Nach aufgeregten Schlagzeilen über die polnischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 ist in die deutsche Polenberichterstattung die meist übliche Ruhe eingekehrt. Einiges wurde in Deutschland über eines der vermutlich weltweit politisch einflussreichsten Zwillingspaare – Lech und Jaros ław Kaczynski – geschrieben. Während Ersterer am Tag vor Weihnachten als neuer Präsident Polens als Nachfolger von Aleksander Kwasniewski vereidigt wurde, ist sein Bruder Vorsitzender von der national-konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der stärksten Gruppierung im heutigen polnischen Parlament.
Von harschen Wahlkampftönen zum politisch Machbaren
Nachdem das angedachte Bündnis mit der zweitstärksten Partei im Parlament, der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO), gescheitert war, bildet nun PiS eine Minderheitenregierung mit Unterstützung der radikalen Bauernliga „Selbstverteidigung“ (SO) unter Andrzej Lepper und der erzklerikalen „Liga der polnischen Familien“ (LPR). Dieses politische Szenario wurde von den Wenigsten im Vorfeld als realistisch eingeschätzt und – falls doch – als eine „worst-case“-Version befürchtet.
Diese Minderheitsregierung erhielt zwar in den letzten Monaten steigende Unterstützungswerte in der Bevölkerung, ist aber bei Abstimmungen sehr instabil. Die Haushaltsverhandlungen Mitte Januar führten zu einer größeren innenpolitischen Krise, bei der Parteichef Jarosław Kaczynski die übrigen Parteien vor die Alternative stellte: einem halbjährigen Stabilitätspakt, der zu einer Regierungsmehrheit im Parlament führt und die Verabschiedung des Haushalts nach Vorstellung von PiS möglich macht, oder verzogene Neuwahlen im Frühling. Kaczynski wurde vorgeworfen, dass er die Koalitionsbedingungen nicht verhandeln, sondern diktieren wolle – die Sorge, dass Neuwahlen vor allem eine Schwächung aller Parteien außer der PiS bedeuten werden, macht die übrigen Parteien zu schwachen Verhandlungspartnern. Im Wahlkampf hatten die beiden Zwillinge unter anderem mit abwertenden Aussagen gegenüber Deutschland wie auch der EU Politik gemacht. Beide Zwillingsbrüder wiesen mit Stolz auf ihre mangelnde Auslandserfahrung hin. Lech Kaczynski machte sich in den letzten Jahren in seiner Funktion als Stadtpräsident von Warschau als Law-and-order-Vertreter einen Namen und schreckte ebenso wie sein Bruder nicht davor zurück, den Wunsch nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe laut zu äußern. Der neue Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz, ehemaliger Mathematik- und Physiklehrer, wurde von Jaroslaw Kaczynski bewusst auf den Premierposten gesetzt, um den Präsidentschaftswahlkampf seines Bruders nicht zu gefährden. Von den beiden Zwillingsbrüdern gilt Jaroslaw als der Mächtigere und wurde von der Zeitschrift WPROST zum (einflussreichsten) „Mann des Jahres 2005“ gewählt.
