Mitte Dezember kommen im kalifornischen San Diego gut 5000 Delegierte aus liberalen jüdischen Gemeinden Nordamerikas zusammen. Anlass ist die Zweijahreskonferenz der Union for Reform Judaism, mit 900 Synagogengemeinden die mitgliederstärkste religiöse jüdische Bewegung in den USA. Diese Biennale ist lebendiger Ausdruck der Stärke der amerikanischen Reformbewegung, die das jüdische Leben der USA maßgeblich bestimmt. In seinem National Jewish Population Survey kommt der Dachverband der Federations of North America, die United Jewish Communities, zu folgendem Bild: die jüdische Bevölkerung der USA macht 5,2 Millionen Menschen aus, davon gehören 21 Prozent dem orthodoxen Judentum in all seinen Schattierungen an, 79 Prozent dem nichtorthodoxen Judentum, nämlich 33 Prozent dem konservativen Judentum, 42 Prozent der Reformbewegung und 4 Prozent anderen nichtorthodoxen Gruppierungen.Vor allem bei den jüdischen Familien unter 35 Jahren ist das liberale Judentum die vorherrschende Richtung. Damit wächst heute eine Bewegung überdurchschnittlich, die 1873 begründet worden war. Damals entstand auf Initiative des aus Böhmen stammenden Rabbiners Isaac Mayer Wise die Union of American Hebrew Congregations, die 2003 in Union of Reform Judaism umbenannt worden ist.
Die Geistesgeschichte des liberalen Judentums hat ihre Wurzeln in Deutschland
In den USA, in denen die jüdischen Einwanderungsströme aus Mittel- und Osteuropa anfangs auf keinerlei jüdische Bildungsangebote trafen, hatte sich von Deutschland her ab 1850 das liberale Judentum schnell ausgebreitet. Ziel war, in der Neuen Welt ein lebendiges, zeitgemäßes Judentum zu leben. 1875 wurde das Hebrew Union College in Cincinnati als erstes amerikanisches Rabbinerseminar eröffnet; zur Zeit des Nationalsozialismus kamen hier viele Wissenschaftler unter, denen die Ausreise aus Deutschland gelungen war und die die historischen Beziehungen so erneuerten.
Zur Union of Reform Judaism gehört neben dem Hebrew Union College mit weiteren Standorten in Los Angeles, New York und Jerusalem die mit 75 000 Mitgliedern stärkste jüdisch-religiöse Frauenvereinigung, die 1913 gegründete Women for Reform Judaism, und die Central Conference of American Rabbis, der mit 1500 Mitgliedern größte rabbinische Berufsverband weltweit. Die Union for Reform Judaism ist Teil der World Union for Progressive Judaism (WUPJ). Sie wurde als Weltverband des liberalen Judentums 1926 in London gegründet; ihre erste internationale Konferenz fand 1928 in Berlin statt. Der heutige Sitz ist seit 1971 Jerusalem. Die WUPJ ist heute die größte religiöse Weltorganisation des Judentums und vertritt 1200 Synagogengemeinden mit gut 2 Millionen Mitgliedern in 46 Ländern. Ihr Vorsitzender ist Steve Bauman (USA), ihr Präsident Rabbiner Uri Regev (Israel).
Was heißt „liberal“?
Die Geistesgeschichte des liberalen Judentums nahm vor genau 200 Jahren im damaligen Königreich Westfalen ihren Anfang. Dort war Napoleons Bruder Jerome König geworden. Sein Modellstaat sollte die Errungenschaften der französischen (Nach-) Revolutionszeit auf deutschen Boden führen. Der jüdische Reformer Israel Jacobson (1768–1828) erkannte, dass dies auch die Grundlage für ein Zusammenleben von Juden und Christen mit gleichen Bürgerrechten bedeuten konnte. In seinem politischen und religiösen Denken war Jacobson durch die Ideale der Aufklärung geprägt, und er wandte sich zunächst in Seesen und Kassel, dann in Berlin der Reform jüdischer Bildung und jüdischen Gottesdienstes zu. Die Resonanz war beträchtlich. „Die Gottesdienste sind nun würdiger, es wird eine moralisch erbauliche Predigt in deutscher Sprache gehalten, einige Gebete werden eher auf Deutsch als auf Hebräisch gesprochen, eine Orgel begleitet die Feier, und gewisse Gebete, insbesondere jene, die von der Hoffnung auf die Rückkehr nach Palästina und vom Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem handeln, werden ganz und gar weggelassen“, fasst der Historiker Michael A. Meyer die Entwicklung zusammen. „Wir wollen positive Religion“, lautete eine Forderung der Reformer. Ende des 19. Jahrhunderts folgte die Mehrheit der deutschen Synagogengemeinden bereits dem „neuen Ritus“, war liberal. „Den Orthodoxen macht der Schulchan Aruch [das mittelalterliche religionsgesetzliche Kompendium] vieles leichter und nur scheinbar schwerer: Der Orthodoxe hat darin die fertige Antwort, er hat die fertige Entscheidung, er weiß in jeder Stunde, was er tun soll. Liberal zu sein ist so viel schwerer“, schrieb Rabbiner Leo Baeck (1873–1956), der bedeutendste Repräsentant des liberalen deutschen Judentums im 20. Jahrhundert.
