Der Komponist Mozart und seine Musik im GedenkjahrEin bleibendes Rätsel

Im Reigen der musikalischen Jubiläen des Jahres 2006 spielt der 250. Geburtstag von Wolfgang Amadé Mozart erwartungsgemäß die erste Geige. Schon lange vor der kontroversen Diskussion um die umstrittene Berliner Idomeneo-Inszenierung war Mozart der Klassik-Star des Jahres. Bemerkenswert ist die interdisziplinäre Sensibilität für sein Werk. Auf dieser Grundlage können Musikwissenschaft, Theologie und musikalische Praxis neu aufeinander zugehen.

Ob wir nun genüsslich eine Mozartkugel verspeisen, eine Neuinszenierung der „Zauberflöte“ besuchen oder beides miteinander verbinden – keiner entrinnt Mozart in diesem eventreichen Jubiläumsjahr. Kleine und große Mozart-Städte, Wien und Salzburg voran, wetteifern mit Konzerten und mit „aufwändiger Huldigungsbetriebsamkeit“ („Die Zeit“) um die Mozart-Touristen. Salzburg hat die Nase vorn, denn die dortigen Festspiele brachten mit dem Projekt „Mozart 22“ sämtliche Opern, 22 an der Zahl, in neuen Inszenierungen auf die Bühne. Die Bilanz fällt künstlerisch gut und wirtschaftlich hervorragend aus. Ein musikalisches Plus war die neue Aufmerksamkeit für Mozarts frühe Bühnenwerke wie etwa „Il re pastore“ (1775), inszeniert und dirigiert von Thomas Hengelbrock. Wirtschaftlich war der komplette Opern-Mozart ein grandioser Erfolg des scheidenden Intendanten Peter Ruzicka.

Katholizismus und Frömmigkeit gehören zum Lebensbild Mozarts

Neue Biographien und kompendiöse Handbücher, aber auch etliche überflüssige Novitäten, füllen die Regale des Buch- und Musikalienhandels. Wer das Radio einschaltet, stößt täglich auf die Stimme des Schauspielers Klaus Maria Brandauer, der Mozart-Briefe rezitiert. Diese mit kurzen Einleitungen versehenen und von Musik begleiteten Briefe bieten Mozart im Originalton. Schließlich war er ein überaus sprachmächtiger und kreativer Briefeschreiber. Nicht nur mit Noten, auch mit Worten zieht er alle Register: vom Sprachwitz über allerlei Unflätiges bis zur religiösen Reflexion über den Sinn des Lebens und Sterbens nach dem Tod der Mutter.

Die Brief-Lesungen im Rundfunk sind die Popularisierung einer Musiker-Biografie, wie sie wohl noch keinem Komponisten je zuteil geworden ist. Im Übrigen verfügen wir weder bei Bach noch bei Beethoven über eine vergleichbare Materialfülle zur Lebensgeschichte, was jedoch nicht heißt, dass alle Fragen zu lösen sind. Im Gedenkjahr widmen sich die Biographen der Deutung der vorhandenen Dokumente ebenso wie dem Rätseln über all jene Aspekte, die offen bleiben müssen. Viele haben mit einem Zitat Mozarts Ernst gemacht, welches der Komponist selbst bekanntlich nie in die Tat umgesetzt hat: „Ich hätte Lust, ein Buch zu schreiben“ (Brief vom 28. Dezember 1782). So herrscht denn auch im Mozartjahr kein Mangel an neuen Darstellungen von Leben und Werk.

