Kirchenmusik zwischen Sparkurs und KreativitätStreichkonzert mit Dissonanzen

Die kirchliche Finanzmisere verschont auch die „Musik zur Ehre Gottes“ nicht. Immer häufiger wird gefragt, was wir uns musikalisch eigentlich noch leisten wollen und können. Gemeinden sind ähnlich verunsichert wie die Studierenden des Faches Kirchenmusik, die um ihre Berufsaussichten bangen.

Spannungen zwischen Kirche und Musik sind ganz natürlich. Schließlich klingt auch die Saite eines Instruments nur, wenn sie gespannt ist. Ohne Spannung ist ihr kein Ton zu entlocken, wenn man sie jedoch überspannt, dann reißt sie. Ob das Verhältnis Kirche-Musik derzeit uninspiriert-spannungslos, aufmerksam gespannt oder sogar krisenhaft angespannt ist, lässt sich nur schwer sagen. Für jede Diagnose gibt es Beispiele in großer Zahl. Jede Einschätzung hängt immer auch vom Blickwinkel und den Erfahrungen des Befragten ab. Und zudem ist gerade die enorme Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen typisch für die gegenwärtige kirchliche und kirchenmusikalische Situation, was bei Analysen und Rezepten gerne übersehen wird.

Kopfloses Ausgeben und drastisches Sparen liegen dicht beieinander

Greifen wir das negativste Beispiel der letzten Jahre heraus. Die vier Bistümer Aachen, Essen, Köln und Trier sind mit der Gründung einer Hochschule für Kirchenmusik in Aachen gescheitert. Erst nach der aufwändigen Gründung am Cäcilientag des Jahres 2000 will man bemerkt haben, dass dieses kirchliche Institut gar nicht finanzierbar ist. Nun wird die jüngste der drei kirchlichen Hochschulen Regensburg, Rottenburg und Aachen zum 31. März 2007 unwiderruflich geschlossen. Ihr Konzept war eine kirchenmusikalische Ausbildung mit stärkeren pastoralen Schwerpunkten, als dies an den etwa 20 staatlichen Hochschulen, die das Fach Kirchenmusik in Deutschland anbieten, möglich beziehungsweise erwünscht ist. Dass ein solcher Akzent im Gesamtkonzert der hauptberuflichen kirchenmusikalischen Ausbildung sinnvoll ist, hat bis heute niemand bestritten. Jetzt aber hat es den Anschein, dass die Kirche im Blick auf die Musik zum einen konzeptlos agiert und, schlimmer noch, sich nicht an ihr Wort hält. Die Professoren der Aachener Hochschule, die aus sicheren beruflichen Stellen dorthin berufen wurden, müssen sich neue Wirkungsfelder suchen. Der Exodus der Studierenden ist bereits in vollem Gange. Eine Hochschule inszeniert die „Abschiedssinfonie“, weil jeder, der andernorts einen Studienplatz findet, baldmöglichst das Weite suchen muss. Das Beispiel Aachen zeigt, wie eng kopfloses Ausgeben und Einsparen von Geld beieinander liegen. Und dies gilt wohl für sämtliche Sparprozesse. Sie stehen in Gefahr, auf dem Sparkurs auch noch Werte wie Vertrauen und Motivation zu verlieren. Dass die Schließung der Hochschule Aachen die gesamte kirchenmusikalische Landschaft nachhaltig erschüttert hat, kann nicht bezweifelt werden.

