Zum Werk des Komponisten Olivier MessiaenMusik aus dem Geist der Theologie

Im kommenden Jahr feiert die Musikwelt den 100. Geburtstag des französischen Organisten und Komponisten Olivier Messiaen (1908–1992). Wie keinem zweiten Musiker der Moderne gelangen ihm inspirierende Synthesen von Musik und Theologie. Nach zahlreichen Kammermusik-, Orgel- und Orchesterwerken ist die 1983 in Paris uraufgeführte monumentale Franziskus-Oper die Summe seines Lebenswerkes.

In gängige Klischees lässt sich Olivier Messiaen nicht einordnen, weder als Mensch noch als Komponist. Vielen Anhängern der Moderne war er zu fromm, etlichen Kirchgängern zu modern. Als Musiker der Avantgarde hat er sich zeitlebens auch in säkularisierten Kontexten geradezu empathisch zu Glaube, Katholizismus und Frömmigkeit bekannt. Die Düsseldorfer Organistin und bedeutende Messiaen-Schülerin Almut Rößler nennt es einen „wahrhaft großen Augenblick“, als Messiaen in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Erasmus-Preises am 25. Juni 1971 im Concertgebouw Amsterdam der vielköpfigen Gesellschaft sein Bekenntnis „Je crois en Dieu!“ zurief. Dass er diesen Grundsatz sogleich trinitarisch erläutert und mit etlichen seiner Werke differenziert belegt hat, ist charakteristisch für Messiaen. Er trennte nicht zwischen Person und Werk, sondern verstand viele seiner Kompositionen als persönliches Glaubenszeugnis, als eine klingende Theologie. Überdies berichtete er nicht ohne Stolz von seiner tausend Bände umfassenden theologischen Bibliothek.

Als Komponist bestand Messiaen beharrlich darauf, Klänge zugleich synästhetisch als Farben zu sehen: „Wenn ich Klänge höre, sehe ich geistig Farben. Ich habe das öffentlich gesagt, ich habe es vor den Kritikern wiederholt, ich habe es meinen Schülern erklärt, aber niemand schenkt mir Glauben. Ich kann noch so reichlich Farben in meiner Musik verwenden, die Zuhörer hören, aber sie sehen nichts.“ Schließlich ist der Lehrer Messiaen zu erwähnen, der über Jahrzehnte mehrmals wöchentlich seine berühmten vierstündigen Analysekurse am Pariser Conservatoire abgehalten hat. Dabei wurden nicht nur Beispiele aus fast der gesamten abendländischen Musikgeschichte behandelt: von der Gregorianik über Monteverdi, Bachs h-Moll-Messe, Mozarts Klavierkonzerte und Wagners Ring bis zu Debussy; analysiert wurden auch Kompositionen seiner Schüler, zu denen so unterschiedliche Charaktere wie Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis, Pierre Boulez, George Benjamin und Michaël Levinas zählen.

Komponist, Ornithologe und Rhythmiker

Wie Messiaen sich selbst gesehen hat, lässt sich an den beiden Visitenkarten ablesen, die er geführt hat, eine kleine und eine große. Die kleine nannte neben seinem Namen nur den Titel „membre de l’institut“. Messiaen gehörte zu den „Unsterblichen“, wenngleich er über die Sitzungen der Académie des Beaux-Arts doch „mitunter mit leiser Ironie berichtete“, wie sein Kompositionsschüler Thomas Daniel Schlee überliefert. Die große Visitenkarte vermerkt die wichtigsten der zahlreichen Auszeichnungen aus aller Welt sowie seine Mitgliedschaft in etlichen in- und ausländischen Akademien. In größeren Lettern hervorgehoben sind die drei Bezeichnungen, auf die es Messiaen ankommt: „compositeur de musique, ornithologue et rythmicien“, also „Komponist, Ornithologe und Rhythmiker“.