Was aber heißt „liberal“? Für Baeck wurzelt jüdische Existenz im ethischen Monotheismus der Propheten: „Das Judentum ist nicht nur ethisch, sondern die Ethik macht sein Prinzip, sein Wesen aus“. Der soziale Auftrag der Propheten ist bis heute ein Movens im liberalen Judentum, das sich nach außen vor allem durch sein soziales Engagement auszeichnet. Die liberale Theologie geht anders als die Orthodoxie nicht von einer einmaligen Offenbarung Gottes am Sinai aus, hat doch die Forschung erwiesen, dass dieses kein historisches Ereignis gewesen sein kann. Somit wird die Offenbarung als ein von Gott ausgehender und durch Menschen vermittelter dynamischer und fortschreitender („progressiver“) Prozess begriffen – und nicht als ein einmaliger Akt, bei dem Moses durch Gott die Tora als schriftliche Lehre sowie die mündliche Lehre, wie sie später im Talmud festgeschrieben wurde, buchstäblich erhalten hat. Daraus leitet sich die Verpflichtung zur Bewahrung der jüdischen Tradition, aber auch zu ihrer Erneuerung ab, und ihre historisch-kritische Erforschung ist anders als in der Orthodoxie selbstverständlich gestattet.
Die Herausforderung des frühen 19. Jahrhunderts war es, eine Frömmigkeit zu finden, die den Bedürfnissen von freien, gleichberechtigten Menschen entspricht. Zweihundert Jahre später ist es für das liberale Judentum bezeichnend, dass in der Liturgie Hebräisch sowie die Landessprache benutzt und Musik verwendet wird, dass all die Gebete, deren Inhalt der Betende heute nicht mehr teilt, vermieden werden, so etwa die Bitte um Wiedereinführung des Tieropfers, und dass es die jüdischen Traditionen so interpretiert, dass sie inklusiv sind: Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen religiösen Angelegenheiten ist selbstverständlich, einschließlich der Ordination von Frauen zu Rabbinern. Um 1920 herum war es für viele jüdische Frauen höchste Zeit, von den Synagogen-Galerien herabzusteigen, und nach der Einführung des Frauenwahlrechts griffen sie aktiv in das Gemeindeleben ein. Im Jahr 1928 stand mit Lily Montagu erstmals eine Frau auf einer deutschen Synagogenkanzel, und 1935 wurde in Berlin mit Regina Jonas die weltweit erste Rabbinerin ordiniert. Die Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihrem Familienstand oder sexueller Orientierung sind ebenso selbstverständlich wie das Bekenntnis zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Der inhaltliche Sinn der Mitzwot (Gebote) hat Vorrang vor ihrer verbindlichen Festlegung als „Zeremonialgesetz“. Die gelebte Ethik steht über dem leeren Ritual. Die Gebote sind also nicht aufgehoben, ihre Beachtung und Umsetzung wird aber der Gewissensentscheidung des Einzelnen überlassen. Selbstverständlich ist auch positive Haltung gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft und Teilhabe wie Teilnahme am Gemeinwesen. Rabbiner Caesar Seligmann hielt dazu 1928 in der Neuen Synagoge in Berlin eine programmatische Predigt: „Wir wollen Juden bleiben mitten unter den Völkern, deren Länder wir nicht als Verbannung, sondern als Heimat erleben.“ „Liberal“ meint also keineswegs „lax“ oder „indifferent“. Ganz im Gegenteil, wie Rabbiner Max Dienemann 1935 schrieb: „Dem Indifferentismus gilt der schärfste, der eigentliche Kampf des Liberalismus“.