Als besonders kundige Zusammenfassung der biografischen Grundlinien und Details, immer nah an den Quellen und nie spekulativ, zudem mit verständlichen Zugängen zur Musik und einem detaillierten Werkverzeichnis ausgestattet – so liest sich Ulrich Konrads „Wolfgang Amadé Mozart“ bei Bärenreiter. Auf gleichem Niveau, im Urteil allerdings oft pointierter – Mozart als „Harlequin“! – präsentiert Rowohlt Martin Gecks „Reise ins Mozart-Land“, die man sich auch via Hörbuch vorlesen lassen kann. Warum ist Mozart ein Harlequin? Weil seine tänzerische Musik Brücken schlägt zwischen Körper und Geist, vergleichbar sogar mit dem urwüchsigen Dialog von Mutter und Kind: „Da gibt es Begegnung und Trennung, Suchen und Finden, Verlieren und Wiederfinden. Es gibt Treffen und Verfehlen, Erwartung und Erfüllung; die Zeit schwankt zwischen Alltag und Ereignis“ (228 f.). Manch wenig fruchtbare Diskussion wird von Martin Geck scharfzüngig kommentiert, etwa die um Mozarts persönliche Frömmigkeit: „Wir brauchen nicht zu wissen, wie katholisch oder fromm Mozart gewesen ist: Er muss nicht glauben, sondern glaubhaft komponieren“ (411). Zwei ergiebige Kompendien eignen sich zum Nachschlagen. Zum einen das von der Heidelberger Musikologin Silke Leopold bei Bärenreiter herausgegebene „Mozart-Handbuch“. Es bietet erstmals eine umfassende Gesamtdarstellung der Musik Mozarts aus der Feder profilierter Autoren wie Peter Gülke, Volker Scherliess und Hartmut Schick. Die Skizzierung biografischer Ausgangspunkte, kompositorischer Grundlinien und aufführungspraktischer Rahmenbedingungen verbindet sich in diesem Standardwerk effektiv mit der Besprechung (fast) aller überlieferten Werke Mozarts. Zum zweiten das „Mozart-Lexikon“ im Laaber-Verlag, das auf 900 Seiten Wissenswertes zusammenträgt und zugleich neue Akzente setzt, etwa mit Artikeln zu „Mozart als Bühnenfigur“, zur „Medialen Präsenz Mozarts“ und zur „Aufführungspraxis“.

Einig sind sich die Biographen darüber, dass Katholizismus und Frömmigkeit zum Lebensbild Mozart mit dazugehören. Ihn unter dem Vorzeichen der Entmythologisierung zum kirchlich distanzierten Freigeist zu stilisieren, entbehrt der historischen Grundlage. Mozart war wohl ein „pragmatischer Durchschnittskatholik“ (Otto Biba). Auch der Bestand an religiösen Büchern in seiner Bibliothek bestätigt dies. Zu Mozarts eigener Sicht der Freimaurerei, der er bekanntlich angehört hat, gibt es allerdings nirgends ein direktes Zeugnis. Der Beitritt zu einer Loge war jedenfalls nach damaligem Verständnis kein per se kirchenkritischer Akt. Ob Mozart in der Loge seine geistige Heimat gesucht oder gar gefunden hat, ist ebenso wenig beweisbar wie die heute oft zu hörende Gegenthese, die Logen seien damals etwas ähnliches gewesen wie heute die Clubs der „Lions“ und der „Rotarier“.

Eine religiöse Idealisierung der Person Mozart hat es nie gegeben

Im Unterschied zu Bach hat es eine nennenswerte religiöse Idealisierung der Person Mozart nie gegeben. Die Sprache der Zeugnisse ist in diesem Punkt zu vielschichtig und auch zu provokant. Man denke nur an die erotischen „Bäsle-Briefe“, an den spektakulären Abschied aus dem Salzburger Dienst am 8. Juni 1781, bei dem auch ein Tritt ins Hinterteil eine Rolle gespielt haben soll, und schließlich an die gelegentlich spitzzüngigen Bemerkungen zu einzelnen kirchlichen Würdenträgern wie Erzherzog Maximilian, der die niederen Weihen empfangen hatte: „Als er noch nicht Pfaff war, war er viel witziger und geistiger, und hat weniger aber vernünftiger gesprochen“. Hinzu kam der Versuch einer Entzauberung des Genies, wie Wolfgang Hildesheimer ihn betrieben hat. Dieser bestritt zwar nicht Mozarts Gläubigkeit, sah aber in frommen Übungen wie dem Besuch der Heiligen Messe „eine Verrichtung, die Mozart zu erledigen hatte, bevor er zum Kegeln oder Tarockspiel ging“. Ulrich Konrad entgegnet dem nüchtern: „Das mag sein, doch wissen können wir es nicht. Und dass nicht er selbst, sondern ein Engel die Musik mache, ebenso wenig.“ Mozarts Frömmigkeit war wohl ein individuelles Gemisch aus traditionellem Katholizismus und Zügen der Aufklärung. Hans Küng hat das bereits zum Mozartjahr 1991 nicht nur dargestellt, sondern auch an Exempeln wie der Krönungsmesse verdeutlicht (neu aufgelegt unter dem Titel „Musik und Religion. Mozart – Wagner – Bruckner“ bei Piper). Im Mozartjahr 2006 widmet sich die Salzburger Ausstellung „Zwischen Himmel und Erde“ der geistlichen Musik Mozarts und ihrem kirchlichen Umfeld. Der reich bebilderte Katalog mit CD (Verlage Schnell & Steiner und Carus) erläutert viele Aspekte der Kirchenmusik Mozarts historisch wie geistlich, wobei auch ein Statement des Mozartfans Benedikt XVI. nicht fehlt.

