Ergebnisse einer neuen Milieu-Studie zu den Katholiken in DeutschlandAnschlüsse gesucht

Zum ersten Mal wurden durch „Sinus Sociovision“ milieuspezifische Beziehungen und Einstellungen zu Religion und katholischer Kirche in Deutschland erhoben. Die Befragung typischer Milieuvertreter dient der Absicht, neue pastorale Zugangswege und mediale Anschlussmöglichkeiten insbesondere zu denjenigen Milieus zu finden, in denen die Kirche kaum verankert ist.

Im Zuge der „Auflösung der relativ geschlossenen konfessionellen Milieus seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jh.s wird“, so Medard Kehl, „wohl zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums nach der Konstantinischen Wende für die Menschen aller Altersstufen, aller Bildungs- und sozialen Stufender christliche Glaube als eine Sache der persönlichen Freiheit ganz real erlebbar, man muss nicht mehr kirchlich-religiös sein, sei es unter dem Druck der jeweiligen Herrscher oder der Nationalität oder der Tradition oder der Sippe oder des gesellschaftlichen Milieus“ (Welche ,pastorale Strategie‘ braucht die deutsche Kirche heute., in: Hans-Georg Ziebertz [Hg.], Erosion des christlichen Glaubens., Münster 2004, 121–129, hier122 f.). Angesichts einer neuen Sinus-Milieu-Studie wird man sich streiten können, ob diese These, die von einer völligen individuellen Wahlfreiheit in Sachen Religion ausgeht, so ohne weiteres haltbar ist. Sind nicht an die Stelle der alten konfessionellen Milieus spätestens seit den achtziger Jahren neue Milieubildungen getreten, die den Korridor von Optionspaletten zugunsten von gruppenspezifischen Verbindlichkeiten zumindest einschränken. Sind nicht auch die neuen Milieus mitunterschiedlichen sozialen Lagen verknüpft, die wie Filter wirken und jeweils ganz bestimmte Affinitäten zu Werten, abe rauch zur (kirchlichen) Religiosität hervorbringen. Zeigt sich nicht in gewandelter Form immer noch ein recht enger Zusammenhang, der bereits Max Weber in seinen religionshistorischen Studien zu einer Typologie unterschiedlicher Heilsbedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen führte und ihn zum Beispiel von einer zu Magie und Ritualismus geneigten Religiosität der Bauern und von einer zur rationalen Vergeltungsethik tendierenden Religiosität des Handwerkers und Kleinhändlers sprechen ließ, worauf sich der Klerus differenzierend einzustellen hatte?

Nicht Rotlicht-Milieu, sondern Teilkulturen

Das Ergebnis der neuen Milieu-Studie, die die katholische ,Medien-Dienstleistung GmbH“ (MDG: Die Berater) in Zusammenarbeit mit der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle (Hamm) beim Institut Sinus Sociovision, Heidelberg, in Auftrag gegeben hat, liegt nun in einem „Zielgruppen-Handbuch“ als „Milieuhandbuch. ,Religiöse und kirchliche Orientierungen in der Sinus-Milieus 2005‘“ vor (bestellbar unter info@mdg-online.de). Der Ausdruck „Milieu“, der, in Deutschland seit Max Weber nur mit spitzen Fingern angefasst, in der französischen Soziologie eine gewisse Rolle spielte, hat nicht zuletzt durch die Erkenntnisse des Sinus-Instituts seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Renaissance erlebt und wurde zum Schlüsselbegriff einer Forschungstradition, die auf dem Hintergrund der modernen Individualisierungsprozesse an der Erkennbarkeit von sozialen Gesamtheiten festzuhalten sucht und diese sozialen Gesamtheiten auch als kulturelle Einheiten sieht. Unverkennbar hat dabei der Milieubegriff allerdings eine Bedeutungsverschiebung zugunsten einer stärkeren „Subjektivierung“ erfahren. Das heißt, dass die erforschten Haltungen, Einstellungen und Beurteilungen der Subjekte bei der Milieuzuordnung erheblich mitberücksichtigt werden, wobei sich empirisch zeigt, dass diese selbst wieder kollektiven Orientierungsmustern folgen.

