Ein Gespräch mit Professor Alfons Fürst über die Konstantinische Wende„Im Trend der Zeit“

Die große Trierer Konstantinausstellung in diesem Jahr lenkt den Blick auf die Bedeutung der Konstantinischen Wende. Wie nimmt sich die christenfreundliche Politik Konstantins auf dem religiösen Hintergrund der Spätantike aus? Wie veränderte sich das Christentum dadurch, dass es zur Staatsreligion wurde? Darüber sprachen wir mit Professor Alfons Fürst, der in Münster Alte Kirchengeschichte und Patrologie lehrt. Die Fragen stellte Ulrich Ruh.

HK: Herr Professor Fürst, die Konstantinische Wende war zweifellos eine deutliche Zäsur in der Geschichte des frühen Christentums, ja des Christentums überhaupt. War diese Wende Anfang des vierten nachchristlichen Jahrhunderts sozusagen fällig?

Fürst: Die Konstantinische Wende lag auf jeden Fall im Trend. Es gab damals auch über das Christentum hinaus einen allgemein verbreiteten Zeitgeist mit bestimmten Ingredienzien und Elementen, zu denen das Christentum gepasst hat. Konstantin hatte deshalb mit seiner Anerkennung und Begünstigung des Christentums Erfolg, weil er an Dinge anknüpfte, die in der Luft lagen, und daraus Politik gemacht hat.

HK: Was gehörte denn zu dem Trend, der das Christentum in seiner damaligen antiken Umwelt begünstigte?

Fürst: Wir finden in der Spätantike deutliche monotheistische Tendenzen, die sich beispielsweise am Sonnenkult festmachen lassen. Zunehmend gewann ein Eingott-Glauben an Boden, in ganz verschiedenen Varianten. So konnte er sich durchaus mit dem Polytheismus verbinden und einen Gott annehmen, der in unterschiedlichen Gestalten verehrt wird, oder verschiedene Götter mit einem Gott, etwa Helios, dem Sonnengott, identifizieren. Solche Vorstellungen prägten auch die Alltagsreligiosität, wie sich an Inschriften nachweisen lässt, von denen griechische Städte voll waren. Das alles lief nicht einfach auf das Christentum zu, sondern entwickelte sich eher parallel. Man konnte aber sehr leicht von dem einen oder anderen Strang dieser Entwicklung ins Christentum überwechseln.

HK: Kann man dann von einer synkretistischen Grauzone zwischen Heidentum und Christentum sprechen?

Fürst: Ich bin versucht zu sagen, eindeutig ja. Allerdings ist Synkretismus ein sehr problematischer Begriff, der unbewusst mit der Voraussetzung arbeitet, es gebe „reine“ Größen, die dann vermischt werden. Aber das entspringt nur unserem Bemühen, die Phänomene klarer zu sortieren, als sie sind. Heidentum und Christentum waren jedenfalls in der Spätantike keine so klar voneinander getrennten Größen. Konstantin selber ist dafür ein gutes Beispiel.

HK: Und wie nimmt sich in dieser Gemenglage der offizielle römische Staatskult mit seinen Opfern und Riten aus? War er mit dem Trend zum Monotheismus kompatibel?

Fürst: Kaiserkult gab es seit Augustus immer, auch wenn er unterschiedlich stark forciert wurde. Aber seit dem dritten Jahrhundert wurde den Kaisern plötzlich Religion wichtig, was dann auch entsprechende religionspolitische Konsequenzen hatte. So erließ Kaiser Decius ein allgemeines Opferedikt, um die Bevölkerung auf den römischen Staat einzuschwören, Aurelian machte den Kult des Sonnengottes zum Staatskult, Diokletian hatte ein ganz dezidiertes religiöses Programm. Insofern war Konstantins Politik die konsequente Fortsetzung dieser Linie, jetzt unter christlichen Vorzeichen.

