Die Revision ist relativ rasch erfolgt. Im Dezember 1999 hatte der Bundesparteitag der SPD beschlossen, ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten. Zwar hatte man gerade vor zehn Jahren erst die Arbeiten an dem letzten Grundsatzprogramm abgeschlossen. Dieses war jedoch Opfer der Zeitläufte geworden: Kaum war es beschlossen, fiel die Mauer und die Welt sah schon wieder anders aus. Auch die Globalisierung mit ihren Chancen und Herausforderungen hatte im Berliner Grundsatzprogramm kaum eine Rolle gespielt. In dem jetzt durch den SPD-Bundesparteitag in Hamburg Ende Oktober beschlossenen neuen Grundsatzprogramm bildet die Globalisierung – eher die Herausforderungen und Widersprüche denn die Chancen – einen thematischen Schwerpunkt mit dem Tenor: Wir müssen die Globalisierung gestalten und können das auch. Das „soziale Europa“, Vorbild auch für andere Teile der Welt, soll die Antwort sein. „Nur in gemeinsamer Sicherheit und Verantwortung, nur in Solidarität und Partnerschaft werden die Völker, Staaten und Kulturen das Überleben der Menschheit und des Planeten sichern können.“
Öffnung zu den Kirchen
Dem mit nur zwei Gegenstimmen in Hamburg angenommenen Grundsatzprogramm soll nun nach dem Willen der Verantwortlichen längere Gültigkeit beschieden sein als dem vorgängigen Berliner Programm. Dieses habe leider nie die Ausstrahlungskraft besessen wie das so genannte Godesberger Programm von 1959, erklärte in Hamburg SPD-Generalsekretär Hubertus Heil. Je nach ihrem historischen Kontext, so Heil, hätten die Grundsatzprogramme sehr unterschiedliche Funktionen gehabt, im einen Fall eher nach innen, im anderen eher nach außen ihre Wirkung entfaltet: So sollte das Erfurter Programm von 1891, geschrieben gegen die feindliche kaiserliche Obrigkeit, vor allem der Orientierung der eigenen Mitgliedschaft und Anhängerschaft dienen. Ganz anders als das Godesberger Programm, mit dem die Klassen-, die Arbeiterpartei SPD ihre Öffnung zur Volkspartei vollzog. Viele, die vorher draußen standen, hatten so Heimat finden können in der Sozialdemokratie. Ausdrücklich benannte der SPD-Generalsekretär dabei jene, die sich aus christlichem Antrieb und Glauben politisch engagierten: „Menschen wie Erhard Eppler, wie Johannes Rau und Gustav Heinemann, die wir heute wie selbstverständlich zu uns rechnen, die der Öffnungsprozess zum Dialog mit den christlichen Kirchen von 1959 sehr berührt hat.“ Im Godesberger Programm, an dessen Entstehung der Jesuit und Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning mitgewirkt hatte, war zum ersten Mal das Christentum als eine Wurzel der Sozialdemokratie benannt, erstmals auch der besondere Auftrag der Kirchen ausdrücklich anerkannt worden. Seit Godesberg – so bekräftigt jetzt auch das Hamburger Programm in der einführenden Passage zu Grundwerten und Grundüberzeugungen – verstehe sich die deutsche Sozialdemokratie als „linke Volkspartei, die ihre Wurzeln in Judentum und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung hat.“ Dabei ist die ausdrückliche und eigenständige Erwähnung des Judentums offenbar einer späten Änderung des Textentwurfes noch während des Parteitages geschuldet; eine explizite Wertschätzung der Rolle jüdischer Intellektueller. Seit April 2007 gibt es in der SPD einen „Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokraten“.
Mit dem Hamburger Programm scheint der Öffnungsprozess zum Dialog mit den christlichen Kirchen noch einmal einen Schritt weiter gekommen, schlicht selbstverständlich geworden zu sein. Die SPD habe ein noch deutlich gelasseneres Verhältnis zu den Kirchen entwickelt, als sie es noch in ihrem Berliner Programm gezeigt hatte, erklärte jetzt die Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese, Beauftrage der SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften und Mitglied der EKD-Synode. Entsprechend wird man auf Seiten der Kirchen einige Passagen des neuen Grundsatzprogramms mit Genugtuung, wenngleich auch ohne große Überraschung gelesen haben.
Tugenden und Werte vermitteln
Dem Wirken von Kirchen und Religionsgemeinschaften widmet das Programm einen eigenen Abschnitt, eingebunden in die Vision einer „solidarischen Bürgergesellschaft“. Diese Passage zu „Kirchen, Religions- und Weltanschaungsgemeinschaften“ beschränkt sich zwar auf nur knappe zehn Zeilen. Dies ist jedoch gar nicht so wenig, sind die für das Programm Verantwortlichen doch stolz, das ganze Grundsatzprogramm auf nur 38 Seiten gebannt zu haben. So müssen nur wenige Zeilen mehr auch reichen für das „Bild vom Menschen“: „Die gleiche Würde aller Menschen ist Ausgangspunkt und Ziel unserer Politik.“ Nur drei Seiten werden der damit recht dichten Skizze der „Zeit, in der wir leben“ gewährt. Ausdrücklich bekennt sich die Partei zunächst zum „jüdisch-christlichen und humanistischen Erbe Europas und zur Toleranz in Fragen des Glaubens.“ Verbunden wird dies mit der Selbstverpflichtung,„die Freiheit des Denkens,des Gewissens, des Glaubens und der Verkündigung“ verteidigen zu wollen.
