Religiöse Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Das Paradoxe daran ist, dass dies sowohl bei Verächtern wie Verfechtern des christlichen Glaubens gilt. Ob Dan Browns Romane „Sakrileg“ und „Illuminati“ oder die vermeintlich geheimen Botschaften einer neuen Handschrift des Judas-Evangeliums, mit denen Geschichte und Gegenwart des Christentums als Verrat an den Ursprüngen entlarvt werden sollen: Sie können sich der öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Versuche frommer Kreise, sich 2000 Jahre nach Jesus von Nazareth seiner möglichst unmittelbar zu vergewissern – und das Ignorieren der Indizien der Tradition durch die gegenwärtige Kirche zu beklagen.
Jüngstes Beispiel ist das so genannte „Volto Santo“ in Manoppello, ein kleines Tüchlein, das das Gesicht eines mutmaßlich geschundenen Mannes zeigt. Bei starker Beleuchtung wird die Darstellung auf dem Schleier schwächer, weil das Material noch durchsichtiger als Gaze ist: Das in dem Abruzzenstädtchen von Kapuzinern gehütete Stück Schleier besteht aus Muschelseide, einem der kostbarsten Stoffe in der Antike, an dem eigentlich keine Farben haften bleiben. Die Verehrer des Tuches wie der Jesuit Heinrich Pfeiffer, Professor für Kunstgeschichte an der römischen Universität Gregoriana, oder die Trappistin Blandina Pachalis Schlömer sind davon überzeugt, dass das Konterfei die Gesichtszüge Jesu zeige. Es soll sich bei dem Bild, dessen Ankunft vor 500 Jahren derzeit in den Abruzzen gefeiert wird, nicht nur um eines der vielen „nicht von Menschenhand“ gemachten Bilder Jesu handeln, sondern um das Schweißtuch der Veronika, das dann im Grab über dem Gesicht des Gekreuzigten gelegen haben soll. Die Zeichnung des Gesichts soll dem Porträt auf dem Turiner Grabtuch entsprechen, zeigt freilich geöffnete Augen. Auch Paul Badde, römischer Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“, wirbt mit geradezu missionarischem Eifer für diese These (Das Göttliche Gesicht. Die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu, Verlag Pattloch, München 2006; Neuauflage von: Das Muschelseidentuch. Die Suche nach dem wahren Antlitz Jesu, Ullstein Buchverlage, München 2005). Auch er ist in seinen – um vorsichtig zu formulieren: verschlungenen – Ausführungen davon überzeugt, dass es sich um jenes Tuch handelt, das seit Anfang des achten Jahrhunderts im Vatikan verehrt wurde und während des Neubaus des Petersdoms abhanden kam. Verbunden damit ist der Vorwurf, der Vatikan täusche die Gläubigen, weil er vorgibt, immer noch im Besitz des Schweißtuchs der Veronika zu sein, wenn er am Passionssonntag am Veronika-Vierungspfeiler in St. Peter eine entsprechende Reliquie zeige. Auf ihm ist allerdings kaum etwas zu erkennen. Mit dem „Volto Santo“ wäre somit auch das so genannte Mandylion von Edessa aus der päpstlichen Privatkapelle, das auf der Expo 2000 in Hannover im Pavillon des Heiligen Stuhls zu sehen war, seines Nimbus als ältester Darstellung der Gesichtszüge Jesu beraubt.
In den Mittelpunkt des Interesses ist das Tuch gerückt, seit die Kapuziner eine Stippvisite von Benedikt XVI. beim Heiligtum des „Heiligen Antlitzes Jesu“ erwarten – auch wenn der für den 1. September geplante Helikopterflug von der Sommerresidenz Castelgandolfo nach Manoppello ins Bistum des renommierten Theologen und Mitglieds der Theologenkommission Bruno Forte ausdrücklich als „privat“ deklariert werde. Die Ankündigung einer solchen Reise hat für Verwunderung gesorgt. Gerade der jetzige Papst hatte sich bisher nicht als schwärmerisch veranlagt gezeigt, sondern angesichts von allzu großer Wundergläubigkeit immer eine gewisse Skepsis an den Tag gelegt. Es passt eher ins Bild, dass jetzt unter Mitwirkung der Glaubenskongregation eine Kommission eingesetzt werden soll, um die angeblichen Marienerscheinungen von Medjugorje zu überprüfen, wie Kardinal Vinko Puljic, Erzbischof von Sarajevo und Vorsitzender der Bischofskonferenz von Bosnien-Herzegowina, Ende Juli für diesen Monat angekündigt hat.
Angesichts der Begeisterung für ein Stückchen Tuch wird man einerseits darauf hinweisen müssen, dass ein Ort, an dem seit fünf Jahrhunderten durch die Bewahrung einer wie auch immer zu bewertenden Reliquie an den Stifter des Christentums erinnert wird, durchaus von besonderer Bedeutung ist. Es ist auch nicht per se verwerflich, dass der Glaube nach Bildern verlangt, die der Imagination einen gewissen Halt geben. Unabhängig von der Frage nach der Authentizität solcher Bilder, deren Beweis im Falle einer fast 2000 Jahre währenden Geschichte aussichtslos ist, bleibt auf der anderen Seite aber auch festzuhalten, dass die Person Jesu und sein Leben wie Sterben ohnehin historisch verbürgt sind und auch von niemand innerhalb oder außerhalb der Kirche ernsthaft bestritten werden. Die Behauptung einer göttlichen Sendung, der Nachweis, dass das Konterfei gar eine Momentaufnahme des Auferstehungshandelns zeigt, wäre ein weiterer, aber ebenfalls nicht zu beweisender Schritt. Was verspricht man sich also von einem solchen Tuch? Der christliche Glaube hängt in jedem Fall nicht an den seidenen Fäden des „Volto Santo“ von Manoppello.