HK: Herr Professor Pollack, Medienprominenz feiert öffentlich ihre religiöse Konversion, Intellektuelle zelebrieren ihre Faszination durch Religion. Literaturzeitschriften machen Sonderhefte zum Thema, angesichts einer Fülle einschlägiger Publikationen. Hunderttausende haben auch hierzulande mit großer Anteilnahme den Pontifikatswechsel verfolgt. Legt all dies nicht doch die Rede von einer Renaissance der Religion nahe?
Pollack: Was die öffentliche Aufmerksamkeit für Religion und religiöse Fragen betrifft, hat sich wirklich etwas verändert. Unbestreitbar spielt Religion heute in der Medienberichterstattung eine größere Rolle als noch vor zehn Jahren. Diese öffentliche, mediale Präsenz von Religion ist aber zu unterscheiden von der alltagspraktischen Bedeutung von Religion, der Bedeutung von religiösen Praktiken und Überzeugungen für die Lebensführung des Einzelnen. Hier lässt sich, soweit repräsentative Befragungen darüber Auskunft geben können, keine Trendumkehr feststellen.
HK: Was steckt hinter dem verstärkten Medieninteresse am Thema Religion. War, wie oft behauptet wird, wirklich de r11. September 2001 ein Wende- oder Ausgangspunk?.
Pollack: Es spielen mehrere Aspekte eine Rolle. Offensichtlich wird Religion vor allem seit dem 11. September sehr stark als politisch relevantes Phänomen wahrgenommen. Zunehmendtritt das Konfliktive im Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen religiösen Hintergrunds ins Bewusstsein. Auch innerhalb der europäischen Gesellschaften wird immer klarer, dass dieses Zusammenleben neu geregelt werden muss. Viele fürchten, dass mit der wachsenden Vielfalt von Religionsgemeinschaften in Europa auch das Konfliktpotential wächst.
„Gerade gegenüber dem Islam insistieren die Deutschen auf der Säkularität von Staat und Politik”
HK: Fühlt man sich hierzulande wirklich etwa durch eine wachsende Zahl von Muslimen bedroht?
Pollack: Ich habe im März diesen Jahres eine Befragung durchgeführt, und es waren immerhin 70 Prozent der Deutschen in Ost und West, die meinten, dass die zunehmende Vielfalt von religiösen Gruppierungen in Deutschland eine Ursache für Konflikte sei. 43 Prozent glaubten, unser Land sei durch fremde Kulturen beziehungsweise Nationen bedroht. Dieses Bedrohungsgefühl bildet sicherlich einen Hintergrund für die gewachsene mediale Aufmerksamkeit für Religion.
HK: Und jenseits dieses Bedrohungsszenarios – kann beispielsweise die Konfrontation mit dem so schwer zu verstehenden Islam nicht auch zu neuem Interesse für die eigenen religiösen Quellen und Traditionen führen?
Pollack: In der vorletzten Shell-Jugendstudie wurden junge Muslime in die Untersuchung miteinbezogen. Dabei wurde auch die Frage gestellt, ob das Zusammenleben mit den religiös mehr engagierten Muslimen einen Verstärkungseffekt auf die Religiosität der christlichen Jugendlichen in Deutschland hat. Ein solcher Effekt ließ sich jedoch nicht nachweisen. Das Desinteresse an Religion unter den Jugendlichen ist offenbar so stark, dass solche Effekte, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind, relativ schwach ausfallen. Es gibt allerdings Religionssoziologen, die davon ausgehen, dass sich in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen in Deutschland und überhaupt in Europa ein stärkeres Bewusstsein der eigenen Identität herausbildet. Sie sprechen von cultural defence, um solche Effekte zu beschreiben.
HK: So wie die öffentliche, mediale Auseinandersetzung mit dem Islam in Deutschland derzeit läuft, lässt sich dies aber kaum erkennen ...
Pollack: Gerade gegenüber dem Islam insistiert die Mehrheit der Deutschen auf die Säkularität von Staat, Recht und Politik. Die Mehrheit spricht sich für eine Trennung von Religion und Politik, aber auch von Religion und Wissenschaft aus und sieht in der Vermischung dieser Bereiche eine Gefährdung der säkularen Grundlagen unserer Gesellschaft. Wenn man dies als cultural defence bezeichnen will, dann handelt es sich dabei auf jeden Fall gerade um den Versuch einer Begrenzung des religiösen Einflusses auf andere gesellschaftliche Bereiche.