Als Komponist schuf Messiaen über fast sieben Jahrzehnte hinweg eine Fülle von Werken in zahlreichen Gattungen: von der Kammermusik mit Klavierliedern wie „Le sourire“ (Das Lächeln) auf ein Gedicht seiner Mutter Cécile Sauvage (18831927) oder „Le merle noire“ (Die Amsel) für Flöte und Klavier bis zu der vor Sinnlichkeit schier berstenden Turangalíla-Symphonie und weiteren, geradezu bombastisch besetzten Orchesterwerken wie „Des Canyons aux étoiles“ (Von den Schluchten zu den Sternen) oder den „Éclairs sur l’Au-delà“. Diese „Streiflichter über das Jenseits“ sind Messiaens letztes vollendetes Werk in elf Sätzen, in welchem zur Darstellung seiner musikalischen Eschatologie nicht weniger als 141 Instrumente zum Einsatz kommen.

Vögel – kleine Boten der immateriellen Freude

Entscheidend für Messiaens Personalstil war, dass er schon früh ein eigenes System so genannter „Modi“ herausgebildet hat, das ihm – nach den Einflüssen der französischen Romantik und einigen Ausflügen in die radikal moderne Serialität – eine eigene und unverwechselbare Tonsprache ermöglichte. Grundprinzipien seines Komponierens hat er bereits früh in den beiden Bänden „Technique de mon langage musical“ (Technik meiner musikalischen Sprache) niedergelegt, die inzwischen auch in einbändiger Zusammenführung in deutscher Sprache vorliegen. Weiterhin hat Messiaen oftmals in Interviews Auskunft gegeben und aufschlussreiche Vorträge gehalten, zum Beispiel bei der „Conférence de Notre Dame“ im Jahr 1977. Eine noch nicht umfassend genutzte Fundgrube seiner musikalischen Ästhetik und seiner Interpretationen fremder wie eigener Werke sind schließlich die sieben Bände seines „Traité de Rythme, de Couleur et d’Ornithologie“, die Messiaens zweite Frau, die Pianistin Yvonne Loriod (geb. 1924), zwischen 1994 und 2002 herausgegeben hat. Die aktuellste Messiaen-Biografie ist derzeit die von Peter Hill und Nigel Simeone, in der erstmals das Privatarchiv des Komponisten umfassend ausgewertet wurde.

Doch zurück zur Visitenkarte Messiaens: Ungewöhnlich ist, dass ein Komponist sich in einem professionellen Sinne als Ornithologe versteht. Messiaen hat diesen Anspruch jedoch bravourös eingelöst, beeinflusst auch vom Ratschlag seines Kompositionslehrers Paul Dukas: „Hören Sie den Vögeln zu, das sind große Meister.“ In zahlreichen Ländern verbrachte er ungezählte Stunden mit Skizzenblock und Tonband beim Belauschen der Vögel, deren Gesänge er mitstenographierte, um sie dann in seine Werke zu integrieren, freilich um den Preis, dass er ihre Gesänge „auf das Prokrustes-Bett der chromatischen Skala spannte, indem er ihnen die Mikrotonalität austrieb und sie in den meisten Fällen dem Klavier anvertraute“ (Clytus Gottwald). Ab der „Pfingstmesse“, einem seiner wenigen liturgischen Orgelwerke, identifiziert Messiaen die „kleinen Boten der immateriellen Freude“ dann sogar zumeist namentlich in seinen Werken. Der „Catalogue des oiseaux“ (1959), ein abendfüllendes Solowerk für Klavier, ist ganz den Vogelgesängen gewidmet, wobei manche der Kadenzen fast eine halbe Stunde lang dauern. Messiaens Konzerteinführung zu diesem Werk beginnt mit den Worten: „Natur, Vogelgesang! Das sind meine Leidenschaften. Sie sind auch meine Zuflucht.“ In der berühmten, 1983 in Paris uraufgeführten Oper „Saint François d’Assise“ schließlich, der Summe seines Lebenswerkes, der Aloyse Michaëly eine musikwissenschaftlich wie theologisch Maßstäbe setzende umfangreiche Studie gewidmet hat, sind nicht weniger als 23 europäische, acht neukaledonische, vier japanische und einige weitere Vogelstimmen zu hören. Geradezu eine „Ornithologielektion“ ist das umfangreichste sechste Bild der Oper, die „Vogelpredigt“ des heiligen Franz mit einer Einleitung von sieben Vögeln – Feldlerche, Misteldrossel, Buchfink, Mönchsgrasmücke, Singdrossel, Amsel und Japanbuschsänger – sowie einem kleinen und einem großen Vogelkonzert.