Auf dem Weg zu einer universitären Rabbinerausbildung
Neben der religiösen Reform sollte die neue Wissenschaft des Judentums zum Träger des geistigen Aufbruchs werden und, so ihr Vordenker Abraham Geiger (1810–1874), „aus dem Judenthum heraus die Judenheit neu und frisch belebt gestalten“. War diese Wissenschaft anfangs in ihrer Darstellung des Judentums als Teil der Weltkultur eher apologetisch ausgerichtet, so vermittelte sie Anfang des 20. Jahrhunderts einem jüdischen Publikum jüdische Grundbegriffe als Teil seiner Allgemeinbildung. Ihre wichtigsten Errungenschaften sind aber schon Abraham Geiger zu verdanken, der mit seiner Dissertation „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“ zum Begründer der modernen Koranforschung wurde, dann über die Methode der historischen Kritik auch zur seinerzeit unerhörten Auseinandersetzung mit Jesus als Juden und Menschen gelangte und der Erste war, der für die Errichtung einer jüdischen Fakultät an einer deutschen Universität plädierte. Es fehlte ihm an einer Koordination der Bildungsgänge und Denkweisen von Jeschiwa (Talmudschule) und Universität: „Wenn doch einst ein jüdisches Seminar an einer Universität errichtet würde, wo Exegese, Homiletik und für jetzt noch Talmud und jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste vorgetragen würde; es wäre die fruchtbarste und belehrendste Anstalt!“, forderte Geiger um 1830 als Student in Bonn.
Am 8. Mai 1872 eröffnete schließlich die Hochschule für die Wissenschaft in Berlin die erste zentrale Einrichtung des liberalen Judentums weltweit. Die Hochschule hatte bis zu ihrer erzwungenen Schließung 1942 insgesamt 730 Studenten, von denen mindestens 62 zum Rabbiner ordiniert wurden. Der spätere israelische Staatspräsident Salman Shazar (1889–1974) bezeichnete die Wissenschaft des Judentums als „die bedeutendste Gabe, die das deutsche Judentum dem Gesamtjudentum schenkte.“
Den deutsch-jüdischen Emigranten in Großbritannien war es ein Bedürfnis, mit ihrem kulturellen Erbe auch die Wissenschaft des Judentums für die Nachwelt zu erhalten. Kurz nach der Übersiedlung Leo Baecks nach London im Juni 1945 wurde dort die „Society for Jewish Studies“ ins Leben gerufen, und am 30. September 1956 eröffnete Rabbiner Werner van der Zyl das Jewish Theological College an der West London Synagogue. Als Baeck zwei Monate später starb, wurde die Einrichtung in Leo Baeck College umbenannt. Heute ist dieses Rabbinerseminar Teil eines jüdischen Campus, an dem auch Religionslehrer und Gemeindeleiter ausgebildet werden.
Wiederanknüpfen an eine große Tradition
Die Idee zur erneuten Gründung eines liberalen Rabbinerseminars in Deutschland selbst entstand 1998, nachdem der Zentralrat der Juden in Deutschland eine Frau als Stipendiatin für das Rabbinerstudium im Ausland abgelehnt hatte. Die Zeit war reif für eine Alternative im eigenen Land, die die Rabbinerausbildung kostenfrei anbieten konnte. Der Bedarf hing wesentlich mit der rapide wachsenden Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinschaft auf nunmehr gut 200 000 Personen zusammen, von denen die meisten aus der früheren Sowjetunion stammen. Ausschlaggebend für die Gründung des Abraham Geiger Kollegs waren erstens der große Bedarf an Rabbinern, die kulturell und sprachlich mit den Gegebenheiten in deutschen Gemeinden umgehen können, zweitens der Wunsch, auch Frauen in die religiöse Gemeindeleitung einzubeziehen und drittens die Notwendigkeit, die wenigen zur Rabbinerausbildung vorhandenen Mittel effizient einzusetzen. In der Standortfrage fiel die Wahl auf Potsdam, da hier die Jüdischen Studien mit Schwerpunkt in den Bereichen Religion und Philosophie, Geschichte und Literatur/Kultur gelehrt werden und somit bereits ein breit gefächertes Lehrangebot vorhanden ist, das über die stark säkular und christlich geprägte Judaistik deutlich hinausgeht. Das Rabbinerseminar in der Tradition der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums nahm seine Arbeit zum Wintersemester 2001 auf. Im September 2006 sind drei Absolventen des Abraham Geiger Kollegs als erste Rabbiner in Deutschland seit der Schoa ordiniert worden. Derzeit bereiten sich 16 Kandidaten, darunter drei Frauen, auf das Rabbineramt vor. Das liberale Judentum verfügt heute über weltweit vier akademische Ausbildungsstätten: neben dem Hebrew Union College das Leo Baeck College – Center for Jewish Education in London, das Reconstructionist Rabbinical College in Wyncote (PA) sowie eben das Abraham Geiger Kolleg, das seit diesem Jahr mit dem Hebrew Union College und dem Leo Baeck College kooperiert. Mit dem Jewish Institute of Cantorial Arts wird 2008 auch eine Kantorenausbildungsstätte seine Arbeit in Europa aufnehmen. Sie ist eng mit der School of Sacred Music des Hebrew Union College verbunden.