HK: Gerade aber wenn man den Medienhype zu verstehen sucht, den der Pontifikatswechsel im letzten Jahr auch in Deutschland ausgelöst hat, oder die offenkundige Begeisterung der Medien für den Weltjugendtag, scheint das Interesse an Religion doch über deren Konfliktpotenzial hinauszureichen.
Pollack: Das Fremdartige, Bunte, Außergewöhnliche dieser religiösen Zeremonien, Kulte und Zusammenkünfte zieht an. Wenn die Funktion der Massenmedien darin besteht, dem Publikum das Unbekannte bekannt zu machen, dann löst die beachtliche massenmediale Aufmerksamkeit für diese religiösen Feste und Rituale keine so große Überraschung aus. Bilder von den bunten Soutanen römischer Kardinäle sind nicht weniger eindrucksvoll als die Ballkleider von Gloria von Thurn und Taxis.
HK: Müssen Zeitungen und Rundfunkanstalten nicht aber auch mit einem bestimmten Interesse ihrer Kundschaft gerechnet haben?
Pollack: In der Tat, das Interesse an religiösen Phänomenen wie Spiritualität, Esoterik, Astrologie oder auch der historischen Person Jesu Christi scheint relativ hoch zu sein. Es lohnt sich, darüber zu berichten. Das heißt aber noch nicht, dass die Menschen auch wieder stärker an religiöse Vorstellungen glauben und der Religion für ihr persönliches Leben eine höhere Bedeutung zuschreiben. Die Indikatoren für eine alltagspraktisch gelebte Religiosität gehen seit Jahrzehnten zurück.
HK: Werden Indizien gesammelt, um die vermeintliche Renaissance der Religion zu belegen, fehlt selten der Verweis auf Bundespräsident Horst Köhler, der seine erste Ansprache endete mit „Gott schütze dieses Land”. Niemand nahm seinerzeit Anstoß, im Gegenteil. Das passt in eine Landschaft, in der Politiker aller Couleur und so genannte Meinungsführer fast schon penetrant die Rückbesinnung auf „Werte” fordern. Gibt es auch im politischen Raum eine neue Affinität zur Religion?
Pollack: Das bleibt natürlich alles ziemlich diffus. Wahrzunehmen aber ist ein bemerkenswerter Zusammenhang: Auf der einen Seite stoßen alle politischen und wirtschaftlichen Reformbemühungen trotz bester Absichten immer wieder auf eng definierte Grenzen und bleiben große Probleme der Gesellschaft, allen voran das Problem der Massenarbeitslosigkeit, ungelöst. Auf der anderen Seite nehmen angesichts der erfahrbaren Grenzen der politischen Gestaltbarkeit unserer Gesellschaft die Rufe nach einer Rückbesinnung auf Werte zu, fast als hätte man den Glauben an die Veränderbarkeit der Gesellschaft aufgegeben und setzt nun stattdessen auf den guten Willen der Menschen selbst.
„Die Kritik an der Säkularisierungsthese ist heute zu einem Gemeinplatz geworden”
HK: Mit dieser neuerlichen öffentlichen Aufmerksamkeit, der partiellen Sympathie für Religion nehmen im Feuilleton die Seitenhiebe gegen die unverbesserlichen Anhänger der so genannten Säkularisierungstheorie zu – solche also, die immer noch hartnäckig an den fortschreitenden Bedeutungsverlust von Religion in unserer Gesellschaft glauben. Damit sind auch Sie gemeint. Fühlen Sie sich unverstanden?
Pollack: Die Kritik an der Säkularisierungsthese setzte bereits in den neunziger Jahren ein, ja es gibt sie seit den siebziger Jahren, als die Intellektuellen skeptisch gegenüber den Versprechungen der Moderne wurden. Hätten die Kritiker Recht, dann müssten wir inzwischen in einer Gesellschaft, die voll von Religion ist, leben. Heute ist die Kritik an der Säkularisierungsthese genauso zu einem Gemeinplatz geworden, wie es vor 40 Jahren selbstverständlich war, ihr zu vertrauen.
HK: Wie lautet der Hauptanklagepunkt?