Interessant ist die Zusammensetzung der neuen Regierung. Die Ministerposten, die bei der geplanten Koalition von der liberalen Bürgerplattform (PO) besetzt worden wären, gingen vor allem an parteilose Experten. Zugleich gelang es der PiS einige PO-Politiker abzuwerben, die nun mit Ministerämtern in der neuen Regierung sitzen. Hierzu gehören neben dem Gesundheitsminister auch die im Januar ernannte liberale Ökonomin Zyta Gilowska als Finanzministerin. Gerade Letztere vertritt zahlreiche Positionen, die bisher zumindest nicht auf dem PiS-Programm stehen. Liberal und europafreundlich will sie eine möglichst baldige Einführung des Euro und ist gegen die geplanten familienpolitischen Reformen der PiS. Die Entscheidung für sie kann mehrere Gründe haben: der Wunsch nach einer Stärkung der Parteibasis, verbunden mit einer Schwächung der Bürgerplattform und langfristig der Aufbau einer großen Mitte-Rechts-Volkspartei. Typisch und zugleich haarsträubend ist Jaroslaw Kaczynskis Begründung für Gilowskas Wechsel von PO zu PiS in Radio Maryja: „Der Himmel freut sich mehr über einen reumütigen Sünder als über 99 Gerechte.“ Für viele war auch überraschend, wie in den verschiedenen Regionen Polens gewählt wurde. So stimmten die Woiwodschaften, die in den früheren deutschen Gebieten liegen, mehrheitlich für den liberalen Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk. Diese Gegenden pflegen sehr viele (eher positive) Kontakte mit Deutschen, insbesondere Heimatvertriebenen, so dass sie sich von den deutschfeindlichen Wahlkampfparolen der Kaczynski-Brüder nicht beeindrucken ließen. Ebenso stimmten die Regionen für Tusk, in denen es größere Minderheiten gibt, zum einen in Oppeln mit einer starken deutschen Minderheit, aber auch in einer kleinen Enklave ganz im Osten von Polen, wo sehr viele Orthodoxe mit ukrainischen und belarussischen Wurzeln leben. Sie haben mit Sicherheit die nationalen Töne des Zwillingspaares abgeschreckt.
Die ersten Monate des neuen Premiers haben aber gezeigt, dass der harsche Wahlkampfton und überzogene Forderungen zum Teil dem politisch Machbaren und einer diplomatischeren Sprache Platz gemacht haben. Allein die Erfahrung des Brüsseler EU-Finanzgipfels im Dezember 2005, bei dem Polen zum einen hart verhandelte, aber zum anderen auch ein wirkliches Entgegenkommen gerade von Angela Merkel erfuhr, hat das EU und Deutschlandbild – auch gerade bei den Politikern selbst – verbessert. Zugleich haben die Kaczynski-Brüder trotz ihrer europaskeptischen Reden mit Premier Marcinkiewicz und Außenminister Stefan Meller zwei Politiker berufen, die über breite Auslandserfahrung verfügen. Marcinkiewicz war Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung und kennt Deutschland ausgezeichnet. Meller ist in Frankreich aufgewachsen und hat die letzten Jahre als Diplomat gearbeitet, zuletzt als Botschafter in Paris und Moskau. Neue Impulse werden daher auch für die polnisch-französischen Beziehungen erwartet; gerade im Bereich der EU gibt es zwischen den beiden „Agrar-Ländern“ eine ganze Reihe von gemeinsamen Interessen. Dies kann auch die trilaterale Zusammenarbeit im „Weimarer Dreieck“ möglicherweise wieder etwas beleben.
Zunehmende politische Instrumentalisierung der Religion