Schließlich ist der „Rhythmus“ ein musikalischer Parameter, dem Messiaen sich besonders differenziert zugewandt hat, weil er der Meinung war, dass diese Grundeigenschaft der Musik allzu lange vernachlässigt worden war: „Ich bin Rhythmiker, und ich lege Wert auf diese Bezeichnung. Die meisten Menschen glauben jedoch, unter Rhythmus seien die gleichmäßigen Zeitwerte eines Militärmarsches zu verstehen.“ Messiaens Rhythmik ist in der Tat überaus komplex. Er ließ sich von indischen Râga-Klängen inspirieren, aber auch von den komplexen Zeitmaßen gregorianischer Gesänge. Mathematisch-konstruktivistische Ideen bereichern Messiaens Werke ebenso wie seine Erfindung des „valeur ajoutée“, der einen Notenwert gegen die Taktordnung etwas verlängert, was ein rhythmisch-metrisches Schweben und ein „genussvolles Hinken“ erzeugt. Rhythmus und Klangfarben bilden bei Messiaen eine überzeugende Einheit, die immer auch die Melodik einschließt: „Ehre der Melodie, der melodischen Phrase.“

Organist im Dienst der Liturgie

Erst in zweiter Linie folgen auf der großen Visitenkarte Messiaens Professur für Komposition am Pariser Conservatoire (1941–1978) sowie sein Amt des Titularorganisten an der Kirche Sainte Trinité mit einer Orgel von Cavaillé-Coll (1868), das er mehr als 60 Jahre lang ausgeübt hat. Bereits mit 22 Jahren wurde er, am Instrument Orgel eigentlich noch ein Neuling, doch mit zahlreichen Empfehlungen ausgestattet, zum jüngsten Titularorganisten Frankreichs berufen. Anfängliche Bedenken, dass er zu modern improvisieren könnte, zerstreuten sich offenbar. Zudem gab es eine Regelung, wie die verschiedenen Messen mit Orgelmusik zu bestücken waren. Jeden Sonntg gab es eine Messe mit gregorianischem Choral, eine mit klassischer und romantischer Orgelmusik sowie die „Mittagsmesse“, in der Messiaen vorwiegend eigene Werke spielte. Viele seiner Kompositionen für Orgel hat er selbst konzertant aufgeführt und auf Tonträger eingespielt. So bestritt er 1951 die Uraufführung seines „Livre d’orgue“ an der Orgel der Villa Berg beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart.

Die prägende familiäre Herkunft

Immer wieder hat Messiaen betont, wie prägend die familiäre Herkunft auf ihn gewirkt hat. Seine Mutter war die dem französischen Symbolismus nahestehende Dichterin Cécile Sauvage, von deren Gedichten er auch einige wenige vertont hat. Der Vater Pierre Messiaen war Lehrer und Anglist, der das Gesamtwerk Shakespeares ins Französische übersetzt hat. So wuchs der am 8. Dezember 1908 in Avignon geborene Olivier, wie er selbst sagt, in einem „Klima der Poesie und der Märchen“ auf. Von den frühen musikalischen Einflüssen betont Messiaen das Naturerlebnis der Berge bei Grenoble sowie den Klavierauszug der Oper „Pelléas et Mélisande“ von Claude Debussy, den sein erster Lehrer Jehan de Gibon dem Elfjährigen geschenkt hat: „Diese Partitur war für mich eine Offenbarung wie ein Blitzschlag.“ Freilich faszinierten ihn auch andere musikalische Werke wie Igor Strawinskys revolutionäres Skandalstück „Sacre du Printemps“ (1913) und der frühe Unterricht bei dem Komponisten Paul Dukas. Wichtigster Orgellehrer Messiaens im Orgelliteraturspiel und in Improvisation war Marcel Dupré.

