Friedensethische Bemerkungen zum sicherheitspolitischen WeißbuchWie weit reichen deutsche Interessen?

Ende Oktober wurde das sicherheitspolitische Weißbuch 2006 der Bundesregierung veröffentlicht. Aus friedensethischer Perspektive sind vor allem die Akzente bemerkenswert, die das Weißbuch hinsichtlich der außen- und sicherheitspolitischen Grundphilosophie setzt, sowie die Konsequenzen, die sich hieraus für das Konzept der Inneren Führung ergeben.

Am 25. Oktober wurde das Weißbuch 2006 der Bundesregierung „zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ der Öffentlichkeit übergeben. Die Publikation des vorhergehenden Weißbuches erfolgte 1994. Der größte Teil jener außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen, auf die das neu vorgelegte Dokument nun ausführlich eingeht, wurde jedoch erst in den auf die vorangegangene Positionsbestimmung folgenden Jahren in seinen Konturen deutlicher erkennbar. Mit dem Weißbuch 2006 verbindet sich der Anspruch seiner Autoren, einen maßgeblichen Beitrag zu jener informierten öffentlichen Diskussion um den künftigen Kurs der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu leisten, deren weitgehendes Fehlen bis in die jüngste Zeit von vielen Seiten beklagt wird.

Die wohl wichtigste politische Veränderung, die es zu konstatieren gilt, besteht in der zunehmenden Beteiligung der Bundeswehr an multinational getragenen Einsätzen im Ausland – nicht nur auf dem Balkan, in Zentralasien und Afrika, sondern nunmehr erstmals auch im Nahen Osten. In der Zeit vor 1989, unter den Rahmenbedingungen des Ost-West-Konflikts, hatte gegolten, dass deutsche Soldaten „kämpfen können“ sollten, „um nicht kämpfen zu müssen“: Die Bereithaltung militärischer Mittel im Rahmen der NATO war in ein Konzept der Kriegsverhütung „durch Abschreckung und Entspannung“ (so die Formel des so genannten Harmel-Berichts von 1968) integriert, das ihren tatsächlichen Einsatz überflüssig machen sollte. Dies insbesondere angesichts der Tatsache, dass jeder größere bewaffnete Konflikt zwischen Ost und West jedenfalls für Europa verheerende Folgen gehabt hätte, die die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs voraussichtlich noch weit übertroffen hätten. Die etwa ab Mitte der neunziger Jahre verstärkte Teilnahme von Bundeswehreinheiten an multinationalen Einsätzen war freilich nicht schlichtweg der Ausweis einer Rückwendung zu politischen und militärischen Denkkategorien aus dem vornuklearen Zeitalter. Sie reagierte vielmehr auf die Wiederkehr des Krieges – auch nach Europa – in unterschiedlichen Formen der Vermischung herkömmlicher zwischenstaatlicher Konflikte mit innerstaatlichen Auseinandersetzungen. Früh stellte sich angesichts der Gewalteskalation während des Zerfallsprozesses im ehemaligen Jugoslawien die Frage nach der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, dem dortigen Blutvergießen ein Ende zu bereiten. Auch der Genozid in Ruanda, der 1994 binnen weniger Monate mehr als eine Million Menschenleben forderte, führte der Welt vor Augen, welche Konsequenzen sie in Kauf nahm, wenn sie in solchen oder ähnlichen Fällen auf wirksames Eingreifen verzichtete.

Ein weit gefasstes Sicherheitsverständnis

Auf internationaler Ebene bildete sich in den Folgejahren ein wachsender Konsens darüber heraus, dass die internationale Gemeinschaft ihre „Responsibility to Protect“ annehmen müsse – die Friedensverantwortung der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten sich folglich nicht darauf beschränken dürfe, klassische zwischenstaatliche Kriege zu verhindern, sondern auch den potenziellen oder aktuellen Opfern schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen Schutz zu gewähren habe. Diese Verpflichtung schließt die Stabilisierung von Regionen, die durch organisierte Gewaltanwendung erschüttert wurden, nach Ende der akuten Gewaltphase gegen deren erneuten Ausbruch ein. Ein großer Teil der Einsätze, an denen die Bundeswehr derzeit beteiligt ist, steht in solchen Zusammenhängen.