Allen Verstehensbemühungen zum Trotz bleibt der Mensch und Künstler Mozart aber in vielen, auch ganz zentralen Punkten schlichtweg ein Rätsel. Wer wollte seine immense Schaffenskraft mit menschlichen Maßstäben erklären? 23 000 Seiten Musik umfassen die mehr als hundert Bände der Neuen Mozart-Ausgabe. Bereits seine Zeitgenossen übertrafen sich gegenseitig mit bis ins Absurde gehenden Vergleichen, um das Talent des vom Vater protegierten und nach allen Regeln des damaligen Musik-Managements vermarkteten Wunderknaben ins rechte Licht zu rücken. So schrieb der Arzt Daines Barrington: „Man stelle sich ein achtjähriges Kind vor, das eine Rede aus einem Shakespear’schen Drama, die es noch nie zuvor zu Gesicht bekam, nicht nur verständig rezitiert, sondern auch noch drei verschiedene Kommentare dazu gleichzeitig liest und versteht, wobei der eine Kommentar auf griechisch, der zweite auf hebräisch und der dritte auf arabisch verfasst ist.“ Solches Staunen erregte die Fähigkeit bereits des Kindes, höchst komplexe musikalische Zusammenhänge zu verstehen und im Vom-Blatt-Spiel unmittelbar umzusetzen. Jede Epoche sucht ihren Mozart. Dass sie ihn jeweils neu und anders findet, ist neben der Unverbrauchtheit seiner Musik ein zweiter Erweis für Mozarts überragende Größe. Als Wunderkind stilisierte ihn schon der Vater. Als „Klassiker“ wurde er dann im 19. Jahrhundert weltberühmt; die Romantik vereinnahmte ihn unter dem Zeichen des Dämonisch-genialen, und als „Götterliebling“ feierte ihn die bürgerliche Musikkultur. Bis Autoren wie der bereits erwähnte Wolfgang Hildesheimer zur Entmythologisierung schritten und dabei Licht auf einige zuvor im Schatten liegenden Aspekte warfen: die entwürdigenden Seiten seines Künstlerdaseins, menschliche Schwächen wie die Spielleidenschaft oder das Schuldenmachen, die verbal-erotischen Ausschweifungen in den Briefen an seine Cousine Maria Anna Thekla, das „Bäsle“.