Die in den letzten Jahren nicht einfachen deutsch-polnischen Beziehungen stehen nun mit dem politischen Wechsel in beiden Ländern vor neuen Bedingungen. In Polen freute man sich über die Wahl Angela Merkels, die als politisches Kind Helmut Kohls von seinem guten Namen in Polen profitieren kann. Zudem liegt sie mit ihrem Bemühen um gute Beziehungen zu den USA und einem weniger überschwänglichen Verhältnis zu Russland mehr auf dem polnischen außenpolitischen Kurs. Als Studentin verbrachte Merkel einige Monate in Prag und erlebte 1981 Solidarnosc-Zeiten in Polen – so besteht ein persönlicher Bezug zu der Region Ostmitteleuropa, die sie auch innerhalb der EU stärker unterstützen möchte. Über ihre Geste beim EU-Gipfel freute man sich in Polen. Ihren Besuch in Warschau Anfang Dezember 2005 zusammen mit Außenminister Steinmeier hat die polnische Presse als positiv bewertet. Psychologisch war es wichtig, dass beide zuerst nach Polen kamen, bevor sie nach Moskau reisten. Um das Dauerthema „Zentrum gegen Vertreibung“ ist es etwas ruhiger geworden. Dass die Kanzlerin gegen die Einrichtung eines Zentrums in Berlin nichts einzuwenden hat, sieht man in Polen ungern. Als Gegenentwurf wurde im Februar letzten Jahres die Gründung eines „Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität“ von den Kultusministern aus Deutschland, Polen, der Slowakei und Ungarn beschlossen, das sich im europäischen Maßstab mit dem Thema Vertreibung auseinander setzen soll. Das „Haus der Geschichte“ in Bonn zeigt zurzeit eine Ausstellung über Vertreibungen in Europa, die als Vorbild für eine Annäherung an das Thema dienen könnte. Ob es sowohl das Netzwerk, für das nun schon eine Stiftung gegründet und ein Sitz in Warschau geplant wurde, als auch das Zentrum in Berlin geben wird, ist weiterhin nicht sicher. Ein neues Konfliktfeld zwischen Deutschland und Polen könnte sich eher auf europäischer Ebene entwickeln. Während Deutschland sich für eine Neubelebung der Europäischen Verfassung stark machen möchte, haben führende polnische Politiker den endgültigen Tod dieses Dokuments erklärt. Für eine kleine Aufregung sorgte die Auslosung Deutschlands und Polens als WM-Spielgegner, was etwa auch der polnische Schriftsteller Pawel Huelle humorvoll kommentierte: „Ich halte zu Polen, aber wenn die Deutschen 2:1 gewinnen sollten, würde es mich nicht allzu sehr wundern“ (Die Welt,22.12.05). Auf gesellschaftlicher Ebene hat das bis Mai noch laufende „Deutsch-polnische Jahr“ für viele Begegnungen gesorgt und auch Kreise zur Zusammenarbeit motiviert, die bisher noch wenig mit dem Nachbarland zu tun hatten.
Die ersten außenpolitischen Schritte der neuen polnischen Regierung zeichnen sich durch Pragmatismus aus und erlauben die Hoffnung, dass Polen an die Linie der letzten Jahre anknüpft. Demgegenüber scheinen innenpolitische Entscheidungen und Zielvorgaben zunehmend stärker von Dogmen, Moral und religiösen Prinzipien bestimmt zu sein. Immer wieder haben die Zwillinge eine moralische Erneuerung des Landes, unter der Devise von der „vierten Republik“ heraufbeschworen. Zu den positiven Aspekten gehören dabei der Plan einer umfassenden Korruptionsbekämpfung (Polen steht lauf Transparency International auf Platz 70 zwischen Saudi-Arabien und Lesotho), eine stärkere Berücksichtigung der ärmeren Bevölkerungsgruppen und familienpolitische Maßnahmen. Irritierend bleiben neben den stark nationalen Tönen à la „Polen zuerst“ die Idee der umfassenden „Reinigung“ des Landes, die Hand in Hand geht mit antiliberalen Forderungen. 17 Jahre nach dem Runden Tisch, der den endgültigen Todesstoß für das kommunistische Regime bedeutete, soll das öffentliche Polen gezielt von ehemaligen Gefolgsleuten aus der PZPR-Zeit gesäubert werden. Ein Schritt hierbei ist die Abberufung von zehn Botschaftern, denen Verstrickungen mit dem alten Regime vorgeworfen werden. Hierzu zählt unter anderem der polnische Botschafter in Berlin, Andrzej Byrt,der seit vielen Jahren mit Erfolg die Botschaft leitet. Aber auch die schnelle Durchsetzung eines neuen Mediengesetzes, das den Einfluss der Regierung auf staatliche Fernseh- und Radiosender erhöht und die Entlassung von früheren Kadern über Nacht möglich macht, zielen in dieselbe Richtung.