Vor diesem Hintergrund sind aus friedensethischer Perspektive im neuen Weißbuch weniger die breiten Passagen von Interesse, in denen die weit reichenden strukturellen Veränderungen beschrieben werden, die unter den Stichworten „Transformation“ und „Organisation“ innerhalb der Streitkräfte spürbar werden. Aufmerksamkeit verdienen vor allem die Akzente, die das Weißbuch hinsichtlich der außen- und sicherheitspolitischen Grundphilosophie setzt, sowie die Konsequenzen, die sich hieraus insbesondere für das Konzept der Inneren Führung in der Bundeswehr ergeben.

Gleich zu Beginn und an mehreren weiteren Stellen betont der Text die Bedeutung einer „frühzeitigen Konflikterkennung, Prävention und Konfliktlösung(...) einschließlich einer wirksamen Ursachenbekämpfung“ (8). Er ordnet militärische Vorkehrungen damit einem weit gefassten Sicherheitsverständnis zu, in welchem die Vorrangigkeit politischer Formen der Konfliktbearbeitung im Grundsatz bejaht wird. Ausdrücklich betont das Weißbuch die Bedeutung ziviler Krisenprävention sowie eines „kohärenten Zusammenwirkens im nationalen wie internationalen Rahmen“ mit dem Ziel einer effektiven Präventionspolitik (17). Dennoch bleibt gerade der Begriff der Prävention zugleich ein Stück weit unbestimmt und weckt das Bedürfnis, genauer nachzufragen.

Vom Gedanken der Gewaltprävention als zentralem Anliegen her war das Friedenswort der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede“ (September 2000) entworfen worden. Es begründete den Primat der Gewaltvermeidung, wenigstens aber ihrer Minimierung im Kern mit den Folgen dieser Gewalt für ihre jeweiligen Opfer, für die sie in jedem Fall eine schwerwiegende Leidens-, vielfach zugleich auch eine tiefe Unrechtserfahrung darstellt (vgl. HK, Mai 2003, 227 ff.). Nur unter sehr speziellen Voraussetzungen – die Bischöfe sprachen von der „Pflicht(...), Menschen vor fremder Willkür und Gewalt wirksam zu schützen“ (Ziff. 150) – kann der ethische Vorbehalt gegen Gewalt irgendwelche Einschränkungen erfahren. Da die Zielsetzung, Menschen diesen Schutz zu gewähren, universal formuliert ist, macht sie an politischen, geographischen, ethnischen, religiösen oder anderen Grenzziehungen prinzipiell nicht Halt. Sie wird vielmehr gerade dadurch zu einer Perspektive, die dem Versuch, eine ethisch zustimmungsfähige internationale Ordnung für das 21. Jahrhundert zu entwerfen, angemessen erscheint.

Im Weißbuch ist der „umfassende Sicherheitsbegriff“ (9) demgegenüber in eine andere normative Textur eingebunden. Als Ausgangspunkt für die Analyse sicherheitspolitischer Risiken, aber auch der Beurteilung politischer und militärischer Instrumente, um ihnen entgegenzuwirken, erweist sich ein durchaus inhaltlich komplexes Verständnis nationaler Interessen der Bundesrepublik. Dieses ist zwar an vielen Stellen anschlussfähig für eine universalistische Perspektive – ja mehr noch, es stimmt Einsichten zu, die lange Zeit nur im Rahmen einer solchen Sichtweise diskutiert werden konnten: „Armut, Unterentwicklung, Bildungsdefizite, Ressourcenknappheit, Naturkatastrophen, Umweltzerstörung, Krankheiten, Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen bilden neben anderen Faktoren den Nährboden für illegale Migration und säkularen wie religiösen Extremismus. Sie können damit zu Ursachen der Instabilität und in ihrer radikalsten Form Wegbereiter des internationalen Terrorismus werden. In einer zunehmend interdependenten Welt wirken sich diese Risiken nicht nur auf ihre unmittelbare Umgebung aus, sondern berühren in vielfältiger Weise die Sicherheit der gesamten internationalen Gemeinschaft“ (19 f.). Im letzten Satz deutet sich gleichwohl die Differenz an, die ungeachtet der Richtigkeit dieser Analyse zu einer universalistischen Position besteht: Die genannten Risiken werden primär unter dem Gesichtspunkt wahrgenommen, ob und wie weit sie ein politisches Gesamtinteresse betreffen, von welchem deutsche Außen- und Sicherheitspolitik unmittelbar betroffen erscheint. Die Begründung für politische Handlungsnotwendigkeiten dringt nicht bis auf die Ebene des Einzelnen, unter Not in ihren vielfältigen Erscheinungsformen leidenden Menschen und einen daraus ergehenden ethischen Anspruch durch: Sie sieht diesen Aspekt eher als einen unter einer Vielfalt anderer, mit ihm unter Umständen konkurrierender, kategorial möglicherweise gänzlich verschiedener Interessenlagen an.