Abgestreift wurde damit am „neuen“ Milieubegriff auch eine weitere ältere, nämlich die lokale Komponente des Milieubegriffs (zum Beispiel „Stadtteilmilieu“), die ihm immer noch anhaften konnte. Damit soll freilich der (potenzielle) Sozial- und Lebensraumbezug von „Milieus“ nicht aus dem Blick geraten, werden doch bestimmte Orte und Gebäude zu Treffpunkten ganz bestimmter Milieus, die auch als Schauplätze von Milieu-Inszenierungen dienen. Auch dürften sich die neuen Milieus regional ganz unterschiedlich verteilen, wie dies die Milieuforschung in der Schweiz nahe legt. Mit dem neuen Ausdruck „Milieu“ wird somit nicht einfach „Umwelt“ oder „Umfeld“ gemeint und ist schon gar nicht eine abwertende Bedeutungszuschreibung (beispielsweise im Sinne von „Rotlicht-Milieu“ oder „Dealer-Milieu“) verbunden. Der Begriff zielt vielmehr zunächst auf gesellschaftliche Teilkulturen und deren spezielle Perspektiven auf Gott und die Welt. Der Milieubegriff umfasst somit Kontexte und Zusammenhänge bestimmter Bevölkerungsgruppen, die sich durch ähnliche Lebensbedingungen, Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen, Lebensweisen, Lebensstile und Lebensführungen und eine verstärkte Binnenkommunikation ausweisen.

In die Konstruktion der „Sinus-MilieusR“ gehen, so heißt es auf der Homepage des Heidelberger Instituts (www.sinus-sociovision.de), „zunächst die grundlegenden Wertorientierungen ein, dann die Alltagseinstellungen zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Geld und Konsum und so weiter. So rückt der Mensch ganzheitlich ins Blickfeld, mitdem vollständigen Bezugssystem seiner Lebenswelt. Deshalb bieten die SinusMilieusR Informationen und Entscheidungshilfen, praktischer und genauer als die herkömmlichen Zielgruppenansätze.“ Dabei werde versucht, so heißt es weiter, „die Menschen nicht als Merkmalsträger, nicht als Typen, nicht primär bezogen auf Produkte, sondern als Menschen“ zu sehen, „die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Ähnlichkeiten im Lebensstil können, müssen aber nicht in derselben sozialen Schicht auftreten. An welchen Werten man sich orientiert, was einen interessiert, oder was man schön und hässlich findet, hat in erster Linie mit dem Milieu zu tun, zu dem man gehört.“ Die spezifische Qualität dieses Milieubegriffs ist somit durch die Verschränkung von subjektiven und objektiven Daseinsmomenten bestimmt. Der Zusammenhang zwischen kulturellen und sozialstrukturellen Differenzierungen erscheint damit eng, aber nicht deterministisch. Im Unterschied zu einigen Lifestyle-Typologien mit ihrer Beschreibung von Oberflächenphänomenen beansprucht Sinus-Sociovision „die Tiefenstrukturen“ (5) soziokultureller Differenzierung zu erreichen.

Wie man der graphischen Darstellung der Milieulandschaft entnehmen kann, die zusammen mit recht detaillierten Beschreibungen der einzelnen Milieus – bis in deren Wohnzimmereinrichtungen hinein – ebenfalls auf der oben genannten Homepage zu finden ist, werden die Sinus-Milieus sowohl nach ihren jeweiligen Wertorientierungen (horizontale Gliederung: A, B, C) als auch nach ihrer Position im sozialen Raum (vertikale Gliederung nach sozialem Status 1, 2, 3) angeordnet. Je höher ein Milieu in dieser Milieukarte angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Beruf; je weiter rechts das Milieu positioniert ist, desto ,(post)moderner‘, ichverankerter und experimentierfreudiger ist die Grundorientierung. Die Grenzen zwischen einzelnen – benachbarten – Milieus, die Sinus-Sociovision auch als „soziokulturelle Gravitationszentren“ (7) charakterisiert, sind entsprechend einer gewissen Unschärferelation der Alltagswirklichkeit fließend; zwischen einigen Milieus gibt es deshalb gewisse Berührungspunkte und Übergänge (auch diese Überlappungspotenziale veranschaulicht die Graphik).