HK: Lag es für Konstantin nicht auch deshalb nahe, auf das Christentum zu setzen, weil die Zahl der Christen damals schon so groß war, dass man mit Verfolgung letztlich nichts mehr ausrichten konnte? Inwiefern waren solche pragmatischen Motive im Spiel? Fürst: Das Christentum war damals überall im Römischen Reich noch eine Minderheit, allerdings mit beträchtlichen regionalen Unterschieden. Im Osten war der Prozentsatz der Christen deutlich höher als im Westen, der ja der ursprüngliche Herrschaftsbereich Konstantins war. Insofern kann sich Konstantin schwerlich deshalb auf die Christen gestützt haben, weil sie so zahlreich gewesen wären. Insgesamt dürfte der christliche Bevöl Kirchengeschichte und Pakerungsanteil im Römischen Reich nicht mehr als fünf bis zehn Prozent ausgemacht haben. Nachdem die Zahl der Christen zunächst sehr langsam gestiegen war, geht die Kurve in der Mitte des dritten Jahrhunderts deutlich nach oben. Modellrechnungen mit modernen religions-soziologischen Methoden und unter Berücksichtigung der antiken Quellen lassen den Schluss zu, dass die Christen auch ohne die Konstantinische Wende in der Mitte des vierten Jahrhunderts die Hälfte der Bevölkerung des Römischen Reiches gestellt hätten.

HK: Wie nahm sich denn das Christentum zur Zeit Konstantins in den Augen derer aus, die das Nebeneinander verschiedenster religiöser Anschauungen und Mysterienkulte im Römischen Reich gewöhnt waren? Unter dem Dach des offiziellen Staatskults konnte ja jeder nach seiner Façon selig werden.

Fürst: Das Christentum wurde als Zerstörung des religiösen Pluralismus wahrgenommen. Das zeigt sich schon in der Streitschrift des Kelsos gegen die Christen, der ihnen unter anderem vorwirft, die plurale religiöse Kultur zu unterminieren. Dennoch war die Konstantinische Wende nicht unausweichlich. Man hätte bei dem stehen bleiben können, was Kaiser Galerius 311 getan hat, also den Christen ihre Religionsausübung zu gestatten und sogar anzuerkennen, dass sie sich nicht am normalen Kaiserkult beteiligen können. Auf dieser Basis wäre das Christentum – analog dem Judentum – in das herkömmliche römische System integrierbar gewesen. Aber Konstantin ging einen entscheidenden Schritt weiter, indem er das Christentum massiv förderte.

HK: Aber war er damit schon der erste christliche Kaiser?

Fürst: Konstantin war insofern kein Christ, als er nicht getauft war. Er ist bekanntlich erst auf dem Sterbebett getauft worden. Die Taufe kurz vor dem Tod war im vierten Jahrhundert übrigens ein verbreitetes Phänomen; das zeigt sich schon daran, dass viele Bischöfe dagegen angepredigt haben. Konstantin hat sich offensichtlich auch nicht wirklich bekehrt, sondern seinen Sonnengott mit dem Gott des Christentums identifiziert. Aber es wäre eine falsche Alternative, für seine christenfreundliche Haltung entweder politischen Pragmatismus oder religiöse Motive verantwortlich zu machen. Es kann ja durchaus zusammenpassen, dass jemand politisch sehr gezielt strategisch handelt, weil das mit seiner religiösen Überzeugung einhergeht. Im Übrigen waren Religion und Politik in der Antike nicht getrennt, sondern bildeten eine Einheit. Dazu kommt, dass gerade in der Spätantike nur schwer zwischen Konventionellem und Individuellem zu unterscheiden ist. Selbst wenn antike Menschen ihre ureigensten Überzeugungen zum Ausdruck brachten, taten sie es in literarischen Konventionen. Das gilt in besonderem Maße für den Kaiser.

„Die Christen waren über diesen Umschwung zunächst sehr glücklich“

HK: Dann war also Konstantin auch in seiner Religionspolitik weit mehr ein römischer als ein christlicher Kaiser?

Fürst: Ihn als römischen Kaiser zu verstehen, ist sicher der bessere Zugang. Er konnte nur römische Herrschaftsvorstellungen haben, da es ja in der Zeit noch keine christlichen gab. Profanhistorisch betrachtet war sein Aufstieg eine ausgesprochene Kriegsgeschichte, in deren Verlauf er die Alleinherrschaft errungen hat. Christliche Autoren seiner Zeit waren erkennbar darum bemüht, seine Gegner als Aggressoren darzustellen. In Wirklichkeit war die Geschichte zu komplex, als dass man hier Noten verteilen könnte. Seine Unterstützung des Christentums ist allerdings ohne ein Minimum an persönlicher Überzeugung nicht zu verstehen. Das war ja nicht einfach nur vorteilhaft für ihn, denn mit den innerchristlichen Streitereien hat er sich auch nicht geringe Schwierigkeiten eingehandelt.