Am 12. Juli 2007 feierte die Union progressiver Juden in Deutschland (UPJ) in Berlin ihr zehnjähriges Bestehen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble befand in seinem Grußwort: „Die Gründung der Union progressiver Juden in Deutschland ist Zeichen eines wachsenden, vielfältigen jüdischen Lebens in unserem Land. (Sie) war kein Ereignis ex nunc, sondern ein Rückgriff auf die Geschichte: Das Wiederanknüpfen an eine große Tradition, deren Ursprünge im 18. und 19. Jahrhundert hier in Deutschland zu finden sind und deren Ideen sich rasch über die Grenzen Deutschlands ausbreiteten und vor allem in den USA zur vollen Entfaltung kamen.“
Die Union progressiver Juden in Deutschland hat heute 21 Mitgliedsgemeinden und ist inzwischen nach langen rechtlichen Auseinandersetzungen auch im Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten. In religiösen Fragen einschließlich des Übertritts zum Judentum gelten die Entscheidungen der Allgemeinen Rabbinerkonferenz des Zentralrats, des nicht-orthodoxen deutschen Rabbinerverbands, als verbindlich. Die Jugendorganisation Jung & Jüdisch,der Bund progressiver Zionisten in Deutschland – Arzenu sowie das Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam gehören ebenfalls der UPJ an, die Wiener liberale jüdische Gemeinde Or Chadasch ist ihr assoziiert. Das Abraham Geiger Kolleg gibt regelmäßig die Zeitschrift „Kescher“ mit Informationen über liberales Judentum im deutschsprachigen Raum heraus. Eine der letzten Meldungen galt der Gründung der Kindertagesstätte Tamar der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover, des ersten liberalen jüdischen Kindergartens in Deutschland nach der Schoa.
Progressives Judentum ist heute auf allen Kontinenten vertreten
Die Erwartung, dass die Bundesregierung der wachsenden Konsolidierung des liberalen Judentums und dem damit verbundenen neuen Pluralismus der jüdischen Gemeinschaft auch im Staatsvertrag vom 27. Januar 2003 Rechnung tragen würde, wurde seinerzeit bitter enttäuscht. Nach dem Schulterschluss des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder mit Zentralratspräsident Paul Spiegel verpflichtete sich die Bundesregierung damals, dem Zentralrat der Juden in Deutschland jährlich einen Betrag von drei Millionen Euro zu zahlen, um so zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrates in Deutschland beizutragen. Die liberalen Juden Deutschlands blieben bei diesem Vertrag aber außen vor, ungeachtet eines eindeutigen Urteils des Bundesverwaltungsgerichtes vom Februar 2002 und einer entsprechenden Beschlussempfehlung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags, dass dieser Vertrag der gesamten jüdischen Gemeinschaft zugute kommen solle. Die Weltunion für progressives Judentum hatte wesentlichen Anteil an der erfolgreichen politischen Vertretung der Anliegen eines vielfältigen Judentums in Deutschland gegenüber der Bundesregierung und dem Zentralrat. Es wird sich im November 2007 zeigen, ob diese sich seit einigen Jahren deutlich herausbildende Vielfalt bei der Aktualisierung des Staatsvertrages zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat zum Tragen kommen wird. Dies betrifft auch die Konsolidierung der Finanzierung für das Abraham Geiger Kolleg.