Ein weiteres Krisensymptom betrifft eine stattliche Reihe von Diözesen. Ihre über Jahrzehnte aufgebaute hauptberufliche Kirchenmusik befindet sich in ihrer bislang schwersten Krise. Sie ist auf finanzstarke große Gemeinden angewiesen, trifft nun aber auf eine geradezu gegenteilige Situation, die gekennzeichnet ist durch den demographischen Rückgang der Katholikenzahlen bei ohnehin schwachem Gottesdienstbesuch sowie die Zusammenlegung von Pfarreien als strukturelle Konsequenz der gesamten Entwicklung. Kirchenmusiker werden dadurch zwar nicht überflüssig, aber unbezahlbar. In der Diözese Essen, die den Sparkurs derzeit als „Rosskur“ betreibt (vgl. HK, Februar 2006, 86), sind in baldiger Zukunft noch rund 50 hauptamtliche Stellen für Kirchenmusiker nebst einigen zusätzlichen Deputaten gesichert. Deren gegenwärtige Anzahl der berufsqualifizierten Beschäftigten beträgt allerdings mehr als 130. Hier werden wohl auch Kündigungen die Folge der Umstrukturierung sein. Was bis in die jüngste Vergangenheit zu Recht in hohen Tönen gepriesen wurde, nämlich die Professionalisierung der Kirchenmusik, ist in gewissen Spielarten an seine Grenze gekommen. Besser stehen jene Diözesen da, die auf eine gemischte Struktur mit enger wechselseitiger Vernetzung zwischen dem hauptamtlichen, dem nebenamtlichen und dem ehrenamtlichen Bereich gesetzt haben. So gibt es in der Erzdiözese Freiburg rund 35 hauptamtliche Kirchenmusiker und Kirchenmusikerinnen. 16 hauptamtliche Bezirkskantoren sichern mit Unterstützung weiterer Lehrkräfte die Ausbildung und Fortbildung der rund 1000 nebenberuflich Tätigen, die von der jeweiligen Gemeinde als Mitarbeiter auf einheitlicher Honorarbasis eingestellt werden. Der diözesane Auftrag der vollzeitbeschäftigten hauptamtlichen Bezirks- oder Regionalkantoren (der Sprachgebrauch in den Diözesen ist unterschiedlich) beträgt in der Regel 60–70 Prozent, mit den weiteren 30–40 Prozent sind sie an einer Gemeinde tätig. Eine Ersetzung von Hauptamtlichen durch Nebenamtliche ist in dieser schlanken Struktur kaum möglich, weil die Streichung einer hauptamtlichen Stelle zugleich die Ausbildung der Nebenamtlichen gefährdet.

Die kirchenmusikalische C-Ausbildung als musikalisch-pastorales Erfolgsmodell

Nicht vergessen darf man die Ehrenamtlichen als dritte Säule der Kirchenmusik. Viele engagieren sich als Kantorinnen und Kantoren oder in der Leitung von Kinderchören. Etwa 430 000 Mitglieder zählen in den deutschen Diözesen die Chöre unter dem Dach des Allgemeinen Cäcilienverbands (ACV). Hinzu kommen noch die kirchlichen Kinder- und Jugendchöre, deren Mitgliederzahl sich nach Schätzungen auf einige Zehntausend beläuft. Damit dieser ehrenamtliche Bereich nicht wegbricht, ist die Qualifikation der nebenberuflichen Leiter solcher Gruppen entscheidend. Hier hat sich die kirchenmusikalische C-Ausbildung mit großem Erfolg etabliert. Vorwiegend junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren absolvieren diese zwei- bis dreijährige Ausbildung, die zum Dienst als Chorleiter und Organist befähigt und so den kirchenmusikalischen Nachwuchs sichert. Vermittelt werden dabei nicht nur Fähigkeiten und Kenntnisse, sondern auch die Einübung in die Vielfalt der Liturgie auf einwöchigen Intensivkursen zweimal pro Jahr. Inzwischen kommt der größte Teil derer, die mit einem Studium der Kirchenmusik beginnen, aus dem Kreis der C-Absolventen, so dass die C-Ausbildung die vormals volkskirchlichselbstverständliche religiöse Sozialisation teilweise ersetzt. Das mag auch der kirchlichen Berufungspastoral zu denken geben. Offenbar hängt das Interesse an einem kirchlichen Beruf stark mit den Möglichkeiten zusammen, dieses Praxisfeld im Jugendalter umfassend kennen zu lernen. Vorbilder, Gemeinschaftserlebnisse, Forderung und Förderung – all das sind Stichworte, die zur Nachhaltigkeit dieser Ausbildung beitragen. Aber wie könnte eine pastorale C-Ausbildung aussehen? Im kirchenmusikalischen Alltag der meisten Gemeinden scheinen manche Polarisierungen der letzten Jahrzehnte ein Stück weit befriedet, wenn auch noch nicht überwunden. Dass Kirchenchor und Jugendband aufeinander zugehen, ist keine Seltenheit. Vielen ist auch die Problematik allzu einseitiger „Programmgestaltungen“ mit dem Chor als „Feiertags-Monopolisten“ oder dem traditionellen „Orgel-Boykott“ zur Firmung bewusst geworden. Dass das kirchenmusikalische Miteinander im Detail anstrengend und überaus komplex ist, braucht nicht verschwiegen zu werden. Immer ist im Blick zu behalten, dass musikalische Phänomene – auch in der Kirche – grundsätzlich kaum verordnet werden können. Sie müssen sich vielmehr einspielen, wozu es Geduld und Kompetenz braucht, aber auch ein gerüttelt Maß an Experimentierfreude – und eben Geld, wenn langfristig die Qualität stimmen soll. Dass Musik nichts oder wenig kosten darf, ist ein Irrweg, der über kurz oder lang zu Qualitätsverlusten führen muss. Dass aber allein die finanzielle Absicherung bereits künstlerische und liturgische Qualität garantiert, scheint ebenso falsch.