Die inzwischen insgesamt zehn Einzelmilieus, die Sinus-Sociovision auf der Basis von mehreren repräsentativen Befragungen für unterschiedliche Auftraggeber aus Ökonomie, Politik, Medien und Bildung erforscht, verändern sich hinsichtlich ihrer Bevölkerungsanteile (Prozentzahlen für 2005) von Jahr zu Jahr. Sinus-Sociovision gilt als das Forschungsinstitut, das sich im Blick auf die Milieulandschaft konsequent auch ihren verlaufsbezogenen Abwandlungen widmet. Dabei zeigt sich, dass es sinnvoll ist, die Milieus, deren Namen nur illustrativ gemeint sind, wieder zu vier größeren Segmenten zu gruppieren. Im Einzelnen sind dies: die so genannten gesellschaftlichen Leitmilieus (hierzu zählen die arriviert „Etablierten“, die „Postmateriellen“ und die „Modernen Performer“), die Mainstream-Milieus (hierzu gehören die „Bürgerliche Mitte“ und die „Konsum-Materialisten“), die traditionellen Milieus (mit den Untergruppen der bildungsbürgerlichen „Konservativen“, der „Traditionsverwurzelten“, der „DDR-Nostalgischen“) und schließlich die unkonventionellen, jungen hedonistischen Milieus (mit den „Experimentalisten“ und den „Hedonisten“).

Milieubausteine – Milieuporträts

Von Jahr zu Jahr kann Sinus-Sociovision Updates der Milieu-Landschaft vornehmen und die Charakterisierung der Milieus durch neue Milieubausteine ergänzen. So konnte zum Beispiel auch mit einer Studie von Heiner Barz und Rudolf Tippelt (Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland, 2 Bände, Bielefeld 2004) auf der Basis einer deutschlandweiten Erhebung Aussagen zum Milieubaustein „Weiterbildung“ ergänzt werden, womit nun allen Weiterbildungsanbietern wichtige Informationen zur zielgruppengenauen Ausrichtung ihrer Bildungsangebote aus der Sicht von Adressaten und potenziell Teilnehmenden vorliegen. Die Milieuprofile unterscheiden sich nach prägenden Bildungserfahrungen in Kindheit und Jugend, den Bildungsvorstellungen, den Weiterbildungsinteressen und -barrieren, nach den typischen Ansprüchen an Methode und Ambiente, dem Persönlichkeitsverständnis, dem Gesundheitsbewusstsein und -verhalten, den gesuchten Schlüsselkompetenzen und dem Image des Anbieters. Die neue Sinus-Milieustudie der MDG und der KSA ergänzt die Milieubeschreibungen nun um weitere, für die katholische Kirche höchstrelevante Milieubausteine und beansprucht damit, die „für ein modernes Kirchenmarketing benötigten Informationen“ und „praktische Hinweise für eine effiziente Ansprache und einen erfolgreichen Umgang mit den verschiedenen Zielgruppen“ zu liefern. Basis hierfür sind zwischen März und Juli 2005 durchgeführte qualitative Einzel- und Gruppeninterviews mit rund 170 überwiegend „katholisch Getauften“ und weiteren Personen, die für die katholische Kirche als „grundsätzlich erreichbar“ (8) galten. Bei der Ziehung der Stichprobe galt es, „milieutypische Fälle“ zu gewinnen, also milieuadäquate Repräsentanz zu erreichen, freilich nicht statistische Repräsentativität. Darauf kam es auch gar nicht an, zumal zahlreiche Befunde aus der Sinus-Grundlagenforschung (zum Beispiel über die demografische Verteilung, den Lebensstil, das Freizeitverhalten, die Alltagsästhetik und die Mediennutzung der Milieus), die auch in der vorliegenden Studie angeführt werden, auf repräsentative Untersuchungen zurückgehen.