Die Weltunion für progressives Judentum hat heute Sektionen auf allen Kontinenten. Die liberalen Gemeinden in Lateinamerika, Australien und Südafrika sind zumeist in Folge der Emigration aus den deutschsprachigen Ländern zur Zeit des Nationalsozialismus entstanden. So ermöglichte Lily Montagu als Präsidentin der WUPJ zwei deutschen Rabbinern, Fritz (Federico) Pinkuss und Heinrich (Henrique) Lemle, beide Absolventen der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, 1936 beziehungsweise 1942 die Übersiedlung nach Brasilien. Aus dieser Hilfsinitiative sind zwei der größten jüdischen Gemeinden Südamerikas entstanden, die Congregacão Israelita Paulista in São Paulo, die 2000 Familien zählt, und die Associacão Religiosa Israelita in Rio de Janeiro mit gut 1000 Familien. Die liberale jüdische Gemeinschaft in Australien wurde ganz entscheidend vom Berliner Rabbiner Hermann Sänger sowie von Hermann Schildberger, dem Musikdirektor der Jüdischen Reform-Gemeinde von Berlin, geprägt, und als im vergangenen Februar ein Absolvent des Abraham Geiger Kollegs in sein Amt als Rabbiner der vitalen Gemeinde Temple Israel in Kapstadt eingeführt wurde, schloss sich für die Angehörigen derjenigen Gründerfamilien, die sich vor gut 70 Jahren aus Deutschland nach Südafrika retten konnten, ein Kreis. Aber auch in Asien ist das liberale Judentum präsent: die Jewish Religious Union von Bombay gehörte 1926 bereits zu den Mitbegründern der WUPJ, und auch in China gibt es florierende Gemeinden, in Hongkong ebenso wie in Beijing.
In Russland, Weißrussland und der Ukraine bestehen inzwischen liberale Gemeinden und eine populäre liberale Jugendbewegung, die für Familien jüdischer Herkunft, die nach 70 Jahren Sowjetherrschaft wieder eine Annäherung an die Religion suchen, eine willkommene Alternative zur allgegenwärtigen orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch bieten. Für sie gilt, was Rabbiner Ignaz Maybaum so formulierte: „Judentum, das hinter die Aufklärung zurück will, gleicht einem Salto mortale in die Welt des Schulchan Aruch“, also in das Mittelalter. Das Moskauer Institut für Jüdische Studien, das Machon, bietet eine zweijährige Ausbildung für junge liberale Gemeindemitarbeiter und schickt seine besten Absolventen zur Rabbinerausbildung an das Abraham Geiger Kolleg.
Besonders bemerkenswert sind die jüngsten Entwicklungen in Polen, wo es vor dem Zweiten Weltkrieg ein lebendiges liberales Judentum gab, an das bis vor kurzem aber nur noch die Tempel-Synagoge in Kraków erinnerte. Inzwischen schafft die liberale jüdische Gemeinde Beit Warszawa neue Vielfalt. Die Gründung eines Dachverbandes liberaler jüdischer Gemeinden und Initiative in Polen steht kurz bevor, und vor einigen Wochen hat der erste polnische Rabbinerstudent seine Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg begonnen.