Pollack: Sie sei einlinig, behaupte einen klaren Abwärtstrend ohne Gegenbewegungen, und sie sei deterministisch, weil sie annehme, dass Modernisierung zwangsläufig zur Säkularisierung führe. Neuere Vertreter der Säkularisierungstheorie gehen jedoch keineswegs davon aus, dass Modernisierung immer und notwendig Säkularisierung befördert. Gerade in frühen Phasen der Modernisierung gehen Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse oft mit einem Aufschwung von Religion einher. Und dass irgendetwas im sozialen Leben unvermeidlich sei, behauptet heutzutage niemand mehr. Wenn man dies der Säkularisierungsthese dennoch anlastet, dann offenbar deshalb, weil es sich gegen einen solchen Pappkameraden leichter argumentieren lässt.
HK: Lassen sich die derzeit so viel diskutierten Phänomene neuerlicher Aufmerksamkeit für Religion einpassen in die verschiedenen Säkularisierungstheorien, die im Übrigen ja nicht ganz so homogen sind, wie ihre Kritiker behaupten?
Pollack: Dass Religion zum Medium der Austragung politischer Konflikte wird, lässt sich modernisierungstheoretisch sehr gut erklären. In diesen Fällen ist die typisch moderne Differenzierung von Religion und Politik noch nicht so weit vorangeschritten, so dass sie politisch aufgeladen werden kann. Aber auch für das Interesse an den seichten Formen moderner Religiosität stellt die Säkularisierungstheorie einen Erklärungsansatz bereit: In dem Maße wie mit der Modernisierung der Gesellschaft das Wohlstandsniveau wächst, können sich Menschen von Problemen der materiellen Existenzsicherung ab- und Fragen der Selbstverwirklichung, der Sinnsuche, des well-being, der Körperpflege und so weiter zuwenden. Das zunehmende Interesse an Religion und die höhere mediale Aufmerksamkeit für sie ist nicht nur ein Ausdruck der vormodernen Vermischung von Religion und Politik, sondern auch ein Ausdruck gewachsenen Wohlbefindens.
HK: Wie ist das mit den USA? Ein fragloser moderner Staat, und doch spielt Religion – Stichwort „moral majority” – im politischen und vorpolitischen Raum eine große Rolle.
Pollack: Das hohe Religiositätsniveau in den USA hat mit einer Vielzahl von Faktoren zu tun: einmal mit der schärferen Trennung von Kirche und Staat, die es ausschließt, dass die Kirchen in den USA als Herrschaftsinstitutionen wahrgenommen werden, von denen man sich abzugrenzen hat, dann mit der weniger theologie- und religionskritischen Ausrichtung der Aufklärung, weiterhin mit einem höheren Grad an sozialer Ungleichheit und existentieller Unsicherheit, die einen höheren Bedarf an religiösen Kontingenzbewältigungsformen produzieren, dann mit dem schwachen Ausbau des Sozialstaats, dessen Defizite durch religiöse Hilfsorganisationen kompensiert werden müssen und schließlich mit der höheren Autonomie der einzelnen Gemeinden und dem höheren Freiwilligenengagement auf Gemeindeebene, um hier nur einiges zu nennen. Die Vitalität von Kirchen und Religionsgemeinschaften in den USA ist nicht unbedingt ein Gegenargument gegen die Säkularisierungsthese, da sie sich aus den genannten und anderen Faktoren erklären lässt.
HK: Ist aber nicht doch anzunehmen, dass im Rahmen der vielbeschriebenen globalen Revitalisierung von Religion es auch in Westeuropa zu einer Trendumkehr in Sachen Religion kommt?
Pollack: Dazu liegen ausreichend Zahlen vor, und diese sprechen dagegen. Wenn man die Entwicklung über den Zeitraum der letzten dreißig oder vierzig Jahre betrachtet, ist der Trend eindeutig: die Kirchenzugehörigkeit nimmt ab, die Zahl der Konfessionslosen nimmt überall zu. Die Beteiligung am kirchlichen Leben wird deutlich geringer, mit kleinen Ausnahmen, etwa was in Deutschland den Besuch des Weihnachtsgottesdienstes angeht.
HK: Das betrifft alles sozusagen institutionalisierte Religion. Sieht es jenseits der Kirchen im Bereich der individuellen Religiosität nicht doch anders aus?