Unerfüllte Liebe zur Kirchenmusik

Dann kam 1984 „Amadeus“, der Film, und sein Protagonist war viel stimmiger als der Mozart der authentischen Dokumente und Quellen. Kein zweiter Komponist ist so sehr zur von Mythen umrankten Musik-Ikone geworden wie Mozart. Das von einem neidischen Konkurrenten vergiftete Genie ist einfach interessanter als der Komponist, den eine nicht mehr genau zu diagnostizierende, vielleicht rheumatische Krankheit dahingerafft hat. Und zweifellos ist es wirkungsvoller, wenn er, seinen frühen Tod schon ahnend, das Requiem für sich selbst schreibt, bis der Tod ihm die Feder aus der Hand schlägt, als wenn der Tod ihn ganz unverhofft ereilt, worauf die Quellen hindeuten. Doch heute profitiert selbst Salieri von Mozarts Ruhm, auch wenn er ihn ganz sicherlich nicht umgebracht, sondern gerade das Requiem in hohen Töne gelobt hat. Den vollendeten Werken Mozarts stehen zahlreiche Fragmente gegenüber, im letzten Lebensjahrzehnt vor allem im Bereich der Kirchenmusik. Sie war nach dem Worten des ersten Biografen Franz Xaver Niemetschek Mozarts „Lieblingsfach“, dem er sich aber, durch die Umstände bedingt, zeitlebens nicht genügend widmen konnte. Der frühe Tod riss ihn aus vielen Plänen, nicht zuletzt im Blick auf geistliche Werke. Deshalb bedeutet er nichts weniger als ein „abgebrochener Neubeginn“ (Christoph Wolff). Vor allem das Requiem, für viele der Inbegriff des von Todesahnungen überschatteten Spätwerks, war für den Komponisten wohl der Versuch eines Neuanfangs. Nach dem Abklingen der kunstfeindlichen josephinischen Reformen gab es Hoffnung auf eine neue feierliche Liturgie. Mozart spekulierte auf das Amt des Wiener Domkapellmeisters. Als Koadjutor hatte man ihm das Recht der Nachfolge bereits zugesichert. Das einzige in Wien vollendete kirchenmusikalische Werk ist die kurze Motette „Ave verum corpus“, ein „Werk der unergründlichen Herrlichkeiten“ (Albrecht Goes), komponiert für einen dörflichen Kirchenchor in Baden bei Wien. An dieser Miniatur für das Fronleichnamsfest lassen sich etliche interdisziplinäre Probleme der Mozart-Forschung verdeutlichen. Bereits der anonym überlieferte Text dieses Reimgebets aus dem 14. Jahrhundert gibt Rätsel auf: ein Gebet vor der Hostie, in dem sich die Stationen des Kirchenjahres von Weihnachten bis zur Passion und Wiederkunft im Fest Fronleichnam gleichsam spiegeln. Die Themen Passion („in cruce pro homine“) und Tod („in mortis examine“) erklingen in musikalischhochexpressiver Parallelisierung. Die Vortragsanweisung „sotto voce“ reflektiert vermutlich auf die Praxis leiser, schwebender Orgelregistrierung bei so genannten Elevationstoccaten, häufig mit Chromatik angereichert, die „unter der Wandlung“ gespielt wurden. Eine frühe Abschrift weist das kurze Stück denn auch als Musik zur Wandlung aus; „Bey der Wandlung zu singen“ schreibt Abbé Maximilian Stadler über seine handschriftliche Kopie. Die stereotyp auch in neuen Handbüchern wiederholte Charakterisierung des Werkes als „Gelegenheitswerk“ sollte deshalb überdacht werden. Vielleicht war es nämlich in Mozarts Augen und Ohren zugleich ein Repertoirewerk par excellence: einzubinden sowohl in das Kirchenjahr (Fronleichnam) als auch in die Liturgie der Messe (Elevationsmotette) und nicht zuletzt in das Offizium als Gesang zur Aussetzung. Dieser Sitz im Leben wäre in der interdisziplinären Forschung noch genauer herauszuarbeiten. Schließlich ist es nicht gleichgültig, ob eine von Mozart komponierte Musik mit einem Konzertpublikum rechnet oder mit einer Liturgie. Und ob die Menschen dabei stehen, sitzen oder knien wie beim Ave verum, dessen gegen den textlichen Duktus verstoßende Wiederholung des anfänglichen „Ave“-Grußes sogar auf die Praxis der doppelten Kniebeuge vor dem Allerheiligsten verweisen könnte.

Sind Mozarts Messen heute noch liturgiefähig?

