Das Ergebnis der Stichwahl um das Präsidentenamt in der Islamischen Republik Iran vom 24. Juni 2005 hat nicht nur die auswärtigen Wahlbeobachter verblüfft. Mit dem 49-jährigen Teheraner Bürgermeister Mahmud Ahmadi-Nedjat konnte ein vermeintlicher Außenseiter die Mehrzahl der Stimmen auf sich vereinigen. Der Politiker ist promovierter Ingenieur und stammt aus einem sozialen Milieu, das für den Erfolg der Islamischen Revolution des Jahres 1979 von großer Bedeutung war. Seine Familie gehört zu der riesigen Schar von Landflüchtlingen, die seit der Mitte der sechziger Jahre in die großen iranischen Städte gekommen sind. Ahmadi-Nedjat ist im Teheraner Süden aufgewachsen, jenem heißen, staubigen und überbevölkerten Teil der Megalopole Teheran, in dem religiöse Überzeugung und soziale Spannungen eine Mischung hervorbringen, die für politische Veränderungen im Iran seit vielen Jahrzehnten den Nährboden bildet.
Wie ist es zu diesem überraschenden Ergebnis gekommen und welche Konsequenzen wird es haben? Schon werden von westlicher Seite, so etwa dem Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Vorwürfe erhoben, die Wahlergebnisse seinen manipuliert worden. Auch die sogenannten Reformkandidaten wie Mustafa Moin oder Mehdi Karrubi haben sich über Unregelmäßigkeiten beschwert. Sicherlich besteht diese Kritik zu Recht. Ob aber die Wahlbeobachter bei den kürzlichen Wahlen in Afghanistan oder im Irak geringere Manipulationen haben feststellen können, müsste noch genauer untersucht werden.
Verschiedene Machtzentren stehen nebeneinander
Jedenfalls liegt in den Verfälschungen der Wahlen nicht die ausschließliche Ursache für das Ergebnis. Die eigentlichen Gründe sind vielmehr die schwere politische und soziale Krise des Landes und eine konstitutionelle Fehlkonstruktion. Die iranische Verfassung kennt verschiedene Machtzentren: Zu diesen gehören das Parlament, der Staatspräsident und das Kabinett, der Wächterrat, der die Entscheidungen des Parlaments auf ihre Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht überprüft, und der „geistige Führer“. Diese institutionellen Machtzentren können sich gegenseitig in einer Form ausbalancieren, dass der geistliche Führer die entscheidende Rolle spielen kann. Unter dem bisherigen Staatspräsidenten Khatami, der als Vertreter des Reformflügels innerhalb der schiitischen Geistlichkeit im Iran gilt, und mit einem Parlament, in dem zumindest zeitweise eine reformerische Mehrheit agierte, war es immer wieder zu einem Stillstand der Politik gekommen, weil sich die verschiedenen Kräfte nicht einigen konnten. In einigen Fällen hatte sich der dem konservativen Lager zugerechnete geistliche Führer Khamenei eingeschaltet. Viel effektiver aber hatte er Präsident Khatami dadurch geschwächt, dass er gar keine Entscheidungen fällte und auch dringende Gesetzesvorhaben in der Schwebe ließ.
Dieser Stillstand in den politischen Entscheidungen wurde von großen Teilen der Bevölkerung aber Khatami zur Last gelegt. Reformerische Kräfte, die die verfassungsrechtliche Situation kannten, warfen Khatami vor, dass er den Reformweg zu zögerlich und zu wenig energisch verfolgte. Der Präsident seinerseits tat alles, um schwere innere Auseinandersetzungen, die bis hin zu einem Bürgerkrieg hätten führen können, zu vermeiden. Die Problematik, der sich Khatami gegenüber sah, war vor allem, dass seine Anhänger aus zwei Gruppen bestehen, die aus den politischen Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlossen sind. Es handelt sich einerseits um die Frauen, vor allem aus der Mittel- und Oberschicht. Diese Frauen verfügen über ein hohes Bildungsniveau und teilweise auch über eine beträchtliche wirtschaftliche Potenz. Etliche von ihnen spielen auch als Herausgeberinnen von Zeitschriften in den Medien eine beträchtliche Rolle. Andere sind als Anwältinnen tätig. Zu nennen ist hier vor allem die Friedensnobelpreisträgerin Ebadi.