HK: Was hat denn die Wende in der Religionspolitik den Christen konkret gebracht?

Fürst: Man kann sich die Veränderungen am Beispiel des Bischofs Eusebius von Caesarea in Palästina klarmachen, der im Jahr 310 erlebt, dass sein Vorgänger im Gefängnis stirbt, und der fünfzehn Jahre später im Kaiserpalast das zwanzigjährige Regierungsjubiläum des Kaisers mitfeiert. Für ihn hat sich alles verändert! Noch Origenes dachte nicht im Traum daran, dass der römische Kaiser Christ werden könnte. Die Christen bekamen unter Konstantin ihre Kirchen und ihr Vermögen zurück und wurden wieder in ihre früheren Rechte eingesetzt. Ich kann voll und ganz nachvollziehen, dass die Christen über diesen Umschwung zunächst sehr glücklich waren. Erst später haben sie gemerkt, dass sie sich durch die neue Situation auch neue Probleme eingehandelt hatten.

HK: Warum sind Menschen unter den durch Konstantin geschaffenen neuen Bedingungen eigentlich Christen geworden? Waren es mehr opportunistische Motive oder Bekehrungen aus Überzeugung?

Fürst: Das ist eine der großen Fragen, die sich für die Spätantike stellen. Sicher war es nach Konstantin opportun, Christ oder zumindest Katechumene ohne Taufe zu werden. Der Aufschwung, den das Mönchtum im vierten Jahrhundert erlebte, speiste sich teilweise aus Reserven gegenüber der Reichskirche. Hieronymus hat einmal geschrieben, in der Kirche gehe es mit dem moralischen Niveau bergab, seit sie Macht und Reichtum erworben habe. Diese Haltung wird allerdings durch die Tatsache relativiert, dass viele Mönche gleichzeitig politisch hoch aktive Bischöfe waren.

HK: Waren es vor und nach der Konstantinischen Wende letztlich die gleichen Gründe, aus denen Menschen sich dem Christentum zuwandten?

Fürst: Auch nach Konstantin sind noch viele Menschen aus Überzeugung Christen geworden. Es gibt eine hochinteressante Predigt, in der sich Augustinus mit Stimmen in seiner Gemeinde auseinandersetzt, die einem reichen Bürger von Hippo, der Christ geworden war, opportunistische Motive unterstellten. Augustinus hielt dagegen, niemand könne in das Herz eines Neuchristen schauen, nur Gott allein. Diese Äußerung verweist auf ein grundsätzliches Problem: Wir wissen nicht, warum der Händler um die Ecke Christ geworden ist, weder im dritten noch im vierten Jahrhundert. Wer kann denn schon von sich selber sagen, warum er sich in seinem Leben da oder dort so oder so entschieden hat, welche Elemente wirklich zusammengewirkt haben und was letztlich den Ausschlag gegeben hat? Allerdings lassen sich für die Spätantike durchaus einige allgemeine Faktoren benennen, die bei der Hinwendung zum Christentum eine Rolle gespielt haben. Dazu gehört, dass das Christentum eine Religion sowohl für die einfachen Leute wie für Gebildete war. Es machte sozusagen ein attraktives religiöses Angebot.

„Die sozialethische Praxis des Christentums war ein Novum für die antike Gesellschaft“

HK: Woran lässt sich diese Attraktivität vor allem festmachen?

Fürst: Das Christentum kannte die Sündenvergebung in der Taufe als Entlastung von individueller Schuld und vermittelte klare Orientierung für das menschliche Bedürfnis nach Sinn und Glück, es deutete die Welt auch mit ihren negativen Seiten und stiftete eine Hoffnung, mit der man leben konnte. Außerdem hatte es klare ethische Vorschriften, in denen sich hohe Anforderungen an das Individuum mit praktischen Hilfen zur Bewältigung des Alltags verbanden. Die sozialethische Praxis des Christentums war im Übrigen ein Novum für die antike Gesellschaft, indem es diese für benachteiligte Gruppen sensibilisierte und gleichzeitig wirksame soziale Institutionen schuf. Schließlich hob es zumindest ansatzweise die sozialen Unterschiede auf und proklamierte die Gleichheit aller Menschen, auch wenn es daraus keine realen politischen Konsequenzen gezogen hat. Auch der persönliche Eindruck, den einzelne Christen, Mönche, Märtyrer oder Bischöfe auf ihre Zeitgenossen machten, ist nicht zu unterschätzen.