Neben den vollendeten Werken stehen die zahlreichen Mozart-Fragmente. Die beiden Wichtigsten sind bekanntlich das Requiem und die große Messe in c-Moll. Während das publikumssichere Requiem von Franz Xaver Süßmayr vollendet wurde und heute in zahlreichen weiteren Komplettierungen vorliegt, blieb die c-Moll-Messe lange Zeit ein Torso: für die Liturgie durch das Fehlen des Credo-Schlusses und des Agnus Dei zu unproportioniert, für das Konzert wiederum kein abendfüllendes Werk. Nun hat der Pianist, Musikologe und Mozartkenner Robin Levin, der bereits eine neue Fassung des Requiem vorgelegt hat, rechtzeitig zum Mozartjahr 2006 auch die c-Moll-Messe im Rückgriff auf etliche Skizzen Mozarts komplettiert. Diese Partitur ist nach ihrer Welturaufführung in der Carnegie Hall New York und der europäischen Erstaufführung im Festspielhaus Baden-Baden, jeweils mit Helmuth Rilling und seiner Gächinger Kantorei, oft gespielt worden. Trotz einiger kritischer Kommentare im Feuilleton scheint sie sich in der konzertanten Praxis zu etablieren. Letztlich zeigt sich daran, wie konträr die Erwartungen an Mozart sind. Während die einen, vom Reiz der Vollendung des Torsos bewegt, das nun abendfüllende Werk bejubeln, wollen die anderen wiederum gerade der Nimbus des Fragments nicht missen.

Ein musikalisch-liturgischer Streitpunkt, dessen Feuer im Mozartjahr neu entfacht wurde, ist die „Orchestermesse“ und ihre Bedeutung in der vom Zweiten Vatikanischen Konzil erneuerten Liturgie. Längst wurde herausgearbeitet, dass die Ordinariumskompositionen der Wiener Klassik die Schwerpunkte der Eucharistiefeier musikalisch anders setzen als das gültige Messbuch. Auch der bisweilen dominierende Aufführungscharakter kann kritisch befragt werden. Immer wieder kündigen Zeitungen Gottesdienste mit Mozart-Messen als Konzert an. Vor allem aber herrscht eine unüberhörbare Diskrepanz zwischen den erwähnten liturgischen Bestimmungen und der gängigen Praxis gerade an deutschsprachigen Kathedralkirchen, wo man es mit der „Actuosa participatio“ nicht so ernst zu nehmen scheint.

Verkündigung paart sich mit Virtuosität und Ekstase

Einige Kirchenmusiker und Liturgen sprechen den Messen Mozarts die heutige Liturgiefähigkeit schlichtweg ab. Andere wiederum sehen diese Werke nach wie vor als Inbegriff gottesdienstlicher Musik, weil sie die Herzen der Chorsänger ebenso wie die der Mitfeiernden höher schlagen lässt. Eine solche Polarisierung ist wenig hilfreich. Kirchenmusik lebt heute aus der Vielfalt, und dazu gehören im deutsch-österreichischen Raum die Orchestermessen der Wiener Klassik. Wer gar behauptet, dass diese Werke der zeitgenössischen Musik den Platz wegnehmen, müsste genauer angeben, welche Werke der Gegenwart hierfür denn in Frage kommen. Die Musik Mozarts hat aber nur dann einen gottesdienstlichen Sinn, wenn sie in die Liturgie integriert wird. Deshalb muss auch die Frage nach der „Mozartfähigkeit“ unserer erneuerten Liturgie gestellt werden. Mancherorts hat sich eine Nüchternheit breit gemacht, die dem zweckfreien Heiligen Spiel abträglich ist. Mozart aber „entlarvt schlurfende Ministranten“ ebenso wie „leiernde Zelebranten, hudelnde Lektoren, geschwätzige Einleitungen, nichts sagende Fürbitten und ungepflegte Altarräume“, weil Liturgie immer „ein Gesamtkunstwerk“ ist (Franz Karl Praßl).