Die andere Gruppe sind die Studierenden im Iran. Diese gehören zu der leistungsbewussten und hoch politisierten zukünftigen Elite des Landes. Etwa 60 Prozent der iranischen Bevölkerung sind jünger als 21 Jahre, von diesen ist wiederum etwa die Hälfte in den verschiedensten weiterbildenden Schulen und Hochschulen eingeschrieben. Sie sehen sich einer höchst unsicheren Zukunft gegenüber. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind nicht besonders hoch. Zwar gibt es keine zuverlässigen Zahlen, aber Schätzungen gehen davon aus, dass die Arbeitslosenrate im Iran bei rund 60 Prozent liegt. Dass davon auch Hochschulabsolventen betroffen sind, liegt auf der Hand. Ohne ein entsprechendes Einkommen ist aber auch eine Heirat für diese jungen Leute nicht möglich. Die iranische Gesellschaft ist jedoch immer noch so traditionell geprägt, dass die Gründung einer eigenen Familie zum gesellschaftlichen Normenkatalog gehört. In engem Zusammenhang damit steht auch die extreme Wohnungsnot vor allem in allen großen Städten. Offenbar haben die politischen Institutionen des Landes diese Problematik noch nicht deutlich zur Kenntnis genommen. Das gilt auch für die bisherige Regierung unter Präsident Khatami. Während in anderen Ländern der Golfregion zinslose Kreditprogramme für heiratswillige junge Leute aufgelegt worden sind, wird im Iran weiterhin eine konsequente Distanz zwischen jungen Leuten unterschiedlichen Geschlechts durchgesetzt.
Richtig ist sicherlich, dass es den staatlichen Autoritäten in der vergangenen Zeit schwer gefallen ist, in den wohlhabenden und modernen Vierteln der großen Städte diese Segregation konsequent durchzusetzen. Die große Aufmerksamkeit, mit der sich westliche Medien dem Versuch eines freieren Lebens von jungen Leuten im Iran zugewandt haben, entsprach aber wohl offenkundig nicht der Alltagswirklichkeit in den Dörfern, den kleinen Städten und den traditionellen Vierteln der iranischen Metropolen. Ein großer Teil der jungen iranischen Akademiker hat aus der schwierigen Situation die Konsequenz gezogen, das Land zu verlassen. Der brain drain ist beträchtlich und wird sich nach diesen Wahlen noch verstärken. Da die Studenten und jungen Akademiker eine der Stützen der Reformkräfte im Iran darstellten, werden diese weiter an Einfluss verlieren.
Ein Mann der Menschen aus dem Teheraner Süden
Mit Mahmud Ahmadi-Nedjat ist zum ersten Mal ein Nicht-Theologe iranischer Staatspräsident. Politische Beobachter gehen davon aus, dass er sich konsequent der Linie der konservativen religiösen Kreise anschließen wird. Die Tatsache, dass Ahmadi-Nedjat seinen Konkurrenten, den früheren Staatspräsidenten Rafsanjani hinter sich lassen konnte, zeigt allerdings, dass die Konservativen keine einheitliche Gruppe bilden, sondern in verschiedene Fraktionen aufgesplittert sind. Auch hier gibt es deutliche Generationenkonflikte. Diese hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass sich in den theologischen Hochschulen des Iran nach der Islamischen Revolution nahezu unbemerkt so etwas wie eine Kulturrevolution vollzogen hat. Bis 1979 war das Curriculum dieser Einrichtungen ausschließlich auf theologische Fächer beschränkt. Dies geschah auf Anweisung des seinerzeitigen Regimes von Schah Reza Pahlevi, das jede Modernisierung der Theologenausbildung abgelehnt und daher unterbunden hatte. Nach dem Erfolg der Islamischen Revolution vollzogen sich hier erstaunliche Veränderungen. Die Lehrpläne, die zuvor auf Fächer wie Korankommentar und islamisches Recht, aber auch formale Logik, also islamische Theologie und Ethik im weitesten Sinn beschränkt waren, wurden nun durch Fächer wie Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie erweitert.