Auch aus einigen Abneigungen machte Messiaen nie einen Hehl, etwa im Blick auf den Neoklassizismus des späteren Strawinsky oder auf die weitere Entwicklung der von ihm selbst mit dem Klavierstück „Mode de valeurs et d’intensités“ (Darmstadt 1949) mit angestoßenen Serialität als quasi-mathematisches Kompositionsprinzip. Dem Jazz konnte er ebenso wenig abgewinnen wie den Opern Verdis, und selbst an Johann Sebastian Bachs Musik bemängelte er die fehlende rhythmische Differenzierung: „immer nur Sechzehntel!“

Eine entscheidende Konstante in Olivier Messiaens Leben und Komponieren ist die biblische Inspiration vieler seiner Werke. Darin ähnelt er Johann Sebastian Bach, ja er ist in gewisser Weise dessen katholisches Pendant, weil kein anderer Komponist seit der Barockzeit seine Musik so intensiv auf spirituellen Grundlagen aufgebaut hat. Bei Messiaen geht dies einher mit der religiösen Praxis eines Katholiken, was den Besuch der Heiligen Messe und den Empfang des Beichtsakraments angeht. Mit dem Satz „je joue le dimanche“ (Ich spiele die Sonntagsmesse) pflegte er Anfragen nach sonntäglichen Verabredungen abschlägig zu beantworten. Und mit einem zweiten, oft zitierten Satz „Je suis né croyant“ (Ich bin gläubig geboren) beschreibt er seine geradezu selbstverständliche Frömmigkeit.

Eine geradezu selbstverständliche Frömmigkeit

Die religiösen Inspirationsquellen Messiaens waren vielfältig. Zu nennen sind zuerst die Bibel und theologische Schriften wie die „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen oder die „Summa theologica“ des Thomas von Aquin, von der er im Orgelzyklus über die Trinität („Le Mystère de la Sainte-Trinité“) einige Passagen mittels einer eigens erfundenen, dann aber nicht weiter entwickelten „Buchstaben-Noten-Schrift“, die er „language communicable“ nennt, sogar in Musik „übersetzt“ hat. Zeitgenössische theologische Autoren mit großem Einfluss auf Messiaen waren etwa Paul Claudel, Thomas Merton und Romano Guardini. Von den Werken Hans Urs von Balthasars nennt er die Bände der „Herrlichkeit“ (unter dem Titel „La gloire et la croix“ ins Französische übersetzt), wobei er bemerkt: „Es ist wie mit Thomas von Aquin, man liest zehn Seiten davon und ist dann so erschöpft, dass man innehalten und lange nachdenken muss.“

Eine herausragende Rolle spielt die durchweg liturgisch verankerte „Mysterientheologie“, wie sie Messiaen durch Werke Ernest Hellos (1882-1885) und vor allem durch Dom Columba Marmions (1858-1923) „Le Christ dans ses mystères“ vermittelt worden ist. Dieses Buch hatte sein Beichtvater ihm empfohlen, als Messiaen in jungen Jahren Organist der Kirche Sainte Trinité geworden war. Oftmals sind Marmions Auslegungen der Schlüssel zu den umstrittenen spirituellen Kommentaren am Beginn etlicher Werke, die Messiaen als dem jeweiligen Werk unbedingt zugehörig erachtet und die er oftmals bei Uraufführungen selbst rezitiert hat. Vor allem an diesen Kommentaren entzündete sich der Streit um Messiaen in den fünfziger Jahren, als ihm etliche Kritiker mit Vorwürfen überhäuften und auch sein bedeutendster Schüler Pierre Boulez aus seiner Abneigung, nun allerdings gegen die wollüstigen Klänge der Turangalíla-Symphonie, keinen Hehl machte. Deutlich wird die spirituelle Inspiration bei dem Weihnachtswerk für Klavier mit dem Titel „Vingt Regards sur l’Enfant Jésus Christ“ (1944), zwanzig musikalische Betrachtungen des Geheimnisses der Inkarnation. Weihnachten ist für Messiaen von besonderer Wichtigkeit, denn „Christ ist derjenige, der begreift, dass Gott gekommen ist“. Die kompositorische Inspiration ist biblisch, liturgisch und spirituell, und zwar in gegenseitiger Verschränkung. Bibeltexte sind den einzelnen Sätzen vorangestellt. Bei näherem Hinsehen sind es zumeist Kernsätze aus der Liturgie der drei Weihnachtsmessen. Diese drei Messen – „Missa in nocte“ (Engelamt),„Missa in aurora“ (Hirtenamt) und „Missa in die“ (Hochamt am Tag) – ordnet Messiaen den „drei Geburten“ zu: die ewige Geburt des Sohnes im Vater, seine zeitliche Geburt in Bethlehem, schließlich die Gottesgeburt in der menschlichen Seele. Messiaens musikalisch-kontemplative Weihnachtsexerzitien spielen das Thema der Inkarnation in zwanzig „Blicken“ höchst kreativ durch. Zuerst blickt der Vater auf den Sohn (ewige Geburt) in einer liebevoll-langsamen, Ewigkeit evozierenden Meditation, deren Schluss kein Ende ist, sondern die Andeutung eines grenzenlosen Weiterklingens. Bei der zeitlichen Geburt verschränkt Messiaen die Themen Incarnatio und Passio, indem er einen „Blick des Kreuzes“ komponiert und somit die Spannung zwischen „Bethlehem und Golgota“ musikalisch auslotet. Ekstatische Momente hören wir im „Blick der Freude“ und insbesondere bei dem vor Süßlichkeit des Klangs nicht zurückschreckenden „Kuss des Jesuskindes“, der den Akt mystischer Einung mitsamt Vorspiel in Musik zu fassen versucht. Messiaens Kommentar lautet hier: „Bei jeder Kommunion schläft das Jesuskind bei uns nahe der Tür; dann öffnet er sie auf den Garten hin und stürzt sich ins volle Licht, um uns zu umarmen ...“. All diese Stufen der religiös-mystischen Erfahrung erklingen in „wollüstiger“ Klaviermusik! Wie sehr er sich in der Mystik auskennt, zeigt Messiaens Schlussgestaltung dieses Blickes. Auf den geradezu eruptiven „Kuss“ folgt noch „der Schatten des Kusses“ als Erinnerung, die das Verlangen neu weckt und so in der Sprache virtuos-spiritueller Klaviermusik die mystische Dynamik von sehnsüchtiger Erwartung, ekstatischer Erfüllung und liebender Erinnerung erneut in Gang setzt.