„Das Christentum bekam Probleme mit seinem Selbstverständnis“

HK: Auch wenn das Christentum für Außenstehende vor und nach der Konstantinischen Wende aus den gleichen Gründen attraktiv gewesen sein mag, musste sich doch das Selbstverständnis der christlichen Kirche nach dieser Wende ändern. Es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob man eine tendenziell gefährdete Minderheit war oder die privilegierte Religionsgemeinschaft und einige Jahrzehnte später sogar die Staatskirche.

Fürst: Das Christentum bekam in der Tat Probleme mit seinem Selbstverständnis. Vorkonstantinisch hat man sich durch eine gewisse Weltdistanz definiert. Das beginnt schon bei Paulus, der die Christen als Fremde auf Erden sieht, die ihre Heimat im Himmel haben. Bei nahezu allen Themen wurde in den ersten Jahrhunderten auf dieser Schiene argumentiert. Diese Distanz war plötzlich weg. Staat und Gesellschaft, zu denen man sich vorher in einer Art Halbdistanz befand, rückten jetzt in einer neuen Weise an das Christentum heran, die Grenzziehung, in der man es sich auch bequem machen konnte, war nicht mehr möglich. Deshalb hat das Mönchtum eine neue Grenze aufgerichtet, indem es die christliche Weltdistanz wiederbelebte. Nicht die Askese war das charakteristische Merkmal des frühen Mönchtums, sondern die Anachorese, der Rückzug aus der Welt. Das hatte zur Folge, dass eine Zweistufenethik entstand: auf der einen Seite die „normalen“, auf der anderen die „besseren“ Christen. Was Origenes in seinen Predigten als Ideal für alle Christen beschrieb, verengte sich später auf das Mönchtum. Man kann auch die Kontroverse zwischen Pelagius und Augustinus über die Gnadenlehre auf diesem Hintergrund deuten: Was Pelagius wollte, war letztlich ein Anachronismus, weil er diese alten Ideale für alle hochgehalten hat, während Augustinus zu den „Modernen“ gehörte, die erkannt haben, das diese Ideale in der neuen Situation nicht mehr durchzuhalten waren.

HK: Der problematischste Zug der Konstantinischen Wende lag sicher in der zunehmenden christlichen Intoleranz. Wie ist es letztlich zu erklären, dass eine religiöse Gruppe, die selber Verfolgungen ausgesetzt war, dann Abweichungen mit Hilfe des Staates sanktioniert? Fürst: Es handelt sich um eine historische Hypothek, die das Christentum bis heute mit sich herumschleppt und die das Hauptarsenal für Kritik am Christentum bildet, was man auch gut nachvollziehen kann. Mir ist nur schwer verständlich, dass viele Bischöfe offenbar wenig Skrupel hatten gegenüber Andersdenkenden Gewalt anzuwenden, zumal es religiös motivierte gewalttätige Auseinandersetzungen in der vorchristlichen Antike nicht gab. Die Gewalt begann im Übrigen meist unter den Christen selber. Demgegenüber hat man Gewalt gegenüber Nichtchristen vergleichsweise wenig angewandt, sowohl gegen Juden als auch gegen Heiden. Weitaus die meisten Fälle entfallen auf innerchristliche Gewalt. Dagegen gab es im spätantiken Christentum keine Zwangsbekehrungen. Man hat hier neuzeitliche Phänomene, wie sie vor allem mit dem europäischen Kolonialismus verbunden waren, zu Unrecht auf die Antike zurückprojiziert.

HK: Was war letztlich entscheidend dafür, dass das spätantike Christentum an diesem Punkt anders war?