So wuchsen Theologengenerationen heran, die in Fragen konkreter politischer Entscheidungsprozesse über eine solide theoretische Grundlage verfügen. Damit unterscheiden sie sich von den gegenwärtigen Führungspersönlichkeiten des Landes und den konservativen Kreisen, denen trotz politisch-taktischem Geschick häufig ein langfristiges strategisches Know-how fehlt. Mit dem neuen Staatspräsidenten verhält es sich nicht sehr viel anders. Er wird aller Erwartung nach den Vorgaben der konservativ orientierten geistlichen Führung des Landes folgen. Aber er hat Lebenserfahrungen, die den alten Herren im Wächterrat oder den geistlichen Führern fehlen. Er ist der Mann der Menschen aus dem Teheraner Süden. Durch sein bescheidenes Auftreten und seine Volkstümlichkeit hat er jedoch auch Schichten angesprochen, die nicht unmittelbar zu seiner Klientel gehören. Diese beiden Gruppen werden sich mit frommen Worten, einer erneuten Verschärfung des Alltagslebens unter islamischen Vorgaben oder einem Anheizen des Konflikts mit dem Westen und besonders mit den USA nicht mehr beruhigen lassen. Ahmadi-Nedjat wird seiner Klientel eine konkrete positive wirtschaftliche Perspektive bieten müssen. Wenn ihm dies nicht gelingt, kann es zu einer komplizierten Situation kommen. Eine Koalition von aufmüpfigen Studenten und den jungen Leuten aus den Teheraner Armenvierteln könnte die alten Männer aus ihren Positionen und von ihren Pfründen verjagen.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der für die zukünftige Entwicklung des Iran eine Rolle spielt. Seit dem Tod des Ayatollah Abu l-Qasim al-Khoi im Jahr 1992 ist die Position des höchsten schiitischen Rechtsgelehrten, des Marja al-Taqlid, vakant. Die neue höchste Autorität wird nicht durch ein Wahlverfahren bestimmt, sondern durch einen längeren Prozess. Die Bestimmung des höchsten schiitischen Religionsgelehrten ist dabei keine inner-iranische Angelegenheit. Seine Autorität würde sich auch auf die Schiiten im Irak, im Libanon, in Pakistan und in Nordindien, im Kaukasus, in Zentralasien und in der gesamten schiitischen Diaspora in Europa und Amerika beziehen.
Die Position des Marja al-Taqlid hat zunächst spirituelle und seelsorgerische Bedeutung. Durch die immense Autorität, die dieser höchste schiitische Gelehrte auf seine Anhänger ausüben kann, verfügt er aber auch über erhebliche politische Macht. Er ist in der Lage, die schiitischen Massen zu Formen des öffentlichen Ungehorsams zu veranlassen, die Regierungen oder kompletten politischen Systemen zum Verhängnis werden können. Verbunden ist diese politische Macht mit einem hohen Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Diese rührt daher, dass schiitische Gläubige, die einen Gelehrten als religiöse Autorität anerkennen, diesem regelmäßig eine einkommensabhängige Abgabe leisten müssen. Bei einer Anzahl von Anhängern, die in die Millionen gehen kann, kommen so beträchtliche Summen zusammen, die von den Gelehrten in Schulen, Hochschulen und karitative Einrichtungen, aber auch in politische Organisationen investiert werden. Dies geschieht häufig durch die Einrichtung von Stiftungen. Im gegenwärtigen Iran befindet sich ein großer Teil der Wirtschaft unter der Kontrolle derartiger Stiftungen.