Die Rezeption Mozarts ist immens und facettenreich. Neben Bach ist er der einzige Komponist mit einer nennenswerten philosophisch-theologischen Wirkungsgeschichte. Überblickt man die weit verstreuten Beiträge von Kierkegaard bis Joseph Ratzinger, dann fallen bei aller Disparatheit zugleich gewisse Konvergenzen auf. Im Unterschied zu Bach geht es nicht um Mozart als vorbildliche Person. Thematisiert wird zwar seine Frömmigkeit im Kontext von Katholizismus, Aufklärung und Freimaurertum. Es fehlen aber im Vergleich mit Bach zwei Aspekte: der detaillierte Bezug zum Werk erstens, und zweitens der Status der Identifikationsfigur – eine solche kennt die katholische Kirchenmusik nicht, trotz Cäcilia und Palestrina, trotz Mozart und Bruckner. Wenn es Theologen um Mozart geht, dann geht es um die Musik, aber leider nur selten um konkrete Werke. Immer wiederkehrende Stichworte heißen: die Leichtigkeit des Spiels und der bis ins Dämonische gesteigerte Ernst, der himmlischirdische Zusammenklang, die gelingende Integration von Gegensätzen, das Geheimnis des künstlerischen Schaffens und – nun für Person und Werk geltend – die Selbstverständlichkeit des Religiösen. Karl Barths Mozart-Begeisterung ist bis heute überaus populär, weil zwei berühmte Persönlichkeiten sich dabei treffen, noch dazu ein protestantischer Theologe und ein katholisch sozialisierter Komponist. Wichtiger jedoch ist die erfahrungsgesättigte Tiefe, die aus Barths Mozart-Texten spricht. Kein Musiker äußert sich, vielmehr spricht ein Mozart-Hörer aus intimer Kennerschaft und Vertrautheit mit dieser Musik. Im Mittelpunkt steht das „Spielen“ als Charakteristikum der Musik Mozarts. Die spielerische Gelöstheit deutet Barth als Vorzeichen der Erlösung. Ob sich der protestantische Kirchenvater damit ein Stückweit, ob bewusst oder unbewusst, der von ihm sonst überhaupt nicht geschätzten „Natürlichen Theologie“ angenähert hat, bleibt umstritten. Spätere Theologen setzten dann neue Akzente. Hans Urs von Balthasar hört in Mozarts Musik den „Triumphgesang der ungefallenen und wiederauferstandenen Schöpfung“, in welchem Leid und Schuld nur noch als „überwundene, verziehene, durchklärte Gegenwart“ (1955) anklingen. Ähnlich der protestantische Theologe und Barth-Schüler Karl Hammer in einer umfangreichen theologischen Mozart-Studie: die „bereits Ereignis gewordene Versöhnung“ sieht er als „die geheime Mitte der Mozartschen Musik“. Hans Küng schließlich, der sich auf die „Krönungsmesse“ bezieht und somit der Musik nicht ausweicht, entdeckt bei Mozart „Spuren der Transzendenz“ (1991). Dieses Bild hat einen Vorzug: Solche Spuren sind kaum je beweisbar; vielmehr wird die Spur erst zur Spur, wenn einer ihr nachgeht. Zwischen dem subjektiven Beteuern von Mozarts Religiosität oder Nicht-Religiosität und dem vermeintlich objektiven Beweis desselben steht, einzig angemessen, die Hermeneutik des Bezeugens. Doch ein solches Hören der Musik als Sprache des Glaubens wird immer mitkonstituiert von den Rezipienten. An einem berühmten Beispiel: das „Et incarnatus est“ der c-Moll-Messe komponiert Mozart als ergreifende Sopran-Meditation über das Wunder der Menschwerdung. Die semantische Verstehbarkeit der wenigen Worte tritt zurück hinter den geradezu überbordenden Reichtum an Koloraturen. Dies ist moderne Textbehandlung einerseits, zugleich aber auch eine Reminiszenz an den gregorianischen Alleluja-Jubilus, bei dem die Freude nicht mehr „ihre Grenze an den Silben findet“ (Augustinus). Verkündigung paart sich mit Virtuosität und Ekstase, denn die Worte werden in Mozarts Musik gleichsam mit vokalen und instrumentalen Girlanden umrankt. Auch diese Klänge lösen das Geheimnis der Menschwerdung Gottes nicht. Aber die Musik nähert sich ihm intensiver als bloße Worte es vermögen. Ihre Hörer lehrt sie dabei das Staunen und das Jubeln, zwei von Mozart bevorzugte Formen des komponierten Gebets.

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