Fürst: Weil man immer Bekehrung als einen freiwilligen Akt verstanden hat. Es gibt genug Stimmen von Bischöfen und auch Kaisern, die die Auffassung vertraten, dass man keinen Zwang in der Religion ausüben solle. Von diesem Grundsatz gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. Ich kenne in den ersten Jahrhunderten nach der Konstantinischen Wende überhaupt nur zwei entsprechende Vorgänge, die eher randständig waren: Zum einen die Zwangsbekehrung der Juden auf Menorca im Jahr 418, zum anderen einen Sophisten, der Ende des fünften Jahrhunderts öffentlich so in die Bredouille geriet, dass er keinen anderen Ausweg sah, als sich taufen zu lassen. Erst unter Justinian im sechsten Jahrhundert kam es dann zu richtigen Heidenverfolgungen, die übrigens nicht sehr erfolgreich waren. Wohl gab es seit der Konstantinischen Wende Aktionen gegen heidnische Kultpraxis und Kultgebäude, aber nicht in dem Ausmaß, das man vielleicht erwarten würde. Der Prozess der „Christianisierung“ verlief insgesamt weitgehend unspektakulär. Die meisten heidnischen Tempel sind einfach so verfallen.

„Die konstantinische Wende hat eher Tendenzen verstärkt, die schon da waren“

HK: Und warum waren die Christen dann bei Auseinandersetzungen um den rechten Glauben nach innen so intolerant?

Fürst: Das Christentum hat seit jeher Schwierigkeiten mit der Pluralität. Daran änderte die Konstantinische Wende nur insofern etwas, als man durch sie staatliche Machtmittel an die Hand bekam. Aber letztlich liegt der Intoleranz ein theologischer Kurzschluss zugrunde. Man glaubt an einen universalen Gott und schließt daraus, die Allmacht dieses Gottes müsse sich in der eigenen Macht widerspiegeln. Aber diesen Trugschluss hat nicht Konstantin produziert, sondern er ist ein Urfehler, der viel zu oft gemacht wurde und wird, der aber nicht unausweichlich ist.

HK: Die Konstantinische Wende ist im Verlauf der Jahrhunderte zu einem positiv oder aber negativ besetzten Geschichtsmythos geworden, für die einen war sie der entscheidende Sündenfall des Christentums, für die anderen ein providentielles Heilsereignis. Wie nimmt sich diese Wende heute jenseits solcher einseitiger Deutungen aus?

Fürst: Wenn man die Konstantinische Wende vor allem als Sündenfall versteht, setzt man voraus, dass es einmal ein „reines“ Christentum gegeben habe. Das ist aber eine Fiktion, wie man schon bei Paulus sehen kann, der ja sonst seine Briefe nicht hätte schreiben müssen, um Probleme in den Gemeinden zu lösen. Wenn man sie umgekehrt zum Heilsereignis stilisiert, kommt man in Probleme mit dem Verhältnis von Religion und Politik, denn dann produziert man eine bedenkliche christliche Variante der antiken Nicht-Trennung von Heil und Herrschaft. Eine Antwort jenseits dieser Extreme hängt davon ab, wovon man Geschichte bestimmt sieht, was geschichtliche Abläufe lenkt. Ich gehöre nicht zu denen, die der Meinung sind, Geschichte werde von großen Persönlichkeiten gemacht. Es verhält sich gerade umgekehrt: Die handelnden Personen agieren unter den Bedingungen ihrer Zeit, und erst die Nachwelt entscheidet, was davon wie wahrgenommen wird.

„Das Christentum hat nie vergessen, dass es aus dem Judentum kommt“

HK: Was bedeutet das konkret für die Bewertung der Konstantinischen Wende?

Fürst: Es bedeutet beispielsweise, dass niemand weiß, was mit dieser Wende geschehen wäre, wenn Julian, der das Heidentum restaurieren wollte, länger gelebt hätte. Was Konstantin getan hat, war in seiner Zeit sinnvolle und deshalb auch erfolgreiche Politik. Das Christentum hat davon profitiert, indem es etwa die Möglichkeit bekam, seine sozialethischen Vorstellungen in die Gesellschaft wirksam einzubringen. Aber in vieler Hinsicht tue ich mich schwer, von einer Wende zu sprechen. So waren die wesentlichen Elemente der Kirchenstruktur wie das Bischofsamt, die Synodalstruktur oder die Aufteilung der Gemeinden in Klerus und Laien schon vor Konstantin vorhanden. Auch die Grundstruktur der christlichen Liturgie stand damals schon fest, auch wenn das Kaiserzeremoniell die liturgischen Formen verändert hat. Schließlich hatten auch die theologischen Entwicklungen, die die Konzilien des vierten Jahrhunderts bestimmten, ihre Wurzeln lange vor der Konstantinischen Wende. Sie hat eher Tendenzen verstärkt, die schon da waren.