Es scheint primär um Wohlstandssicherung zu gehen

Deutlich wird dies insbesondere im Abschnitt „Werte, Interessen und Ziele deutscher Sicherheitspolitik“ (23 f.). Er referiert eingangs zentrale Aufträge, die sich unmittelbar aus dem Grundgesetz an Legislative wie Exekutive richten: Wahrung des Friedens, Beachtung und Stärkung des Völkerrechts, friedliche Streitbeilegung, Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Diesen „Werten“ der Verfassung werden dann „Interessen“ an die Seite gestellt, unter anderem „den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern und dabei die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen überwinden zu helfen“. Wiederum lässt sich grundsätzlich das Interesse an ungehindertem Handel auch in einer universalistischen Sicht formulieren.

Dennoch entsteht an der zitierten Stelle der Eindruck, dass Ziel und Mittel vertauscht wurden: Es scheint primär um Wohlstandssicherung, nachrangig um Gerechtigkeitsfragen zu gehen. Demgegenüber wäre das Interesse, die Bedingungen für den Wohlstand eines Nationalstaats zu sichern, in der Perspektive eines Weltgemeinwohls nur soweit legitim, wie es mit den legitimen Interessen aller übrigen Betroffenen an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung vereinbar, ja möglichst sogar für diese förderlich wäre. Die klare Festlegung nur wenige Sätze später: „Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografisch weit entfernten Regionen berücksichtigen, soweit sie unsere Interessen berühren“, erscheint eher als eine weitere Bestätigung dafür, dass eine universalistische Perspektive das Weißbuch zumindest nicht prägt.

Das Bestreben, eine inhaltlich anspruchsvolle außen- und sicherheitspolitische Konzeption unter häufigem Rekurs auf eine explizite deutsche Interessenlage zu begründen, muß zweifellos auch vor dem Hintergrund eines zunehmend in diese Richtung wirkenden politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Drucks interpretiert werden. Die wachsende Zahl internationaler militärischer Beteiligungen Deutschlands wirft für viele die Frage auf, nach welchen Kriterien sie erfolgt und wann sie mit Blick auf die beschränkten Fähigkeiten der Bundeswehr, solche Einsätze mit zu tragen, die Grenze des Vertretbaren erreicht. Die sorgfältige Prüfung, welche Art von Verpflichtung an welchem Ort zu welcher Zeit mit welchen Kräften übernommen werden kann, ist nicht nur nicht zu beanstanden – sie gehört zu den Amts-, aber auch zu den moralischen Pflichten der Bundesregierung und des zuständigen Ressortministers den entsandten Soldaten gegenüber. Aber eben für die Findung geeigneter Entscheidungskriterien wird die Frage „Universalistische oder an Partikularinteressen orientierte Analyse?“ folgenreich: Wie wäre zu handeln, wenn man um einen Völkermord weiß, den man verhindern könnte, der aber hier und jetzt ein starkes eigenes „nationales Interesse“ nicht zu tangieren scheint? Waren es nicht gerade solche Interessenkalküle, aus denen heraus 1994 nicht verhindert wurde, was in Ruanda geschah? Sind es nicht ähnliche Erwägungen, die heute nicht verhindern, dass sich im Darfur dasselbe Geschehen quasi „in Zeitlupe“ wiederholt? Wie überzeugend wirkt auf einen moralisch sensiblen Menschen, der möglicherweise im Einsatz sein Leben riskiert, die Begründung solcher Einsätze – oder im Gegenteil des Verzichts auf sie – zwar mit einem ganzen Fächer politischer Opportunitätsargumente, aber unter Aussparung zentraler ethischer Aspekte, die damit unzweifelhaft verbunden sind? Immerhin droht hier nicht nur ein prekäres Begründungsdefizit für politisches Handeln mit militärischen Mitteln, das unter Umständen zum Nichthandeln führen kann, wo zu handeln geboten wäre. Es ist auch vorstellbar, dass unter Rückgriff auf rein politische oder ökonomische Interessen militärische Einsätze stattfinden, die bei einer näheren Prüfung unter friedensethischer Perspektive fragwürdig erscheinen, wenn nicht abzulehnen wären. Erst eine Analyse jenseits nationalstaatlicher Kalküle könnte die Problematik solchen Handelns bewusst werden lassen.