Die Attraktivität von Liturgie hängt eng mit der Musik und ihrer Qualität zusammen. Insofern muss vor allzu einfachen Rechnungen gewarnt werden. Was ein gut ausgebildeter Kirchenmusiker kostet, mag sich errechnen lassen. Nicht zu beziffern ist jedoch, was einer Gemeinde oder Seelsorgeeinheit die Kirchenmusik „bringt“: der Erwachsenenchor als lebendige Gruppe der Pfarrei; ein Kinderchor als integrierter Teil der Jugendarbeit, in dem nicht nur Begegnung mit Musik, sondern auch mit Gemeinschaft, Liturgie und Glaube stattfindet; eine Konzertreihe, die auch spirituell suchende, aber kirchlich distanzierte Menschen anzieht und sinnlich-sinnvoll in Wort und Ton anspricht. Durch den biblischen Auftrag, aber auch aus den genannten Gründen zählt Musik zum derzeit viel beschworenen Kerngeschäft der Kirche. Ohnehin ist die Ästhetik ein vielfach unterschätzter Faktor im kirchlichen Mosaik. Er betrifft grundsätzlich ihre Wahrnehmung. Nicht um eine Kirche für Ästheten geht es, sondern um das Wahrnehmen, wie Kirche sich zeigt und musikalisch von sich hören lässt.

Schlaff ist die anfangs im Bild bemühte Saite, wenn die Chancen der Kirchenmusik gar nicht ergriffen werden. Ohne nun in ein Lamento zu verfallen: Die mögliche Vielfalt wird noch keineswegs ausgeschöpft, und einige interne Spannungsfelder der Kirchenmusik scheinen wenig ausbalanciert. Nachdenklich stimmt, dass im Bereich des professionellen Orgelspiels einerseits die Examensstücke früherer Generationen von jungen Abiturienten heutzutage schon zur Aufnahmeprüfung gespielt werden, andererseits jedoch beim letzten bundesweiten Wettbewerb „Orgelimprovisation in der Liturgie“ (Fulda 2005) wie schon in den Jahren zuvor kein erster Preis vergeben wurde. Im vokalen Bereich wiederum dominiert mancherorts immer noch das Sich-Konzentrieren auf große konzertante Aufgaben, was manche Chöre einerseits attraktiv macht, andererseits der Liturgie teilweise entfremdet. Dies betrifft auch kirchliche Chöre, die ihr Repertoire auf Orchestermessen zu den höchsten Feiertagen eingeengt haben, ansonsten aber kaum präsent sind in der Gemeinde. Wer die Diskussion über Kirchenmusik allein auf den Punkt zuspitzt, ob die Vokalsolisten und das Orchester für die nächste Orchestermesse noch bezahlt werden können, hat eigentlich schon verloren. Sehr wohl gilt es, das Niveau zu erhalten und zu steigern. Jedoch ist das Niveau nicht an eine bestimmte musikalische Gattung geknüpft, sondern eher eine sensible Balance zwischen Ausführenden und Leitung sowie Werk und Liturgie, um nur einige Faktoren zu nennen.

Wie klingt die Kirche nach der Volkskirche?

Nun sind neuerdings die Gemeinden aufgefordert, eigene Schwerpunkte ihrer Aktivitäten zu setzen. Bei einigen hat dieser Prozess bereits begonnen, viele zögern und zaudern noch mit dem Hintergedanken, dass sich vielleicht auch dieses Problem aussitzen lässt. Was Schwerpunktsetzung für die Kirchenmusik heißen kann, wird noch eine spannende Diskussion werden. Eine musikalische Grundsicherung ist vonnöten, weil die Liturgie nicht zur Disposition gestellt werden kann. Dass ein musikalisch und liturgisch ausgebildeter Kirchenmusiker neben- oder hauptamtlich diesen Dienst versieht, muss selbstverständliches Normalbild bleiben. Dahinter gibt es kein Zurück. Etliche Gemeinden haben ohnehin Probleme genug, überhaupt einen qualifizierten Kirchenmusiker zu finden. Was dann nach der volkskirchlichen Epoche mit der Kirchenmusik geschehen wird, ist noch nicht einmal als Zukunftsmusik zu erahnen, sondern schlichtweg unklar.