HK: Man spricht derzeit viel von einer Ursynthese von Antike und Christentum, die dieses bleibend und konstitutiv präge. War diese Synthese in ihren Grundzügen schon vor Konstantin geschehen oder hat sie durch die mit seiner Gestalt verbundene Wende entscheidende Impulse erhalten?

Fürst: Die Rede von einer Synthese setzt voraus, dass es schon zwei irgendwie fertige Größen gegeben habe, die dann verschmolzen werden konnten. Das trifft nicht zu. Das Christentum war vielmehr zunächst eine jüdische Bewegung und ist aus dem Judentum heraus entstanden. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln bringt es bestimmte Eigenheiten mit, so im Rekurs auf die jüdischen Heiligen Schriften, im Gottesbild, in ethischen Standards, mit der Person des Juden Jesus. Aber in dem Moment, wo es sich aus dem Judentum herausentwickelt, bis hin zur Trennung von diesem, tut es das in der antiken Welt. Eigentlich müssten wir statt von einer „Inkulturation“ des Christentums in die Antike von einer „Exkulturation“ sprechen, von der allmählichen Entstehung einer eigenen Größe namens Christentum aus dem Judentum und aus der Antike heraus. Dabei konnte es gar nicht anders, als ständig auf Elemente der antiken Kultur zurückzugreifen. Andererseits hat es sich von dieser ständig distanziert, weil es trotz aller antijüdischen Polemik nie vergessen hat, dass es aus dem Judentum kommt. Immer dann, wenn das Christentum sich von der Antike distanzierte, steckte etwas Jüdisches dahinter.

HK: Inwieweit lässt sich aus der Geschichte des antiken Christentums vor und nach der Konstantinischen Wende heute etwas lernen, nicht zuletzt angesichts der Diskussionen um die christlichen Wurzeln Europas einerseits und der Herausforderungen durch den stärker gewordenen religiösen Pluralismus andererseits?

Fürst: Man kann aus der Geschichte nichts „lernen“, weil die Konstellationen, unter denen Entscheidungen gefällt werden müssen, sich immer neu darstellen. Dennoch ist es entscheidend wichtig, über Geschichte nachzudenken, weil Denken und Vorstellungskraft der Gegenwart von ihr geprägt sind. Ich meine, Europa hat auch, aber nicht nur christliche Wurzeln, so erklärungsbedürftig dieser Begriff ist. Jedenfalls möchte ich manches, was aus diesen christlichen Wurzeln kommt, nicht missen, so etwa die soziale Verantwortung menschlichen Handelns und die zugehörige karitative Praxis, die aus dem Judentum stammt und durch das Christentum Teil der spätantiken Welt geworden ist, und auch nicht die monotheistische Trennung von Religion und Politik, weil nur diese ein Widerlager gegen die Ideologisierung von Herrschaft auch innerhalb der Kirche bietet und eine Ressource zur Durchsetzung und Bewahrung von Humanität darstellt.

HK: Dennoch bietet das Christentum gerade in unseren Breiten nicht gerade ein strahlendes Bild und muss sich gleichzeitig in der Konsequenz anderer religiöser Angebote bewähren.

Fürst: Wir leben heute in einer religiös pluralistischen Landschaft, die in manchen Zügen an die Spätantike erinnert. Allerdings war das Christentum damals eine junge, aufstrebende Religion, die im Trend der Zeit lag. Heute ist es alt geworden, im Unterschied zu seinen Anfängen belastet von zahllosen Hypotheken geschichtlichen Versagens und dadurch für viele Menschen unattraktiv. Das muss zwar nicht zwangsläufig so bleiben, aber dieses Problem lässt sich nicht einfach im Rückgriff auf die Spätantike lösen.

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