Neue Herausforderungen für das Konzept der Inneren Führung

Diese Überlegung leitet über zum zweiten Gesichtspunkt, unter dem das Weißbuch genauer betrachtet werden soll, dem Konzept der „Inneren Führung“ unter den gewandelten Verhältnissen einer „Armee im Einsatz“. Dieses für die Bundeswehr charakteristische Führungsprinzip spiegelt die Erfahrung wider, dass Armeen, in deren Strukturen sich ein ethisch reflektiertes Verständnis von Befehl und Gehorsam nicht oder nur im Ausnahmefall zu entwickeln vermag, für politisch motivierte Missbräuche aller Art anfällig werden. Dem „Vater“ der Inneren Führung, Wolf Graf von Baudissin, ging es darum, dass sich in den neu gegründeten Streitkräften der jungen Bundesrepublik ein anderes Verständnis des Militärischen etablieren sollte, als es für die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg prägend gewesen war. Er benutzte daher bewusst die Formel vom Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“, der nicht auf vielfach problematische militärisch-politische Traditionen und einen an ihnen orientierten „Korpsgeist“, sondern auf die Wertpositionen des Grundgesetzes verpflichtet war – und der praktizierten Respekt vor Menschenwürde und Menschenrechten als maßgebend auch im alltäglichen Dienst erfahren sollte. Was bereits unter den Rahmenbedingungen einer Armee, die der Kriegsverhütung dienen sollte, erforderlich war, erhält für Streitkräfte unter Einsatzbedingungen umso mehr Bedeutung: Innere Führung soll Befehlsgeber wie -empfänger zu einem Handeln befähigen, in dem sie den normativen Prinzipien, auf die sich die Legitimität der politischen Ordnung ihres Entsendestaates gründet, tatsächlich entsprechen. Dies stellt in einem von Gewalt geprägten Handlungskontext besondere Anforderungen an die Persönlichkeit des Einzelnen, der beständig der Gefahr widerstehen muss, selber in den Sog der Eigendynamiken jeder Gewalt hineinzugeraten. In der Einsatzvorbereitung darf auf diese Gefahren nicht nur hingewiesen, es müssen darüber hinaus durch spezifische Trainings Verhaltensmöglichkeiten erschlossen werden, ihnen nicht zu erliegen. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit Gefangenen, die auch gegenwärtig nur allzu häufig eine unmenschliche Behandlung erfahren.