Zwar bleiben einige methodische Grundlagen der Sinus-Forschung weitgehend im – wohl auch ökonomisch interessierten – Dunkeln, entziehen sich damit der wissenschaftlichen Überprüfung und führen deshalb auch in der Fachöffentlichkeit zu der einen oder anderen Debatte. Dennoch findet die Sinus-Forschung nicht nur wegen ihrer Dauerbeobachtung soziokultureller Milieus hohe Aufmerksamkeit in der Soziologie, sondern auch wegen ihres vergleichsweise „detailgenaueren Blicks“ (Thomas Müller-Schneider) auf eine Wirklichkeit, die in Deutschland seit den neunziger Jahren trotz gewisser Variationen und Innovationen von Lebensstilen und Milieus eine äußerst stabile Grundarchitektur im Milieugefüge aufweist. Auch sollte die in der vorliegenden Studie zu Tage tretende Sprache des Marketings (es gibt auch ein Marketing für den Non-Profit-Bereich!) die pastoral-medial Verantwortlichen in der Kirche nicht davor abhalten, die neu gewonnenen Milieu-Bausteine aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen und mit ihnen zunächst einmal – vor allen praxeologischen Schlussfolgerungen und pragmatischen Aktionismen – die Wahrnehmung der unterschiedlichen Milieulogik zu schulen, einschließlich des Milieumusters, dem man selbst folgt. Dann gehen einem in der Tat die Augen auf und man beginnt zu verstehen, weshalb dieses oder jenes (kirchliche) „Angebot“ bei diesen oder jenen auf „Nachfrage“ stößt und anderes nicht.

Man beginnt zu fragen, ob und inwieweit in kirchlichen Einrichtungen und Organisationen Milieubarrieren wirksam sind, die dadurch selektiv wirken und auch Ressentiments hervorrufen, dass ganz bestimmte Milieumerkmale prämiert werden; dass die kirchlichen Gelder asymmetrisch auf die Milieus verteilt sind. Vielleicht wird man auch erkennen, dass als „persönlich“ eingeschätzte Konflikte und Dialogprobleme häufig Milieukonflikte sind. Gehören nicht die meisten pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in ihrer Arbeit vorwiegend mit Menschen der „Traditionsverwurzelten“ und der „Bürgerlichen Mitte“ konfrontiert sind, dem Milieu der „Postmateriellen“ an?

Die Kirche ist vor allem in drei Milieus verankert

Für jedes der zehn Milieus verfügt die nun vorliegende Sinus-Studie über ein klares Porträt. Milieu für Milieu werden die neu erhobenen Bausteine zum „Lebenssinn“, zur „Weltanschauung“, zu „Religion und Kirche“, zur „Nutzung und Bedeutung der Bibel“, zum jeweiligen „Image der katholischen Kirche“, zu den „Wünschen und Forderungen an die Kirche“ zusammengetragen. Dabei kommen auch milieuspezifische Kirchenbilder zu Tage und es zeigt sich, dass die römisch-katholische Kirche in Deutschland im wesentlichen in drei (auch noch schrumpfenden) Milieus (bei den „Traditionsverwurzelten“, den „Konservativen“ und einem Teil der „Bürgerlichen Mitte“) verankert ist und „erhebliche Image- und Kommunikationsprobleme in den Milieus der Grundorientierungen B und C hat“ (14). Die „Konservativen“ als die Repräsentanten des alten Bildungsbürgertums sehen in ihr die Hüterin des Abendlandes und einen Garanten ihres eigenen Status, obwohl sie sich selbst nur selten unter den Gottesdienstbesuchern in der lokalen Pfarrgemeinde finden lassen. Diese werden quantitativ am stärksten vom Milieu der sozial weniger gut positionierten „Traditionsverwurzelten“ beschickt, also vom heutigen Kleinbürgertum, das auch Träger der traditionellen Volksfrömmigkeit ist. Das Milieu der „Bürgerlichen Mitte“ ist auch nicht jeden Sonntag kirchlich präsent, aber fragt in seinem kindzentrierten Familialismus immerhin punktuell einschlägige rituelle und karitative Angebote der Kirche nach. Doch dieses Milieu bereits hat zur Kirche ein zwiespältiges Verhältnis; einerseits schätzt man die Pfarrgemeinde als familiären Nah-Raum, erlebt aber andererseits die Kirche als reformunwillig. Insbesondere in den Milieus rechts auf der Sinus-Milieu-Landkarte, das heißt vor allem bei den jüngeren Generationen, die unter den dort platzierten Milieus (den „Modernen Performern“, den „Hedonisten“, den „Experimentalisten“) die höchsten Anteile stellen, scheint die Kirche den Anschluss verloren zu haben.