Höchsten Respekt aber zollt man den Kirchen insbesondere für ihre Rolle in der solidarischen Bürgergesellschaft und rechnet dabei offenkundig mit einem verlässlichen Verbündeten zur Schaffung dessen, was in der Einleitung des Programms als „solidarische Mehrheit“ bezeichnet wird:„Für uns ist das Wirken der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch nichts zu ersetzen, insbesondere wo sie zur Verantwortung für die Mitmenschen und das Gemeinwohl ermutigen und Tugenden und Werte vermitteln, von denen die Demokratie lebt.“ Und unsere Demokratie befinde sich in einer Vertrauenskrise, wie es zur Lage des Landes heißt.
Ohne die „lebendige Bürgergesellschaft“, als deren Träger neben den Kirchen und Religionsgemeinschaften, Parteien, Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände benannt werden, kann Demokratie nicht funktionieren. Sie muss den Staat „kontrollieren, korrigieren, anspornen, entlasten und ergänzen.“ Gleichwohl soll sie den Staat nicht ersetzen beziehungsweise kann sich eine vitale Zivilgesellschaft nur bilden, wo der Staat seinen Pflichten nachkommt. Als Partner auf dem Weg „zu einer humanen, zukunftsfähigen Gesellschaft“ verpflichtet sich die Partei, das Gespräch mit den Kirchen zu suchen. Wobei dies längst eingespielte Praxis ist: Regelmäßig treffen sich seit Jahren schon beispielsweise die Parteispitze mit der Bischofskonferenz ebenso wie mit dem Präsidium des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Wenige Tage nach dem Parteitag sollte sich der gute Kontakt zwischen den Kirchen und das deutlich gelassenere Verhältnis zu zumindest einem Teil der SPD bestätigen: Verschiedene Vertreter der katholischen Kirche würdigten die Arbeit des aus familiären Gründen zurückgetretenen Arbeitsministers Franz Müntefering und betonten dabei die gemeinsamen Anliegen: So bezeichnete der Leiter des Katholischen Büros bei der Bundesregierung, Prälat Karl Jüsten, Müntefering als verdienten Mitstreiter der Katholischen Soziallehre. Auch der Trierer Bischof Reinhard Marx, Vorsitzender der Kommission der Bischofskonferenz für gesellschaftliche Fragen, dankte dem scheidenden Minister für seine beeindruckende Arbeit in den letzen Jahren; in seinem Einsatz für eine gerechtere Gestaltung des Arbeitsmarktes und der sozialen Ordnung habe Müntefering nie seine Verwurzelung in den grundlegenden kirchlichen Sozialprinzipien geleugnet. Zumindest konfessionell ist dabei das in Hamburg neu gewählte SPD-Präsidium ausgewogen besetzt: Kurt Beck,dem persönlich ein ausgesprochen gutes Verhältnis zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, nachgesagt wird, und Andrea Nahles sind katholisch, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück evangelisch.
Unverzichtbarer Beitrag der Muslime
Bei gemeinsamen Aufgaben wolle man zusammenarbeiten „in freier Partnerschaft“, bekräftigt das Hamburger Grundsatzprogramm. Dabei hatten die Autoren wohl vor allem den ganzen sozialpolitischen Bereich im Blick, dessen gerechte und zugleich zukunftsfeste Ausgestaltung unter dem Schlagwort vom „vorsorgenden Sozialstaat“ entfaltet wird: „Wir wollen den vorsorgenden Sozialstaat, der Sicherheit, Teilhabe und gleiche Lebenschancen gewährleistet.“ Als Partner zählt man auf die Kirchen aber auch beim Ringen um eine friedlichere Welt. „Zivilgesellschaftliche Organisationen“, unter die die Kirchen umstandlos und ohne Rücksicht auf ein doch etwas weitergehendes Selbstverständnis subsumiert werden, hätten für die Völkerverständigung eine hohe Bedeutung. „Wir verstehen uns als Partner des Internationalen Gewerkschaftsbundes, der Nichtregierungsorganisationen und Kirchen, die immer wieder den Blick auf internationale Konflikte lenken und Lösungsansätze entwickeln.“ Ausdrücklich wird am Ende des Kirchen-Passus dabei bekräftigt, man achte das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, „ihre inneren Angelegenheiten im Rahmen der für alle geltenden Gesetze autonom zu regeln.“ Diese Autonomie war im Berliner Programm von 1989 noch ausdrücklich begrenzt auf Verkündigung, Seelsorge und Diakonie.
Eine explizite Erwähnung der Muslime als der stärksten religiösen Gruppe nach den christlichen Kirchen findet sich in einer Passage zur „Kultur der demokratischen Gesellschaft“. Dabei betonen die Autoren des Grundsatzprogrammes erneut: „Eine friedliche Vielfalt wird nur möglich sein, wenn wir uns unserer geistigen Wurzeln in jüdisch-christlicher Tradition – die auch von griechischer Philosophie, römischem Recht, arabischer Kultur beeinflusst worden ist – und in Humanismus und Aufklärung versichern.“ Nur eine ebenso wertefundierte wie tolerante Kultur könne sich gegen den Versuch behaupten, Kultur und Religion als Mittel der Ausgrenzung zu missbrauchen. Für den Dialog der Religionen und das friedliche Zusammenleben in Deutschland sei der Beitrag der hier lebenden Muslime gleichfalls unverzichtbar.