Der Soldat als Helfer, Schützer und Vermittler

In vielen Fällen kommt es zudem auf die Fähigkeit an, Eskalationsprozesse, die auf der fatalen Logik von Gewalt und Gegengewalt beruhen, zu unterbrechen, eine Situation bewusst zu deeskalieren, um nicht nur das eigene Leben, sondern auch das anderer in der konkreten Situation betroffener Personen zu retten. Damit ist eine erhebliche Erweiterung des klassischen, auf die Rolle des Kämpfenden zentrierten Soldatenbildes verbunden – Soldaten im Einsatz müssen insofern „auch Helfer, Schützer und Vermittler“ sein können (70). All dies wirkt zugleich der Herausbildung einer Söldnermentalität entgegen, vor der Fachleute eindringlich für den Fall warnen, dass Einsatzvorbereitung, -durchführung und -nachbereitung Defizite gerade im Bereich der Personalführung aufweisen. Zu Recht betont das Weißbuch, dass die im Einsatz geforderten Kompetenzen eine „intensive ethisch-moralische Bildung“ (70) notwendig machen. Mit ihr einhergehen müsse eine Traditionspflege, die das Bewusstsein dafür schärfe, „welche Einstellungen und Taten ein Beispiel für die Bundeswehr geben können“, und die daher „die preußischen Heeresreformen, de[n] militärische[n] Widerstand gegen das NS-Regime sowie die eigene Geschichte der Bundeswehr selbst“ als Armee im demokratischen Staat in den Mittelpunkt zu stellen habe (70). Es ist zu begrüßen, dass das Weißbuch an dieser Stelle deutlich die Notwendigkeit von Abgrenzungen im Bereich der Traditionspflege bejaht, mithin ein kritisches Verhältnis ihr gegenüber anmahnt.

Neue Herausforderungen für die Innere Führung stellen sich nicht nur im Kontext ihrer Bewährung in militärischen Einsätzen als solchen, sie ergeben sich zumal hinsichtlich der Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten einer Kooperation mit Streitkräften, die über andersgeartete Führungskulturen verfügen. Hier wählt das Weißbuch eine diplomatische Formulierung, in der unvermeidlich manches offen bleibt: „Die Konzeption der Inneren Führung ist Ausgangspunkt eines Dialogs mit unseren Partnern über Führungsprinzipien in den jeweiligen Streitkräften. Die Entwicklung gemeinsamer Vorstellung[en] von Führung und soldatischem Selbstverständnis ist eine Voraussetzung für eine weitere Intensivierung der Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik“ (71). Innere Führung muss jedoch auch, ja gerade in der Kooperation mit militärischen Kontingenten anderer Staaten mehr bleiben als eine „Verhandlungsbasis“, von der mehr oder weniger stark abgewichen werden kann, um eine Übereinkunft im gemeinsamen Vorgehen zu erzielen – es gilt, offensiv und selbstbewusst für die Vorzüge dieses Konzepts einzutreten.

Die deutschen Bischöfe legten im November vergangenen Jahres unter dem Titel „Soldaten als Diener des Friedens“ eine „Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr“ vor, in der in diesem Zusammenhang auf den Verhaltenskodex der OSZE „zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit“ von 1994 verwiesen wird: „Er verpflichtet die Teilnehmerstaaten auf Minimalstandards zur Integration der Streitkräfte in den demokratischen Staat, zur Streitkräftekontrolle, zur Gewährleistung einer die Grundrechte schützenden Rechtsstellung der Soldaten und Soldatinnen sowie zur Sicherstellung der persönlichen Verantwortung aller Angehörigen der Streitkräfte für ihre Handlungen“ (17). Dies zeigt an, dass der ethische Kerngehalt der Grundsätze der Inneren Führung auch im größeren europäischen Rahmen Anerkennung findet und die Notwendigkeit der Implementierung einer dementsprechenden Führungskonzeption in den jeweiligen nationalen Streitkräften bejaht wird.

In den Kommentaren der Tagespresse wurde vielfach angemerkt, dass die Ausführungen zum so genannten Luftsicherheitsgesetz die derzeit gültigen Verfassungsbestimmungen für einen Einsatz militärischer Mittel zur Abwehr eines möglichen Terroranschlages für zu eng und deswegen „die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte“ (67) für gegeben halten. Offen bleiben an dieser Stelle weitere Konkretionen solcher Überlegungen. Dies dürfte entscheidend darauf beruhen, dass hinsichtlich dieser Problematik bisher innerhalb der Bundesregierung kein Konsens gefunden wurde. Mit ihr verbinden sich jedoch nicht nur politische und juristische, sondern ebenso ethische Fragen von erheblicher Tragweite, die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar dieses Jahres indirekt, teilweise sogar unmittelbar angesprochen werden. Sie bedürfen einer weiter gehenden Thematisierung auch in der ethischen Fachdebatte.