Pollack: Auch der Glaube an Gott als einer Form individueller Religiosität oder die Bereitschaft, sich als religiös zu definieren, sind seit Jahrzehnten in allen europäischen Ländern rückläufig. Es gibt einige gegenläufige Tendenzen, die nicht übersehen werden dürfen: etwa den Glauben an ein Leben nach dem Tode betreffend oder den ganzen Bereich von Okkultismus, Spiritualität, Esoterik, Astrologie. All das, was wir unter außerkirchlicher Religiosität fassen können, nimmt seit den siebziger Jahren nach wie vor leicht zu. Aber die Zahlen bleiben klein. In Westdeutschland sagen etwa zwischen 60 Prozent und 70 Prozent, dass sie an Gott oder an eine höhere Macht glauben. Wenn man fragt, wie viele beispielsweise Erfahrungen mit Zen-Meditation, New Age, Anthroposophie, Okkultismus oder Reinkarnation gemacht haben, bleiben die Zahlen unter zehn Prozent.
HK: Das Medieninteresse an solchen religiösen Formen ist heute deutlich abgeebbt....
Pollack: Vor zehn oder fünfzehn Jahren war dieses noch sehr ausgeprägt. Heute wird darüber nicht mehr viel geredet. Allerdings hat sich das Interesse der Medien deshalb nicht etwa auf die religiöse Alltagspraxis in Kirchen und Gemeinden verschoben. Es sind nur die außergewöhnlichen Ereignisse wie der Weltjugendtag in Köln oder der Pontifikatswechsel, die Aufmerksamkeit erzielen.
„Dass die Kirchen an Bedeutung verloren haben, hängt nicht mit eigenem Handeln zusammen”
HK: Gerade aber im letzten Jahr gab es auch einige Stimmen in beiden Kirchen, die mit der neuerlichen Aufmerksamkeit der Medien für Religion auch den Wind für die eigene Sache haben drehen sehen. Können die Kirchen denn gar nicht profitieren?
Pollack: Über viele Jahre hinweg hatten die Kirchen, wenn sie über sich reflektierten, vor allem ihre Krise im Blick. Insofern stellt es durchaus einen Schritt zur realistischeren Selbstwahrnehmung dar, wenn man in den Kirchen auch die positiven Seiten des kirchlichen Lebens sieht, das Bedürfnis der Menschen nach Religion, die Nachfrage nach kirchlichen Serviceleistungen. Zugleich täuscht man sich aber meines Erachtens, wenn man das höhere Medieninteresse an Religion für einen religiösen Aufschwung hält. Die höhere öffentliche Aufmerksamkeit für Religion und ihr politisches Konfliktpotential heißt ja noch nicht, dass sich auch die religiöse Praxis der Menschen verändert hat. Eine ungenaue Selbstwahrnehmung trägt aber weder zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Kirchen bei noch zu einer höheren Akzeptanz der Kirchen in der Gesellschaft. Im Gegenteil. Allzu triumphale Töne dürften die Entfremdung der Menschen von der Kirche eher verstärken.
HK: Unter dem Stichwort „Selbstsäkularisierung” geht die innerkirchliche Diskussion ja noch weiter.
Pollack: Ich finde die These von der Selbstsäkularisierung der Kirchen nur sehr beschränkt plausibel. Sie suggeriert, dass die Kirchen am Verlust ihrer Mitglieder, am Rückgang des Gottesdienstbesuchs und der Schwächung der Bindung ihrer Mitglieder letztendlich selbst schuld gewesen sind und mit etwas mehr Optimismus und Selbstbewusstsein den Prozess der Entkirchlichung hätten aufhalten können. Richtig ist gewiss, dass eine ausschließlich negative Beschreibung der eigenen Wirklichkeit sich zur selbsterfüllenden Prophezeiung verkehren kann und die negativen Tendenzen noch verstärkt. Aber dass die Kirchen an Bedeutung verloren haben, hängt doch vorrangig nicht mit ihrem eigenen Handeln zusammen, sondern mit säkularen Trends wie Pluralisierung, Individualisierung, Anhebung des Wohlstandniveaus, kultureller Horizonterweiterung, denen die Kirche ausgesetzt war, ohne dass sie ihre Folgen kontrollieren konnte.
HK: Haben die Kirchen viel weniger Verantwortung für ihre Lage als im Begriff der Selbstsäkularisierung mitschwingt?