Besonders bedenklich ist, dass vor allem der klerikale und antisemitische Sender Radio Maryja von diesem neuen Gesetz profitiert. Dies geschehe nicht zufällig – sondern Ziel sei es, aus dem Radio ein regierungstreues Medium zu machen. Deutlich wird eine zunehmende Instrumentalisierung von Religion in der Politik, vielleicht an gewissen Punkten vergleichbar mit der amerikanischen religiösen Rechten. Der Publizist Jarosław Makowski spricht von einem soften Fundamentalismus, der verbunden mit dem „Traum von einer moralischen Revolution“, einem „Kreuzzug“ gleich, eine neue, vierte Republik, katholisch und geläutert, auferstehen lassen möchte (Gazeta Wyborcza, 2.1.2006). Nur ein starker Staat könne nach Meinung des national-konservativen Sejmmarschalls Marek Jurek „die moralische Ordnung schützen“ (ebd.). Eine Politik, die sich der religiösen Sprache bedient – teils aus Überzeugung, teils aber auch als großartiges Instrument, um eine neue Solidarität und ein starkes Nationalgefühl heraufzubeschwören, ist aber im 21. Jahrhundert im Rahmen der EU mehr als irritierend. Viele befürchten, dass ein umfassender Elitenwechsel bevorsteht. Die größte polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza unter ihrem Chefredakteur, dem früheren Bürgerrechtler Adam Michnik, attackiert scharf die Säuberungsideen der Brüder, mokiert sich über die Gut- und Bösekategorisierung der Regierung und warnt vor einer Hetzjagd im Land.
Die national-konservative Linie polarisiert
Allerdings ist PiS nicht mit der erzreaktionären Partei „Liga der Polnischen Familie“ (LPR) gleichzusetzen. Lech Kaczynski wurde mit einer Mehrheit von 54 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Diese Zustimmung macht deutlich, dass sich nicht allein nur die frustrierte, ältere, einfach strukturierte Landbevölkerung Polens für ihn entschieden hat, sondern auch gebildete und jüngere Bevölkerungsgruppen ihm ihre Stimme gaben. Neben dem Aspekt, dass sein Gegenkandidat Donald Tusk, der im ersten Wahlgang noch die Mehrheit hatte, als Persönlichkeit möglicherweise zu wenig überzeugend war, hat Kaczynski mit seiner Kritik und seinem Wunsch nach Neuanfang und „Aufräumen mit dem Sumpf“ den Nerv getroffen. Jahrelange Wirtschafts- und Politikskandale, korrumpierte Parteien und Politiker, hohe Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheiten und Zukunftsängste haben den Boden für ein Politiker-Duo bereitet, das dem Einzelnen das Gefühl gibt, wieder politische und moralische Ordnung herzustellen und Gewissheiten zurückzugeben.
Für internationales Aufsehen und viel Kritik haben die Verbote von so genannten Gleichheits- oder Toleranzdemonstrationen, organisiert von polnischen Schwulen- und Lesbenverbänden, gesorgt. Mit der neuen politischen Konstellation sind Homosexuelle zur besonderen Zielscheibe der Diskriminierung geworden. Die Verbote der Paraden und Demonstrationen und das scharfe Vorgehen der Polizei lösten sowohl nationale als auch internationale Solidaritätsbekundungen aus. Im November 2005 gab es im Deutschen Bundestag eine kleine Anfrage der Grünen zur „Bürgerrechtssituation von Lesben und Schwulen in Polen“ (www.gruene-berlin.de/site/2866.0. html vom 6.1.2006) und in Berlin und Köln fanden Solidaritätskundgebungen vor der polnischen Botschaft beziehungsweise dem Generalkonsulat statt. Interessant war ebenfalls ein offener Brief der christlichen tschechischen Schwulen-Organisation LOGOS an den Vorsitzenden des polnischen Episkopats, den Przemysler Erzbischof Józef Michalik, mit der Aufforderung, sich an das Gebot des Papstes zu halten und Homosexuellen mit Liebe und Gespür gegenüberzutreten (www.homiki.pl). Das Thema Homosexualität ist in Polen weiterhin ein Tabu und nur sehr wenige Polen haben den Mut, sich offen zu ihrer Homosexualität zu bekennen. So ist es allein möglich, dass in einer Umfrage im November 2005, die nicht nur in Polen, sondern auch in Ungarn, der Slowakei und Tschechien durchgeführt wurde, nur 16 Prozent der befragten Polen von sich sagen, dass sie persönlich einen Schwulen oder eine Lesbe kennen (www.cbos.pl).
