelle Machenschaften des Regimes zu häufen begannen, nahmen einige tausend Menschen an einer an die Muttergottes gerichteten Fürbitte teil, „um der Wahrheit, Gerechtigkeit und der Durchsetzung des Volkswillens bei den Wahlen in der Ukraine zu verhelfen“. Sie fand in den Morgenstunden des 23. November auf Initiative der Ukrainischen Katholischen Universität und des Lemberger Priesterseminars im Zentrum Lembergs statt. Am Morgen dieses Tages hatte der Rektor der Univertsität, Borys Gudziak, während der Versammlung des gesamten Kollektivs die Bereitschaft des Lehrkörpers, der Mitarbeiter und Studenten mitgeteilt, die Menschenwürde zu verteidigen.

Weitreichende Solidarität der Konfessionen

Bald danach wurden ähnliche Erklärungen vom Ukrainischen interkonfessionellen Rat der evangelischen Gemeinden (charismatischer Ausrichtung) sowie vom Rat des Bistums Charkiw-Poltawa der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche bekannt, dessen Bischof Ihor lsitschenko einen Fürbittegottesdienst für den „neuen Präsidenten der Ukraine Wiktor Juschtschenko“ abhielt. Am gleichen Tag äußerte die Synode der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche mit ihrem leitenden Metropoliten Lubomyr Kardinal Husar an der Spitze ihre Besorgnis, dass die demokratischen Prinzipien während der Wahl verletzt worden seien. Die Bischöfe dieser Kirche haben in ihrer Botschaft „An die Gläubigen und alle Menschen guten Willens“ die Regierungsvertreter aufgerufen, auf die Stimme derjenigen zu hören, „die ihre Verfassungsrechte mit friedlichen Mitteln verteidigen“ und appelliert, „keine Gewalt gegen das eigene Volk einzusetzen“. Am Abend des 23. November wurde auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew eine Erklärung der Vorsteher der christlichen Kirchen der Ukraine verlesen, die aufgrund einer Initiative von Patriarch Filaret der Kirche des Kiewer Patriarchats entstanden war. Diese Erklärung trug außerdem noch die Unterschriften der führenden griechisch-katholischen Bischöfe, der Evangelischen Christlichen Kirchen der Ukraine sowie der Lutheraner. Die Würdenträger drückten offen ihre Beunruhigung über den „unrechtmäßigen Verlauf der Wahlkampagne und insbesondere die massive Fälschung der Ergebnisse des abgegebenen „Volkswillens“ aus. Sie riefen das gesamte ukrainische Volk dazu auf, sich „für die Wahrheit“ einzusetzen.

Für viele Bürger der Ukraine, die während der gesamten Wahlkampagne nur dosierte Nachrichten der öffentlichen Medien erhielten, waren die kirchlichen Äußerungen eine Stimme des wach gewordenen Gewissens, die unerwartet und überraschend erklungen war. Noch vor dem offiziellen Start der Präsidentenwahl hatte am 24. Juni 2004 die Synode der griechisch-katholischen Kirche eine besondere Erklärung an ihre Gläubigen und alle Landsleute verfasst. In diesem Dokument wurde besonders betont, dass Wahlen in einer demokratischen Gesellschaft „zuweilen eine sehr wichtige Rolle spielen“. „Wenn ein Mensch sein Recht ausübt, einen Volksführer zu wählen, unterstreicht er damit seine ihm von Gott gegebene Würde und Freiheit.“ Die Reaktion der Kirche des Moskauer Patriarchats auf die Resultate des zweiten Wahldatums war nicht einheitlich. Die verschiedenen „Bruderschaften“ und „Blöcke“, die von Anbeginn der Kampagne den „orthodoxen Präsidenten“ unterstützt hatten, riefen nach der Verlautbarung seines „Sieges“ dazu auf, die Prozedur der Amtseinführung zu beschleunigen und entschlossene Mittel gegen die Demonstranten einzusetzen. Ihre Positionen hatten auch die unnachgiebigsten Hierarchen der ostukrainischen Bistümer (Ahafanhel von Odessa, Ilarion von Donetzk, Joanikij von Luhansk) nicht geändert. Sie verurteilten Oppositionsaktionen und riefen zur Unterstützung des ihrer Meinung nach legal gewählten Präsidenten Janukowytsch auf. Danach solidarisierten sie sich mit jenen regionalen Funktionären, die sich für die Schaffung einer „Südöstlichen autonomen Republik“ sowie ihre Abtrennung von der Ukraine bzw. für einen Anschluss an die Russische Föderation aussprachen.