Dabei ist die junge Leistungselite der „Modernen Performer“ gegenüber spirituellen Themen nicht unaufgeschlossen, allerdings nicht für die Art und Weise, wie deren Kommunikation in der Kirche erlebt wird. Für sie ist Kirche eine „virtuelle Basisstation“ neben anderen, die man sich selbstaktiv erschlossen hat. Ähnliches gilt für die extrem individualistische neue Bohème der „Experimentalisten“, die für die mystische Tradition des Christentums aufgeschlossen sein dürfte und sich die „Kirche als einen Zugang für exotische Grenz- und Sinnerfahrungen“ wünscht. Das jüngere Mittel- und Unterschichten-Milieu der „Hedonisten“, dem die Kirche oft als eine Lust- und Spielverderberin erscheint, hat andererseits ein Bild von „Kirche als Hilfe für existenzielle Lösungen und Neuorientierungen“. Die Vorstellung von Kirche als einem sozialpastoralen Projekt ist am stärksten im Milieu der „Postmateriellen“ verbreitet, wo auch die Anhängerschaft der Kirchenvolksbewegung und von „Publik Forum“ vermutet wird. Nicht nur die Kirchenbilder, sondern auch die Gottesbilder, ja die „religiösen Gesichter“ der sozialen Milieus überhaupt erhalten in der vorliegenden Sinus-Studie Kontur.

Pastoral der Fremdheit?

Trotz gewisser „Berührungspunkte und Übergänge“ zwischen einigen Milieus wegen „realer Unschärfen in unserer Gesellschaft“ geht Sinus-Sociovision davon aus, dass die Milieus „in vielen Hinsichten einander fremd bleiben“ und „ein wirkliches wechselseitiges Verstehen zwischen Menschen aus verschiedenen Milieus (...) nicht oder nur begrenzt möglich“ (7) ist. Diese für die katholische Publizistik und Pastoral elektrisierende und folgenreiche These wird in der vorliegenden Studie leider nur behauptet, theoretisch schwach begründet und nicht wirklich überprüft, obwohl die Plausibilität für diese Aussage bei der Lektüre der Milieuporträts erheblich wächst. Dennoch bedürfte sie einer eigenen empirischen Untersuchung, ist sie doch für die Kirche von Höchstrelevanz. Wieder eine andere, aber damit zusammenhängende Frage ist, ob der Milieubegriff nicht selbst seiner Rezeption und der mit ihm transportierten empirischen Befunde im Wege steht, lässt er doch leicht Assoziationen zu, die nur an Äußerliches – die „Verpackung“, das „Umfeld“ – denken lassen, ohne das „eigentliche“ Menschsein, worauf sich doch gerade die Pastoral beziehe, zu erreichen. Wenn nicht alles täuscht, erhellt die so genannte „Milieu“-Forschung gerade nicht (nur) „Äußerliches“ und Kontingentes, sondern sozial gelernte und damit verinnerlichte Dispositionen und Schemata, die als Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungshabitus mit anderen Menschen ähnlicher sozialer Lage geteilt werden und als tatsächliche Sozialnatur des Menschseins pastoral nicht übersehen werden dürfen.

Ein Marketing für Mercedes hat es im Vergleich zur Kirche leicht, muss und will doch dieses Wirtschaftsunternehmen – wie auch andere – nicht in allen soziokulturellen Milieus präsent sein. Was aber ist mit dem „Unternehmen“, das „den leuchtenden Morgenstern“ für alle Milieus zu verkündigen hat? Ist die Universalität der frohen Botschaft in Uniformität zu kommunizieren oder gerade differentiell – milieuspezifisch? Muss der pastorale Zugang zu den „Modernen Performern“ nicht ein anderer sein als zu den „Traditionsverwurzelten“ (und umgekehrt)? Will Kirche Profil zeigen, was ihr ja immer wieder angeraten wird, gewinnt sie an Attraktivität, aber nur in einigen Milieusegmenten, während sie in anderen verliert. Kann und soll sie ihr Profil ausdifferenzieren, diversifizieren, ohne – paradox formuliert – an Profil zu verlieren? Ob und inwiefern die durch die Empfehlungen der Sinus-Studie nahe gelegten differentiellen Zugangschancen kirchlicherseits realisiert werden, ist eine andere Frage und kann hier nicht hinreichend thematisiert werden.