Aber nicht nur im Ausland wird auf diese Politik reagiert, sondern auch im Land selbst haben Solidaritätsaufrufe und -veranstaltungen stattgefunden. So gab es nach dem Verbot der Gleichheits-Paraden in vielen polnischen Städten Solidaritätskundgebungen unter dem Motto „Wiederbelebung der Demokratie – der Gleichheitsmarsch geht weiter“, an denen sich auch zahlreiche andere gesellschaftliche Gruppen und bekannte Persönlichkeiten beteiligten. Inzwischen hat das Posener Verwaltungsgericht entschieden, dass das Verbot der dortigen Gleichheits-Parade rechtswidrig war und hat die Anklagen gegen die Beteiligten fallen gelassen. Die national-konservative Politik der Kaczynski-Brüder polarisiert. Für viele Polen, die sich an den Demonstrationen beteiligt haben, geht es um ein deutliches Signal für ein demokratisches, tolerantes, liberales und menschenfreundliches Polen und gegen die populistische Demagogie von Präsident und Regierung. Dies führt auch zu einer stärkeren Vernetzung von Gruppen in Polen, die bisher vielleicht voneinander sehr wenig wussten oder kaum Berührungspunkte hatten. Teilweise versucht man auch, die nationalen Vorstöße der Brüder nicht zu ernst zu nehmen. Selten wurden Politiker in so vielen Formen karikiert und medial verarbeitet. Man tituliert sie als „Erpel“, spricht von „Quakistan“ und nimmt damit auf ihren Namen, der sich von dem polnischen Wort „Kaczka“ (Ente) ableitet, und ihre eher kleine und untersetzte Statur Bezug. Zudem wurde ein Märchenfilm ausgegraben, in dem die beiden Zwillinge als Kinder mitgespielt hatten und den Mond klauen wollten. Oder man findet eine Internetseite, die sich „danke Erpel“ (www.dziekujemykacz.com) nennt und bitterböse, aber gleichzeitig sehr humorvoll die Brüder angreift.
Wohin steuert Radio Maryja?
Der Tod von Johannes Paul II. im April 2005 hat das ganze Land über Wochen in einen Ausnahmezustand versetzt (vgl. HK, September 2005,460ff.).Viele (junge) Polen haben in diesen Wochen wieder einen Schritt auf die Kirche zu gemacht, so betroffen waren sie vom Tod des „größten Polen aller Zeiten“. Offizielle Veranstaltungen wurden in dieser Zeit abgesagt, viele Internetseiten waren in schwarz-weiß gehalten, es fanden öffentliche Schweigeminuten statt und die Zeit schien stillzustehen. Den Tod Johannes Pauls II. haben viele auch als eine persönliche Zäsur in ihrem Leben empfunden. Dass mit der Wahl Benedikts XVI. ein Vertrauter des polnischen Papstes ins Amt kam, sorgte für eine sehr positive Resonanz in Polen. Benedikt XVI. spreche inzwischen schon ganz gut polnisch, wurde ihm von polnischen Gläubigen bescheinigt. Im Mai wird er für einige Tage nach Polen reisen – unter anderem wird er voraussichtlich neben Warschau, Krakau und Tschenstochau auch den Geburtsort von Karol Wojtyła – Wadowice – besuchen.