Stellenanzeigen für „gute“, das heißt mit einem richtigen Etat ausgestattete Stellen sind derzeit rar. Das gefährdet die Berufsaussichten vieler hoch qualifizierter Absolventen des Faches Kirchenmusik und lässt es fraglich erscheinen, ob man einem musikalisch begabten Abiturienten, der sich für die Kirche und ihre Musik interessiert, heute noch zu einem Studium der Kirchenmusik raten kann. Viel ist neuerdings vom „zweiten Standbein“ die Rede, etwa in Form eines parallelen Studiums der Schulmusik „für alle Fälle“. Andererseits muss überlegt werden, welche atmosphärischen Dissonanzen bereits das Klima beherrschen, wenn selbst Hauptverantwortliche sich nicht mehr in der Lage sehen, ein Studium ihres eigenen Faches zu empfehlen. Das Schlimmste, was der Kirchenmusik passieren kann, ist ein Klima der resignativen oder aggressiven Lethargie. Das nämlich vernichtet Inspiration und Kreativität. Leider hat es den Anschein, dass solche Faktoren in den üblich gewordenen Kosten-Nutzen-Rechnungen zu gering veranschlagt werden.

Seit einigen Jahren führen sechs südwestdeutsche Diözesen für angehende Kirchenmusiker eine Berufseinführungsphase durch, die aus zwei Kompaktwochen und einem vierwöchigen Praktikum bei einem Mentor (Bezirkskantor) besteht. Dabei soll der Einblick in den Berufsalltag einhergehen mit der Vermittlung von Kompetenzen, die im Rahmen des Studiums nicht unterrichtet werden können: Gesprächsführung und Kommunikation, Management und Selbstorganisation usw. Viele Kirchenmusiker klagen darüber, dass sie zwar gelernt haben, eine Mozart-Messe gut zu dirigieren, nicht aber, wie man ein Gespräch über den Kirchenmusik-Etat mit dem Stiftungsrat der Gemeinde so führt, dass diese Mozart-Messe überhaupt zustande kommen kann. Wie sich die Kirchenmusik neu sortiert in der gegenwärtigen Umbruchsituation, ist noch kaum abzusehen. Dass eine Profilierung von Tagzeitenliturgie mit Musik oder der konzertantliturgischen Formen letztlich der Eucharistiefeier zugute kommt, weil sie deren Höhepunktcharakter stärkt, spricht sich langsam herum. Praktische Modelle und Erfahrungen hierfür fehlen noch weitgehend.

Die pastoralen Chancen von Kirchenkonzerten hat die im letzten Jahr erschienene Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz „Musik im Kirchenraum außerhalb der Liturgie“ (Nr. 194) deutlich herausgestellt. Dafür gab es großes ökumenisches Lob in der evangelischen Zeitschrift „Musik und Kirche“, aber auch traditionalistisch eingefärbte Fundamentalkritik (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.9.2005 unter der Überschrift „Hirtenmusik“). Wichtig ist, dass ein solches Papier zum Nachdenken anregt und Entscheidungen erleichtert. Die neuerliche Konzertreihe von Ivan Rebroff auch in katholischen Kirchen zeigt, wie nötig das ist. Aus den Pressestimmen sei, pars pro toto, die „Westdeutsche Zeitung“ mit der Überschrift „Bei Kalinka lösten sich alle Hemmungen“ zitiert. Dass in manchen Gemeinden offenbar das Tourismusbüro bei Kirchenkonzerten den Ton angibt, der zuständige Kirchenmusiker aber übergangen wird, ist untragbar. Ähnlich problematisch ist es, wenn die Gestaltung dieses wichtigen Bereichs Künstlern und vor allem deren Agenturen überlassen wird, denen es kaum um musikalische Verkündigung geht.