Die Kombination aus politischer und ökonomischer Macht ist sicherlich ein Grund dafür, dass die Position des Marja al-Taqlid so heiß umkämpft ist. Dabei wird nicht nur mit geistigen Waffen gekämpft. Vielmehr verfügen die verschiedenen Prätendenten auch über junge Anhängergruppen, die sie teilweise aus ihren Studenten rekrutieren, teilweise aber auch aus den beschäftigungslosen jungen Männern der unteren sozialen Schichten, die in diesen Milizen eine spezielle Identität und ihren Lebensinhalt finden, sich aber auch ein geringes Einkommen sichern. Zumindest einen Teil der aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen im Iran muss man auch vor dem Hintergrund dieses Kampfes um die höchste Position innerhalb der schiitischen Geistlichkeit sehen. Angesichts der überragenden internationalen Bedeutung des Marja al-Taqlid geht es dabei auch um die Stärkung des iranischen Einflusses auf die Schiiten in aller Welt.
Das Erbe Khomeinis auf dem Prüfstand
Gegenwärtig stehen sich innerhalb der schiitischen Geistlichkeit zwei Schulen gegenüber, eine aktivistische und eine quietistische. Im Iran sind die aktivistischen schiitischen Geistlichen derzeit wahrscheinlich in der Mehrheit, zumindest kontrollieren sie die wichtigsten politischen Institutionen. Sie folgen den Theorien, die Revolutionsführer Ayatollah Khomeini in seinem Buch Velayet-i Faqih (Die Herrschaft des Rechtsgelehrten) formuliert hat. Khomeini war der Ansicht, dass sich der schiitische Klerus in die Tagespolitik einzumischen habe, um dafür zu sorgen, dass die Gläubigen in einem islamischen Staat den Vorschriften des islamischen Rechts entsprechend leben könnten. Mit dieser Ideologie war es Khomeini gelungen, die Macht im Iran zu erringen. Sein Konzept birgt allerdings das Risiko, dass fehlerhafte politische Entscheidungen den schiitischen Gelehrten als Vertretern des Islams zur Last gelegt werden und nicht etwa als Politikern, die sich einem Programm oder einer Ideologie verpflichtet fühlen. Kritiker der Theorien Khomeinis befürchten, dass vor allem die Mehrheit der jungen Iraner diese Schlussfolgerung ziehen und damit dem Islam als religiösem Konzept mit allen seinen positiven Aspekten verloren gehen. In der Tat lassen sich schon heute deutliche Tendenzen von Nihilismus und Hedonismus bei vielen jungen Iranern feststellen. Eine solche Einstellung ist mit polizeilichen und anderen staatlichen Zwangsmitteln nicht zu kontrollieren.
Die quietistische Position wird im Iran von einer Reihe von schiitischen Gelehrten und Intellektuellen auch gegen den Widerstand der herrschenden Schichten propagiert. Der wichtigste Vertreter des schiitischen Quietismus ist jedoch der im irakischen Najaf residierendes Ayatollah Ali al-Sistani. Er ist zwar iranischer Herkunft, lebt aber seit vielen Jahrzehnten im Irak. Al-Sistani gilt inzwischen als der kommende Marja al-Taqlid. Trotz starker Widerstände, vor allem durch den jungen Mullah Muqtada al-Sadr und seine Anhänger, ist die überwiegende Mehrheit der irakischen Schiiten ihm gegenüber loyal. Verschiedentlich haben auch Gruppen iranischer Gelehrter ihn um seine Unterstützung gebeten. Al-Sistani fordert zwar einen irakischen Staat auf der Basis des islamischen Rechts, lehnt aber jede Einmischung in aktuelle politische Fragen ab, wenn sie nicht grundsätzlicher Natur sind. Wenn es ihm und seinen Anhängern gelingen sollte, in absehbarer Zeit in den von Schiiten bewohnten Teilen des Irak für Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität zu sorgen, wird dies auch Konsequenzen für die Lage im Iran haben. Die dortigen Vertreter des Khomeinismus unter den politischen Eliten werden der Bevölkerung dann erklären müssen, warum sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation für die Mehrheit der Menschen nicht verbessert hat. Die Zukunft des Khomeinismus im Iran ist daher ungewiss.