Aber auch der neue Papst kann über den Verlust der wichtigen Funktion, die Johannes Paul II. für Polen und den polnischen Katholizismus hatte, nicht hinwegtäuschen. Gerade in der jetzigen politischen und kirchlichen Situation mag sich der eine oder andere Bischof nach einem klaren Wort „von außen“ zurücksehnen. Für Polen war der Papst häufig die Instanz, die gerade auch gesellschaftspolitische Entwicklungen im Land zu deuten wusste und dem Episkopat die Richtung wies. Im heutigen Polen kann man kaum mehr von einem einheitlichen Katholizismus sprechen, immer deutlicher werden verschiedene Strömungen, auf die der Episkopat mit Unsicherheit reagiert. Hinzu kommt, dass sich jetzt sowohl Präsident als auch Regierung als unbedingt katholisch verstehen und auch ihre Politik als solche verstanden wissen wollen. Diese katholische Politik stellt aber auch den Episkopat vor viele Probleme. Zum einen hatte Tadeusz Rydzyk, der Leiter des klerikalen, nationalkonservativen und antisemitischen Radio Maryja, im Wahlkampf neben der Liga für Polnische Familien (LPR) auch die Kaczynski-Brüder stark und – wie sich gezeigt hat – mit Erfolg unterstützt. Dieser Sieg hat dem auch vorher Polen schon politisch mächtigen und wirtschaftlich sehr erfolgreichen Radio-Gründer noch einmal Auftrieb gegeben. Inzwischen wird er von den führenden Politikern umworben und Ministerpräsident Marcinkiewicz verkündigte seine Silvesteransprache über Radio Maryja. Rydzyk ist dem Episkopat schon seit langem ein Dorn im Auge und an Ermahnungen, auch aus Rom, hat es nicht gefehlt. Aber bisher gehörten die politischen Kreise, die Radio Maryja unterstützte, eher zur Peripherie. Nun ist die regierende politische Klasse ideell nicht mehr weit von den Vorstellungswelten von Radio Maryja entfernt und es ist eine immer stärkere Instrumentalisierung des Radios als Staatsmedium zu beobachten. Seit den Wahlen stiegen die Zuhörerzahlen rasant und inzwischen liegt Radio Maryja in der Zuhörergunst auf Platz 2. Daher fragt der Journalist Makowski zu Recht: „Wie soll man einen Ordensbruder bändigen, der der ungekrönte Vorsitzende der polnischen Kirche ist?“ (Gazeta Wyborcza, 2.1.2006).
Der Episkopat wird dieser Situation nicht wirklich Herr. Während der Ad-limina-Besuche der polnischen Bischöfe im Dezember 2005 bat man um Hilfe von Seiten des Papstes. Der hielt sich aber vorerst zurück – dies sei ein Problem innerhalb der polnischen Kirche und daher von ihr zu lösen. Bei der nächsten Vollversammlung der Bischofskonferenz Ende Januar steht Radio Maryja wieder auf der Tagesordnung. Ein Verbot oder eine Einstellung des Radios werden die Bischöfe weder wollen noch können. Hier hätte der Episkopat viel früher einschreiten müssen, was er aber auch wegen seiner ambivalenten Haltung zum Radio und seinen Inhalten nicht tat. Viele befürchten eher eine Spaltung des Episkopats an dieser Frage. Wenn Radio Maryja immer breitere Bevölkerungsschichten erreichen möchte, besteht die kleine Hoffnung, dass es sich etwas zivilisiert – dies könnte auch der Wunsch der Zwillingsbrüder sein, die wiederum auf Rydzyk großen Einfluss ausüben dürften. Schließlich wäre doch noch ein Eingreifen des Papstes möglich, der vermutlich noch am wirkungsvollsten Rydzyk in seine Schranken weisen könnte.
Aber es werden auch andere christliche Stimmen in Polen lauter. So bietet ein Kreis von Katholiken und Protestanten unter www.ekumenism.pl eine kritische Plattform zu einem innerkonfessionellen und innerkatholischen Dialog. Hier geht es um Fragen, wie sie viele katholische Laienbewegungen in Westeuropa beschäftigen. Durch einen wachsenden Zustrom von Flüchtlingen aus Osteuropa nimmt auch die Zahl der Orthodoxen in Polen zu. Die Zeugen Jehovas haben inzwischen die polnischen Lutheraner mitgliedermäßig überrundet. Somit steht die polnische katholische Kirche 2006 nicht nur vor schwierigen Machtkämpfen im Inneren, sondern muss im Land auf eine immer pluralistischere religiöse Landschaft reagieren.