Pollack: Allerdings. Die kirchlichen Handlungsmöglichkeiten sind stark von kontextualen Bedingungen bestimmt, die die Selbstorganisationsfähigkeit der Kirche in hohem Maße einschränken. So können wir beobachten, dass sich die Zahlen der Kirchenaustritte aus der katholischen und der evangelischen Kirche vollkommen parallel erhöhen oder verringern. Schon diese kleine Beobachtung zeigt, dass die Kirchen nicht Herr ihrer eigenen Lage sind, sondern äußeren politischen und sozialen Einflüssen unterworfen sind, die sie nicht steuern können. Die Rede von der Selbstsäkularisierung der Kirchen setzt sie einer Verantwortung aus, die sie gar nicht tragen können und sie unterstellt, als wäre es bei einigen Korrekturen ganz einfach, den Prozess der Entkirchlichung umzudrehen.
HK: Wie können die Kirchen angemessen mit solchen religionssoziologischen Befunden umgehen?
Pollack: Auf jeden Fall ist Nüchternheit vonnöten und nicht Autosuggestion. Hinter der Annahme, dass es in der Hand der Kirchen läge, ihre Situation zu verbessern, steht häufig die Annahme, die Menschen seien religiös und hätten religiöse Bedürfnisse, es käme nur darauf an, sie abzuholen. Menschen, die aus der – in dem Fall evangelischen – Kirche ausgetreten sind, wurden befragt, ob sie ausgetreten sind, weil sie anderen religiösen Bedürfnissen nachgehen wollen. In Westdeutschland waren es deutlich unter zehn Prozent, die das für sich beanspruchten. Die Zahl derjenigen also, die die Kirche durch ein verändertes Handeln zu halten vermag, scheint eher gering zu sein.
HK: Muss man einfach akzeptieren, dass Menschen schlicht auch religiöses Desinteresse und Indifferenz entwickeln können?
Pollack: Nichts spricht dafür, dass religiöse Bedürfnisse einfach im Überfluss vorhanden sind und man sie nur gut bedienen muss, um das allgemeine Religiositätsniveau zu steigern. Das ist eine Theorie, die vor allem in den USA von den Repräsentanten des so genannten ökonomischen Marktmodells vertreten wird. Indem dieses Modell das religiöse Bedürfnis konstant setzt, überschätzt es allerdings die Bedeutung der institutionellen Seite von Religion. In diesem Modell hängt alles davon ab, was die religiösen Anbieter tun. Nur, die Anbieter sind selbst eingebettet in ein kulturelles Normsystem und allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeiten. Dass beispielsweise in den USA die religiösen Anbieter relativ erfolgreich sind, hängt auch damit zusammen, dass religiöse Überzeugungen allgemein geteilt werden. Diese müssen institutionell gar nicht geschaffen werden.
„Zielorientierung und Situationsanalyse dürfen nicht vorschnell ineinander fallen”
HK: Um die Frage nach religiöser Indifferenz oder religiösem Grundbedürfnis zu entscheiden, haben wir in Deutschland die besondere Chance, Ost und West, zwei völlig unterschiedliche Kontexte zu vergleichen.
Pollack: Ostdeutschland ist der schlagende Beweis dafür, dass wir religiöse Bedürfnisse nicht als selbstverständlich voraussetzen dürfen. Die weit verbreitete religiöse Indifferenz in Ostdeutschland macht es empirisch gesehen fragwürdig, Religion als ein Grundbedürfnis des Menschen anzusetzen. Eine solche religiöse Indifferenz bedeutet durchaus nicht, dass die Menschen nicht nach dem Sinn des Lebens fragen und gegenüber existentiellen Problemen unsensibel sind. Wie Umfragen gezeigt haben, sagen nur weniger als fünf Prozent der Ostdeutschen von sich, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens für sie keine Rolle spielt. Aber sie beantworten diese Fragen nicht im Rückgriff auf Religion, sondern durch Bezug auf die Verantwortung, die sie selbst gegenüber ihrem Leben haben.
HK: Einige Religionssoziologen fassen den Begriff von Religion so weit, dass er die Sensibilität für tiefer gehende Fragen, die Sinnfrage einfach mit einschließt. Ist das sinnvoll?
Pollack: Eine solche definitorische Transformation ist natürlich möglich, aber ich weiß nicht, ob sie auch hilfreich ist. Wenn man die Sinnfrage religiös eingemeindet, weitet man den Erfassungsbereich der Religion so weit aus, dass man sie kaum von nichtreligiösen Phänomenen abgrenzen kann. Dann ist jede sinnhafte Wirklichkeitskonstruktion implizit religiös.
HK: Warum sind Sie da so vorsichtig?