Was ist theologische Musik?

Die religiöse Musik teilt Messiaen in drei Bereiche ein. Zunächst nennt er die Musik für die Liturgie, wobei er fast nur die Gregorianik und von ihr unmittellbar inspirierte Improvisationen und Kompositionen gelten lässt. Folglich hat er selbst, mit Ausnahme des frühen „Banquet céleste“ (1928) und der „Pfingstmesse“ (1950) für Orgel, kaum Werke für die Liturgie komponiert, allerdings Woche für Woche im Gottesdienst improvisiert. Damit steht er einerseits in guter französischer Tradition, man denke an Charles Tournemires von der Gregorianik inspirierte Werke, andererseits jedoch in unübersehbarer Spannung zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, was ihn mit nicht wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts verbindet. Der Hauptteil seiner religiösen Musik ist konzertante geistliche Musik. Hier bedenkt er die Mysterien Christi, von der Inkarnation („La nativité du Seigneur“ für Orgel und „Vingt Regards sur l’Enfant Jésus Christ“ für Klavier) über Ostern und Himmelfahrt („L’Ascension“ für Orchester bzw. Orgel) bis zur Wiederkunft in den „Éclairs sur l’Au-Delà“ (Streiflichter über das Jenseits) für großes Orchester mit einem choralartigen Eingangssatz, der die „Parusie Christi in Herrlichkeit“ in Musik setzt.

Weltliches und Geistliches nicht starr getrennt

Erstaunlicherweise gibt es von Messiaen kein eigentliches Passionswerk, was ihm den Vorwurf eingetragen hat, er betone zu sehr die „Theologia gloriae“. Nicht überhört werden darf jedoch das Passionsthema in vielen seiner Werke, insbesondere in den großen Zyklen. „Jésus accepte la souffrance“ heißt die Überschrift des siebten Satzes der „Nativité“, in welchem Messiaen musikalisch zeigen will, dass die Menschwerdung Gottes umfassend nur verstanden werden kann als Weg in das Menschsein bis in die bitterste Tiefe des Leidens. Und nicht unerwähnt bleiben soll, dass gleich das erste Bild „Le Croix“ die Franziskus-Oper unter das Zeichen des Kreuzes stellt. Schließlich hatte Messiaen die Gestalt des Franziskus als Opernsujet gewählt, weil dieser Heilige, auch durch seine Stigmatisierung, Christus am ähnlichsten geworden ist.