Seit 1971 hat die Weltunion ihren Sitz in Jerusalem. 1978 wurde von Nordamerika ausgehend die Zionistische Bewegung des Reformjudentums gegründet (ARZA), die in der Führung der Zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency for Israel maßgeblich vertreten ist. Diese Hinwendung zu Israel bedeutete eine Kehrtwende. Für liberale Juden stellte die Auswanderung nach Eretz Jisrael lange Zeit keine Alternative zur Existenz in der Diaspora dar. Für die liberalen Juden in Deutschland markierte Leo Baecks Haltung einen Perspektivwechsel. Er sagte 1925 in Königsberg: „Für uns ist Palästina kein Problem mehr, sondern eine Tatsache, die Gott vor uns hingestellt hat.“ Im Jahr 1927 schreibt er: „Soll nun der Zionismus religiös nur durch die Orthodoxie gelenkt werden? Damit verurteilen wir den Liberalismus zur Ausschaltung aus einem Wesentlichen. Auch der Liberalismus muss im Zionismus für seine religiösen Ideale wirken... Für Palästina gilt die Frage: Wie soll sich dort das jüdische Leben entwickeln: Soll Palästina übergeben werden einerseits der Orthodoxie, andererseits dem russischen Nihilismus? Hier erwachsen dem religiösen Liberalismus wichtige Pflichten.“
Liberales Judentum in Israel
Die Anfänge der jüdischen Reformbewegung in Eretz Israel machten in den dreißiger Jahren deutsch-jüdische Emigrantengemeinden in Haifa, Tel Aviv und Jerusalem; liberale Vordenker wie Max Dienemnann, Ignaz Maybaum, Heinrich Stern und Max Wiener diskutierten damals in Deutschland über das künftige Gemeindeleben im Lande Israel. Heute ist es die Synagogengemeinde Har-El in Jerusalem, in der das liberale deutsch-jüdische Erbe nachwirkt. Vor gut fünfzig Jahren, im Frühjahr 1958, von einem kleinen Kreis Jerusalemer Bürger um Schalom Ben-Chorin gegründet, wurde diese Association for the Renewal of Religious Life in Israel zur Wegbereiterin des heutigen „Israel Movement for Progressive Judaism“ mit inzwischen 24 Mitgliedsgemeinden und zwei Kibbutzim im ganzen Land. Für sie gilt ebenso wie für liberale Juden und Jüdinnen in aller Welt, was Leo Baeck 1951 auf seiner Reise durch den jungen Staat Israel befand: „Wo immer er (der Jude) lebt, dieser Staat Israel geht ihn an, ja er wirkt auf ihn ein, ob er will oder nicht, und bedeutet für ihn ein geschichtliches Schicksal.“ Nach langem Ringen um staatliche Anerkennung ist das liberale Judentum für Israels Ministerpräsident Ehud Olmert, wie er Anfang des Jahres an die Führungsspitze der WUPJ schrieb„ein lebendiger Teil des modernen Judentums“. Die Regierung und das israelische Volk „bewunderten“ den Beitrag zum jüdischen Leben in Israel und in der Diaspora. Die besondere Verbundenheit der WUPJ mit Israel kommt aktuell in einem Abkommen zum Ausdruck, das Ende September 2007 unterzeichnet worden ist und darauf zielt, das liberale Judentum in Israel mit Fördermitteln in Höhe von 150 Millionen Dollar zu stärken und so zu gewährleisten, dass Pluralismus und Gleichberechtigung im jüdischen Staat zunehmen. Schon jetzt ist das liberale Judentum mit zahlreichen Kindergärten, mit Schulen wie dem Leo Baeck Education Center in Haifa, mit den Gästehäusern und Kulturzentren Mishkenot Ruth Daniel in Yaffo und Beit Shmuel in Jerusalem sowie mit dem Campus des Hebrew Union College in der israelischen Öffentlichkeit präsent. Das Israel Religious Action Center der World Union engagiert sich weit über liberal-religiöse Belange hinaus für eine demokratische israelische Gesellschaft – etwa für die Anerkennung ziviler Eheschließungen, für die Klärung von Statusfragen von Zuwanderern oder für die Gleichbehandlung arabischer Bürger Israels. Das liberale Judentum verpflichtet sich zu einem konstruktiven Anderssein innerhalb der Gesellschaft und zur Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen. Früher waren das Fragen wie die Gleichberechtigung der Frau oder die Liturgiereform. Zurzeit sind das Fragen wie die Unterstützung der Opfer von Darfur oder der Umgang mit der Genforschung. Das liberale Judentum ist eine wichtige Stimme im interreligiösen Dialog; innerhalb der Gemeinden gehören die Einbeziehung nichtjüdischer Lebenspartner und die konstruktive Behandlung von Konversionswünschen zu unseren Stärken gegenüber der Orthodoxie. Uns verpflichtet Leo Baecks Verständnis des ethischen Monotheismus als gesellschaftlicher Auftrag für die Gegenwart. Das bedeutet tikkun ha’olam, Bewahrung der Schöpfung, Heilung der Welt und Hinwendung zum Nächsten, zum Leben: „Das Leben zu wählen und zu gestalten, das ist die Forderung, die das Judentum an den Menschen richtet.“ In diesem Optimismus liegt seit 200 Jahren die besondere Kraft des liberalen Judentums.