Dass der faktische Zustand nicht die Norm sein kann, versteht sich von selbst, sollte aber gegenüber den sozialen Realitäten weder zu Blindheitsverabredungen unter Theologen verleiten noch dazu, die liturgisch zu vermittelnde göttliche Gnade und die Verkündigung des Evangeliums, also die Pastoral, ohne die soziale Natur der Menschen zu denken. Auch wäre zu bedenken, dass solche Fragen auf unterschiedlichen Ebenen der Kirche als „Organisation von Organisationen“ (Andreas Heller) durchaus differenziert zu beantworten sind. Für einen katholischen Verband wird die strategische Antwort anders aussehen als für einen katholischen Verlag oder für eine kirchliche Bildungseinrichtung, für eine Einrichtung der organisierten Caritas, für die Pfarrgemeinden und die neuen pastoralen Räume. Einige Milieus scheinen zum Beispiel dauerhaft in den pfarrgemeindlichen Orten ansprechbar (Milieu A23), andere nur unter bestimmten – zum Beispiel sozial- oder ökopastoralen – Voraussetzungen (Milieu B12), wieder andere nur situativ (Milieu B2) oder nur beziehungsweise am ehesten an anderen kirchlichen Orten. Einige Milieus scheinen dauerhaft eher communialisierbar, die Mehrheit der Milieus neigt allenfalls zu einer punktuellen, kundenähnlichen Beziehung zur Kirche.

Neue Formen der Kommunikation der Frohen Botschaft erschließen

Soll die Kirche der darin zum Ausdruck kommenden Tendenz zum Dienstleistungsbetrieb folgen oder kontrafaktisch auf Gemeinschaft pochen? Wenn es zwischen den Milieus erhebliche Kommunikationsschwellen und Communio-Schwellen gibt und somit die Unwahrscheinlichkeit wächst, alle Milieus gewissermaßen auf einer Ebene – etwa der Interaktionsebene der Pfarrgemeinde – vereinen oder über ein Kommunikationsmedium – etwa die Bistumszeitung – erreichen zu können, läge eine entscheidende pastorale und kirchenpublizistische Herausforderung darin, neue Orte und Gelegenheiten der Kommunikation der Frohen Botschaft zu erschließen und die Communio der Kirche komplexer zu gestalten. Pastoraltheologische Anpassung scheint angesagt. Der hier bewusst gewählte Begriff der Anpassung, den die Texte des Zweiten Vatikanums mehr als fünfzigmal verwenden (zwar in semantischen Varianten, aber durchgehend positiv), meint ja nicht Konformismus, Außenlenkung, Opportunismus, Anbiederung usw. Dies ist auch mit dem theologischen Begriff der Anpassung des Zweiten Vatikanums (und des Kirchenrechts!) nicht gemeint. Von einer solchen schwachen oder „passiven Anpassung“, wozu übrigens einige kirchliche Bereiche gleichwohl neigen, ist die „aktive Anpassung“ zu unterscheiden.

Diese sucht kommunikative Anschlussfähigkeit, ohne ihr Proprium preiszugeben; sucht kommunikative Gestaltung, um vorgefundene Lebenswelten und Lebensformen (= Milieus) auch zu interpretieren, neu- und umzuinterpretieren, zu verändern und neu zu gestalten, freilich immer nur als einladendes ,Angebot‘ und als Chance zum eigenen Lernen und Umlernen. Was das Dekret des Zweiten Vatikanums über die Missionstätigkeit der Kirche (Ad Gentes 22) bei den „verschiedenen Völkerfamilien“ sagt, könnte auch auf die „innere Mission“ bei den verschiedenen „Milieustämmen“ moderner Gesellschaften bezogen werden: „Wenn man so vorangeht, wird jeder Anschein von Synkretismus und falschem Partikularismus ausgeschlossen; das christliche Leben wird dem Geist und der Eigenart einer jeden Kultur angepasst; die besonderen Traditionen, zusammen mit den vom Evangelium erleuchteten Gaben der verschiedenen Völkerfamilien, werden in die katholische Einheit hineingenommen.“ Wer das „missionarisch Kirche sein in der Welt von heute“ ernst nimmt, könnte mit Hilfe der neuen Sinus-Studie Ernst machen.

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