Neue Formen zwischen Konzert und Gottesdienst

Dabei sind gerade die konzertanten Chancen der Musik im Kirchenraum noch längst nicht ausgeschöpft. Zukunftsträchtig ist ein Akzent auf Formen, die auf der Grenze von Liturgie und Konzert spielen. Die Liturgie gewinnt durch konzertante Musik, darf aber nicht selbst zum Konzert werden. Umgekehrt gewinnen viele Konzerte durch das sensible Einbeziehen gottesdienstlicher Elemente: Rezitation, Einstimmung, Segensworte, geistliche Moderation usw. Dass Menschen und Musiker in ein Konzert hineingehen und nach eigener Einschätzung aus einem Gottesdienst wieder herauszukommen, wird häufig berichtet. Für die Zukunft der Kirchenmusik und ihrer künstlerisch-pastoralen Chancen stimmt das hoffnungsvoll. Orgelmusik und Gesang sind die beiden Pfeiler der Kirchenmusik. Im Unterschied zur Orgel (vgl. HK, Februar 2005, 91 ff.) ist das Singen mit Herz und Mund unmittelbar biblischer Auftrag. Es ist durch nichts ersetzbar und braucht eine große Bandbreite: die liturgische Kantillation des Priesters und Diakons, den Gemeindegesang mit flexiblen und nicht immer auf das Lied fixierten Formen, schließlich auch die konzertante Darbietung großer Vokalwerke. Nicht zu vergessen das Singen mit Kindern, dem neuerdings die Aufmerksamkeit auch des Allgemeinen Cäcilienverbands gilt.

Wer soll das alles leisten? Hier stellt sich die Frage nach dem erneuerten Berufsbild des haupt- und nebenamtlichen Kirchenmusikers. Seine Tätigkeit muss in Richtung der Pastoral geweitet werden, ohne dass die künstlerische Grundlage leidet. Kirchenmusiker üben eine künstlerische Tätigkeit aus, und zwar in pastoralen Kontexten. Die fast archaische Spannung von Kunst und Kult müssen sie nicht nur aushalten, sondern gestalten. Wer dazu Lust und eine gewisse Berufung verspürt, ist geeignet für diesen Beruf. Der vielleicht wichtigste neue Akzent im Berufsbild ist der des „Spielmachers“. Als solcher hat er eine Basis mit gottesdienstlichem (und konzertantem) Orgelspiel sowie regelmäßig probenden und auftretenden Chorgruppen. Das genügt aber nicht mehr, seit sich die Sozialstruktur von Kirche (und Gesellschaft) grundlegend ändert. Welche zusätzlichen Akzente gesetzt werden können, muss sorgsam überlegt werden. Ein motivierendes Gespräch mit den Verantwortlichen der Erstkommunionvorbereitung mit Tipps für das Singen mit den Kindern bei den Gruppenstunden? Ein ad-hoc-Chor oder eine gut angeleitete Jugendband zur Firmung? Ein Wochenende mit einer Bach-Kantate oder Mozart-Messe als offenes Chorprojekt? Ebenso wichtig wie solche Konkretionen ist ein Klima der Offenheit und der Begegnung. In jeder Gemeinde gibt es Menschen, die musikalisch überfordert sind, aber auch solche, die unterfordert sind. Nicht immer kann man beiden gerecht werden. Dennoch sind beide im Blick zu behalten. Was den Gemeindegesang angeht, geht die Arbeit an dem neuen katholischen Gebet- und Gesangbuch GGB (vgl. HK, Januar 2002, 31 ff.) in ihre entscheidende Phase. Probepublikationen sollen im Herbst 2007 in ausgewählte Gemeinden gehen. Welche Gesänge von der Gregorianik bis zum Neuen Geistlichen Lied wir in Zukunft brauchen, ist eine wichtige Frage. Zusätzlich zum Erhalt des Repertoires kann das GGB aber als Chance genutzt werden, das Singen neu ins Spiel zu bringen. Dazu bedarf es alter und neuer Formen vom Kehrvers bis zur chorischen Improvisation. Nötig ist aber auch eine Didaktik des gemeindlichen Singens. Manche Gemeinden müssen nicht nur einige Lieder, sondern auch das gemeinsame Singen neu lernen. Es ist und bleibt ein Kulturgut und eine bisweilen unterschätzte Sprache der Vermittlung des Glaubens. Vieles, was sich verändert in der Kirchenmusik, bleibt vorerst ambivalent. Auch von den Kirchenmusikern hängt es ab, ob die teilweise dramatischen Entwicklungen zum Besseren oder zum Schlechteren führen. Dass die Selbstverständlichkeit vertrauter Strukturen aufhört, gefährdet vieles, eröffnet aber auch Chancen: zur kritischen Bewertung des Überkommenen, zur Profilierung mit gezielten Angeboten. Stärker als in den letzten Jahrzehnten muss die Musik bei der Kirche um Sympathie, Unterstützung und um Geld werben. Dafür hat sie ein unbezahlbares Mittel mit weit reichender Wirkung – nämlich sich selbst.

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