Ein Appell von Geistlichen und Gläubigen der Kirche des Moskauer Patriarchats vom 26. November, der an Kutschma und Janukowytsch gerichtet war, forderte diese aber dann als „orthodoxe Christen“ auf, sich mit der Wahl des Volkes abzufinden und der Macht zu entsagen. Frieden und Stabilität, heißt es im Dokument, könnten sich nicht auf Lüge, Betrug, Blut und Gewalt stützen, sonst würde Gott das Land, das gesamte Volk und die Orthodoxe Kirche bestrafen. Das Auftreten kritischer Stimmen innerhalb der Kirche des Moskauer Patriarchats sowie vereinte Bemühungen einiger christlicher Kirchen waren nicht nur eine Reaktion auf den Druck der Staatsmacht und ihr Herumspekulieren mit der „Unterstützung der Gläubigen“, sondern auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Grenze des Protests in der Ukraine nicht durch die regionalen, nationalen oder konfessionellen Unterschiede und auch nicht durch die politischen Präferenzen oder Sympathien für den einen oder anderen Kandidaten gezogen wurde, sondern dass es darum ging, eine Wahl zwischen Zukunft und Vergangenheit, Wahrheit und Arglist, Gut und Böse zu treffen.

Die Teilnahme der Christen an den Ereignissen der Orangenen Revolution beschränkte sich nicht nur auf Erklärungen. Noch am 23. November waren die Zöglinge und Leiter der Priesterseminarien der griechisch-katholischen Kirche aus Mukatschiw, Drohobytsch, Iwano-Frankiwsk, L’viv und Ternopil nach Kiew gereist. Am nächsten Morgen hat der Vizerektor der Lemberger geistlichen Hochschule, Swjatoslaw Schewtschuk für die Menschen, die sich in der Zeltstadt auf dem Chrestschatyk-Boulevard befanden, die erste Göttliche Liturgie zelebriert. In den nächsten Tagen fanden Gottesdienste täglich statt, wobei sich die Geistlichen verschiedener Konfessionen abwechselten. Der 26. November wurde auf Geheiß der christlichen Kirchen, deren Vorsteher die gemeinsame Erklärung vom 23. November unterzeichnet hatten, zum Fast- und Gebetstag um ein besseres Schicksal der Ukraine erklärt, während um 18 Uhr auf dem Kiewer Majdan und in vielen anderen Städten ein gemeinsames Gebet der Geistlichen und Gläubigen verschiedener Konfessionen abgehalten wurde.

Die Solidarität unter den Gläubigen fand ein großes Echo sowie Unterstützung in den Regionen, wobei sich der Kreis der Teilnehmer am Widerstand auf weitere religiöse Gemeinschaften erweiterte. Ökumenische Fürbitten um eine gerechte Entscheidung des Obersten Gerichts, die Einheit des Staates sowie eine gerechte, friedliche Beendigung des Wahldramas fanden in Odessa, Donetzk, Charkow, Lemberg und anderen Orten statt. Die Sorge um den Schutz der Menschenwürde sowie die Atmosphäre der christlichen Solidarität führten dazu, dass sich junge Gläubige der Kirche des Moskauer Patriarchats den gemeinsamen Aktionen anschlossen. Gemeinsam haben sie am 3. Dezember einen Appell des neu gegründeten Interkonfessionellen Rates der Jugend unterzeichnet. Am 5. Dezember wandten sich an die auf dem Majdan versammelten Menschen zum ersten Mal in der ukrainischen Geschichte Vertreter nicht nur verschiedener christlicher Konfessionen, sondern auch die der jüdischen und moslemischen Gemeinden mit Erklärungen und Gebeten. Die wichtigste religiöse Dimension der Orangenen Revolution lässt sich nicht mit Worten wiedergeben. Denn es geht um jenes Unaussprechliche und Unfassbare, das jeder empfunden und verinnerlicht hatte, der den Majdan miterlebte. Ob dies nun in Kiew, in einer anderen Stadt oder im eigenen Herzen gewesen war.

Lubomyr Kardinal Husar hatte es in seinen „Gedanken anlässlich der Beendigung der Wahlen in der Ukraine“ so ausgedrückt: „Das wahre Wunder des Kiewer Majdans beruht darin, dass alle dort anwesenden Menschen – Gläubige und Ungläubige, Christen und Vertreter nichtchristlicher Religionen – von den geistigen Grundwerten vereinigt wurden, deren Quelle die verkündeten und unabänderlichen Gebote Gottes sind.“ Von diesem Geist sprach auch der neue Präsident des ukrainischen Staates am ersten Tag seiner Amtszeit, am 24. Januar 2005, als er den Segen der Vorsteher der christlichen Kirchen in der tausendjährigen Kiewer Sophienkathedrale empfing: „Ich bin tief überzeugt, dass der Weg, den wir zurückgelegt haben, ein Weg war, auf dem wir vom Herrn geführt wurden! Wir haben gesiegt, weil wir überwiegen – denn wir haben einen tiefen Glauben, und der Glauben, er verleiht Kräfte!“

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