Das große Ungleichgewicht zwischen zivilen und militärischen Ressourcen

Die Passage zur Rüstungspolitik der Bundesregierung (74 f.) kontrastiert auffallend mit den Ausführungen zur Notwendigkeit einer fortgesetzten Rüstungskontroll- und Abrüstungsstrategie, in der die Bundesrepublik auf manchen Gebieten eine aktive Rolle einnimmt, an anderen Stellen des Textes. Im Abschnitt zur Rüstungspolitik liegt der Akzent nahezu ausschließlich auf den funktionalen Vorteilen einer europäischen Rüstungskooperation, die sich über ihre wirtschafts- und technologiepolitischen Aspekte hinaus auf außenpolitischem Gebiet gezielt nutzen lasse. Die Ambivalenzen rüstungspolitischer Entscheidungen geraten dabei kaum in den Blick. Dies gilt besonders für die so genannte Dual-Use-Problematik, das heißt für die verstärkte Nutzung von Technologien, die einer sowohl zivilen wie militärischen Nutzung zugänglich sind. Gerade die Verwendung derartiger Produkte lässt sich selbst durch Bemühungen um eine restriktive Rüstungstransferpolitik nur unter großen Schwierigkeiten kontrollieren und begrenzen. Da das Weißbuch zu Beginn, bei der Behandlung grundsätzlicher sicherheitspolitischer Fragen, die Bedeutung betont, die einer kohärenten, auf Konflikteindämmung und -prävention gerichteten Gesamtpolitik zukommt, wundert es umso mehr, dass die rüstungspolitische Dimension dieser Maxime kaum sichtbar wird. Erst so würde es auch möglich, die seit einiger Zeit bestehende Europäische Verteidigungsagentur nicht nur unter der Perspektive der Erleichterung rüstungspolitischer Kooperationen wahrzunehmen, sondern zugleich das ausdrückliche Ziel, zu verhindern, dass Rüstungspolitik abrüstungspolitische Erfordernisse konterkariert, als Teil des Auftrages dieser Agentur zu verstehen und wo nötig einzufordern.

Man sollte den Autoren des Weißbuches nicht das pure Faktum vorhalten, dass sie auf militärpolitische Fragen einen besonderen Akzent legen – die Frage nach der gegenwärtigen Rolle der Streitkräfte im Kontext deutscher Außen- und Sicherheitspolitik darzulegen, war ausdrücklich Gegenstand ihres Auftrages. Aber es bleibt daran zu erinnern, dass das Bekenntnis des Weißbuchs zu einer krisenpräventiven Politik nach Entscheidungen verlangt, das große Ungleichgewicht zwischen zivilen und militärischen Ressourcen, die hierfür bereitstehen, zu korrigieren. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren mehrfach selbst auf die bisher massive Unterausstattung ziviler Komponenten zur Konfliktvorbeugung und -bewältigung hingewiesen und eine Veränderung dieser Schieflage in Aussicht gestellt. Fachleute innerhalb wie außerhalb der Bundeswehr fragen sich in diesem Zusammenhang, ob die laufende Beschaffung teurer Rüstungsgüter, die auf vor langer Zeit und unter zum Teil deutlich anderen politischen Rahmenbedingungen geschlossenen Verträgen beruht, mit den heute geforderten Prioritäten vereinbar ist. Die zivilen Instrumente der Konfliktbearbeitung zu vernachlässigen, ist politisch fatal gerade unter dem Aspekt, dass es gilt, sich endlos in die Länge ziehende militärische Engagements zu vermeiden. Sie erscheinen nur sinnvoll im Kontext einer durchdachten Friedensstrategie, taugen nicht als Ersatz für fehlende politische Konzepte. Letztlich ist nur unter dieser Voraussetzung eine Entsendung von Soldaten wie auch von zivilen Kräften, die in solchen Missionen eingesetzt werden, in gefährliche Einsätze zu verantworten.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

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