Die Übergänge zwischen den drei musikalischen Bereichen sind fließend, weil der zweite Aspekt, also die geistliche Musik, sich fortwährend liturgischer Inspirationen verdankt. Deshalb ist etwa ein Zitat des gregorianischen Introitus „Puer natus“ in „La Nativité“ ganz konsequent. Der zweite Aspekt öffnet sich schließlich zum dritten hin, der „Musik des Geblendetseins“. Damit benennt Messiaen andeutungsweise seine theologischen Werke, die musikalisch-ekstatisch die Zeit transzendieren wollen. Seine Vorliebe gilt „einer Musik, die ein neues Blut, eine zeichenhafte Geste, ein unbekannter Duft, ein Vogel ohne Schlaf sein soll; einer Kirchenfenster-Musik, einem Kreisen von komplementären Farben; einer Musik, die das Ende der Zeit, die Allgegenwart, die verklärten Leiber und die göttlichen wie übernatürlichen Mysterien ausdrückt; einem ,theologischen Regenbogen‘.“ Aufschlussreich hierfür ist das „Quatuor pour la fin du temps“ (Quartett auf das Ende der Zeit), ein Schlüsselwerk der Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Messiaen hat dieses Werk für die ungewöhnliche Besetzung Violine, Klarinette, Violoncello und Klavier als Kriegsgefangener in einem Lager in der Nähe von Görlitz unter unmenschlichen Bedingungen komponiert und erstmals mit ebenfalls inhaftierten Musikerkollegen vor einigen Hundert Mitgefangenen aufgeführt. Zeitlebens war er der Meinung, dass ihm niemals aufmerksamer und mit größerem Verständnis zugehört worden ist als bei diesem denkwürdigen Konzert am 15. Januar 1941 in der Baracke 27B des Lagers Stalag VIII/A. Und mit einem Seitenhieb auf das Pariser Publikum in Konzertsaal und Kirche fügt er hinzu: „Im Gegensatz zu den gottesfürchtigen Pariser Damen waren die Soldaten von den überraschenden Klängen nicht schockiert.“

In seinem Quartett verwendet Messiaen oftmals geradezu obsessive Wiederholungsgesten, etwa im letzten Satz mit der Überschrift „Lob auf die Unsterblichkeit Jesu“ und Vortragsanweisungen wie „paradiesisch“ oder „ekstatisch“. Gelegentlich führt er das Tempo an äußerste Grenzen sowohl der Langsamkeit als auch der furiosen Schnelligkeit. Gewidmet ist das Quartett dem Engel der biblischen Apokalypse, der verkündet, dass es keine Zeit mehr geben wird (Offb 10,6). Messiaens Katholizität erweist sich gerade darin, dass er die Bereiche weltlich und geistlich nicht starr trennt. Deutlich wird dies in seiner „Tristan-Trilogie“ mit der Sinfonie „Turangalîla“, dem Liedzyklus „Harawi“ und den „Cinq Rechants“. Im Mittelpunkt steht, biografisch stark beeinflusst von den glücklichen Jahren seiner ersten Ehe mit der Geigerin Claire Delbos, die später psychisch krank wurde und 1959 starb, das Thema Liebe, nun aber nicht in biblischer, sondern in mythologischer Inspiration.

Was zeichnet den Komponisten Oliver Messiaen letztlich aus? Es ist die eigenständige Verbindung von Modernität und Frömmigkeit, von musikalischer Konstruktion und spiritueller Ausdruckskraft, nicht zuletzt auch eine gewisse Integration der Bereiche tonal und atonal. Fundament seines Schaffens ist der Gedanke einer musikalischen „Sprache des Glaubens“ (Siglind Bruhn), denn: „Alle meine Werke, ob religiös oder nicht, sind ein Akt des Glaubens und verherrlichen das Mysterium Christi.“ Dies geschieht bei Messiaen jedoch nicht in vager Frömmigkeit, sondern explizit und stringent, weil er die Theologie kompositorisch ernst nimmt. Sein dialogisches Angebot aufnehmend sollte die Theologie, gerade im kommenden Gedenkjahr 2008, Messians Werke als einzigartige zeitgenössische musikalische Auslegung der biblischen Botschaft in ihre „Rechenschaft vom Glauben“ mit einbeziehen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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