Pollack: Ich glaube nicht, dass man mit einer solchen Ausweitung des Religionsbegriffes dem Selbstverständnis der Menschen gerecht wird. Viele Menschen, die nach dem Sinn des Lebens fragen und diese Frage nicht als religiös ansehen, werden kaum Verständnis dafür aufbringen, wenn dann Religionsforscher ankommen und in dieser Haltung eine Art Religiosität inkognito entdecken. Mit kommt es vor wie ein Trick, mit dessen Hilfe säkulare Phänomene in religiöse verwandelt werden, um die eigenen Annahmen über die Allgegenwart des Religiösen ins Ziel zu bringen.
HK: Die religiöse Gegenwartslage ist fraglos komplex. Warum aber fällt deren Beschreibung in Deutschland oft so gegensätzlich aus?
Pollack: Die Wirklichkeit soziologisch genau auf den Punkt zu bringen, ist immer ein schwieriges Geschäft. Man hat es stets mit gegenläufigen Trends zu tun, so dass man einmal mehr die Aufmerksamkeit auf die eine oder die andere Seite richten kann. Insofern ist es verständlich, dass kein einheitliches Bild entsteht. Merkwürdiger aber ist es, wenn man meint, diese unübersichtliche, differenzierte, in verschiedene Richtung weisende Lage eindeutig auf den Begriff bringen zu können wie beispielsweise in der Behauptung einer Renaissance der Religion. Für diese Behauptung gibt es kaum empirische Belege. Viele, die diese These vertreten, sehen offenbar aber auch gar keine Notwendigkeit, ihre These mit empirischer Evidenz zu versehen. Sie behaupten einfach, was die Medien verkünden, und halten für erwiesen, was der genaueren Prüfung bedürfte.
HK: Warum vertritt man solche Thesen, wenn man nicht in der Lage ist, empirisch zu argumentieren? Stecken dahinter bestimmte Interessen?
Pollack: Ich möchte mich hier nicht an einer Polemik beteiligen, die letztendlich nicht weiterführt. Über die Gründe, warum die empirische Datenlage nicht den Ausschlag dafür gibt, welche Thesen man vertreten kann und welche nicht, lässt sich nur spekulieren. Gewiss hat das mehrere Gründe: Im wissenschaftlichen Raum sind modernisierungstheoretische Annahmen seit Mitte der siebziger Jahre in Misskredit geraten. Wer sie weiter vertritt, gilt als überholt, als fortschrittsgläubig, eurozentrisch, naiv gegenüber den Ambivalenzen der Moderne. Das könnte ein Grund sein. Auch leben Theologen, Religionswissenschaftler, Religionssoziologen gewissermaßen davon, dass es Religion gibt, und natürlich wollen viele unter ihnen zeigen, dass der Gegenstand ihrer Beschäftigung nach wie vor gesellschaftlich relevant ist. Nicht zuletzt scheint es mir aber auch ein kirchliches Interesse gerade auf katholischer Seite zu geben: so etwas wie eine Netzwerkbildung unter einigen katholischen Intellektuellen in Deutschland, um einen modernen Katholizismus voranzutreiben und dafür auch intellektuelle Ressourcen zu mobilisieren.
HK: Die Kirchen ihrerseits können sich vom religionssoziologischen Befund nicht abhängig machen...
Pollack: Sicher nicht! Aus der Diagnose folgt nicht automatisch die Therapie. Man muss theologisch begründen, warum man das eine will und das andere nicht. Es müssen also theologische Leitbilder und Zielvorstellungen entwickelt werden, wenn das kirchliche Handeln angeleitet werden soll. Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch wichtig zu reflektieren, in welcher Situation man handelt, wie die Kontextbedingungen aussehen, welche Erwartungen die Menschen an die Kirche haben und was sie kritisch an ihr sehen. Theologische Zielorientierung und soziologische Situationsanalyse schließen sich nicht aus, aber sie dürfen nicht vorschnell ineinander fallen, denn dann wird die soziologische Analyse benutzt, um ohnehin feststehende theologische Präferenzen lediglich zu bestätigen und kann keinen eigenständigen Stand im Gegenüber zu theologischen Präferenzen gewinnen. Aber es ist zweifellos auch richtig zu betonen, dass die Soziologie der Kirche nicht vorschreiben kann, was sie zu tun hat. Das muss normativ-theologisch entschieden werden, möglicherweise auch gegen die Einsichten der Soziologie.