Vor fünf Jahren, im August 2002, präsentierte Peter Hartz seine Arbeitsmarktreform. Es war ein weihevoller Akt. Im Berliner Dom stellte er seine 13 „Innovationsmodule“ vor, mit denen seine Kommission den deutschen Arbeitsmarktrevolutionieren wollte. Es wirkte passend, den Hartz-Bericht in einer Kirche vorzustellen. Denn der Text war ein Heilsversprechen. Auf 343 Seiten wurde ausgebreitet, wie sich die Zahl der Arbeitslosen von vier auf zwei Millionen halbieren ließe. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sah keinen Anlass, „die Formulierung der Ziele in Zweifel zu ziehen“ und wollte die Vorschläge der Hartz-Kommission eins zu eins umsetzen. Obwohl dies bisher nicht geschehen ist, sind die grundlegenden Optionen des Hartz Berichtes für die Umgestaltung der Arbeitsmarktpolitik vorrangig im Sozialgesetzbuch II (SGB II) Gesetzesrealität geworden. Die Vorschläge der Hartz-Kommission und die daraus resultierenden vier Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden – im Kontext der so genannten Agenda2010 – als Antwort auf die Krise des Sozialstaats formuliert: Nur der Umbau des Sozialstaats und die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik seien ein Garant für den Erhalt des Sozialsystems. Das zentrale Mittel dafür sei die steigende Verantwortung des Einzelnen: „Die Bürgerinnen und Bürger sollen in Notlagen mehr Verantwortung für sich und ihre Partner und Familienübernehmen. Dadurch kann der Sozialstaat entlastet werden und sich auf die Hilfe für diejenigen konzentrieren, die es alleine nicht schaffen“ (Agenda 2010, Die Ausgangslage, 2003).
Arbeitslosigkeit als Problem des einzelnen Arbeitslosen
Die Betonung der Eigenverantwortung findet sich als durchgängiges Prinzip aktueller Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen und wird in unterschiedlicher Weise umgesetzt. Im Rahmen der Neuordnung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zeigt sich dieses Prinzip insbesondere darin, dass die hohe Arbeitslosigkeit nicht als ein strukturelles Problem definiert wird, das durch politisches und ökonomisches Handeln zu lösen ist, sondern als Problem der einzelnen Arbeitslosen, die je spezifische Vermittlungshindernisse an sich tragen. Deshalb wird die Lösung des Problems von staatlichem Handeln abgespalten und den Arbeitslosen selbst übertragen. Sie sollen, unterstützt von Jobcentern, also Institutionen der Arbeitsverwaltung, die Vermittlungshindernisse abbauen, die ihre Integration in den ersten Arbeitsmarkt verhindern. Wenn sich Arbeitssuchende – im SGB II als erwerbsfähige Hilfebedürftige bezeichnet – nicht angemessen am Abbau der Vermittlungshindernisse beteiligen, so drohen ihnen Sanktionen in Form von Leistungskürzungen. Als Angebot seitens der Arbeitsverwaltung gilt in diesem Konzept ein intensiver Aktivierungs- und Betreuungsprozess, in den Elemente der Arbeitsvermittlung, des Fallmanagements und der sozialen Dienstleistungen integriert sind. Zur Existenzsicherung erhalten Hilfebedürftige Transferleistungen (die Grundsicherung), die auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe angesiedelt ist. Die Prüfung der Bedürftigkeit bedeutet auch die Einbeziehung des Einkommens und des Vermögens aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Zusammengefasst ist diese Politik in dem Slogan „Fördern und Fordern“.
Zentrales Ziel der Aktivierungsstrategie der Hartz-IV-Reform ist die Förderung der Eigenverantwortung zur Erhöhung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit. Wenn der Ansatz der Aktivierung die Eigeninitiative zur Aufnahme einer regulären Beschäftigung stärken soll, so müssen die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik daraufhin überprüft werden, ob sie die unmittelbaren oder späteren Beschäftigungschancen – auch nachhaltig – verbessern. Wenn mit Eigeninitiative mehr gemeint ist als die Erhöhung des Drucks auf die Arbeitslosen, dann müssen neben den Elementen, die den „Anreiz“ zur Arbeitsaufnahme erhöhen, solche vorhanden sein, die die Autonomie der Arbeitslosen stärken. Zu den wichtigsten Instrumenten der Reform, die sich unmittelbar auf Umfang und Qualität des Arbeitsangebots auswirken, gehört erstens die Ausgestaltung der Lohnersatzleistungen und der Transferleistung im Sinne der Grundsicherung. Zweitens vermag der Zugang zu beruflicher Weiterbildung und Arbeitsmarktmaßnahmen das Erwerbsverhalten der Arbeitslosen zu beeinflussen und drittens spielt das Angebot von Beratungs- und Vermittlungsdienstleistungen eine wichtige Rolle bei der Neujustierung der Verantwortlichkeit zwischen Arbeitsverwaltung und Arbeitslosen. Im September 2007 erhielten laut dem Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit rund acht Millionen Menschen Arbeitslosengeld I, II oder Sozialgeld. Rund eine Million Erwerbslose erhielten Arbeitslosengeld I (beitragfinanzierte Versicherungsleistung nach SGB III), fünf Millionen Menschen Arbeitslosengeld II (Transfereinkommen nach SGB II). Knapp die Hälfte davon ist arbeitslos gemeldet. Im Zuge der Hartz-IV-Reform ist der Anteil der Leistungsbezieher und -bezieherinnen, die Arbeitslosengeld I erhalten, deutlich reduziert worden. Der durchschnittliche Betrag des Arbeitslosengeldes I beläuft sich auf rund 800 Euro. Die Absenkung der Leistungen bei Langzeitarbeitslosigkeit und die Verlagerung der Vorsorge in den privaten Bereich ist als ein Prozess der „Re-Kommodifizierung“ zu verstehen: Indem Sozialleistungen gekürzt werden, verstärkt sich der Druck auf den Einzelnen seine Arbeitskraft zu verwerten. Die deutlichste Veränderung in der Sicherung von Arbeitslosen besteht jedoch in der Einführung des Arbeitslosengeldes II, also der Grundsicherung für „bedürftige“ und „erwerbsfähige“ Erwerbssuchende, die die lebensstandardbezogene Arbeitslosenhilfe ersetzt. Die neue Grundsicherung, die im Sozialgesetzbuch II geregelt ist, führt in der Mehrzahl der Fälle zu einer finanziellen Verschlechterung der Lebenssituation der vormaligen Arbeitslosenhilfebezieher. Der Eckregelsatz im Arbeitslosengeld II beläuft sich auf 347 Euro.
Eine verstärkte Refamiliarisierung des Risikos Arbeitslosigkeit
Die Wohlfahrtsverbände haben wiederholt reklamiert, dass dieser Regelsatz nicht das soziokulturelle Existenzminimum sichere und eine Erhöhung auf 420 Euro verlangt. Diese Steigerungsrate um rund 20 Prozent ergebe sich dabei nur zu einem kleineren Teil aus dem veränderten Verbrauchsverhalten, sondern vor allem aus einer nicht sachgerechten Anerkennung der Bedarfe der betroffenen Personen. Das Bundessozialgericht hat jedoch mit Urteilsspruch vom 23.11.2006 die Regelsatzhöhe nicht verworfen. Die breitere Einführung der „Bedarfsgemeinschaft“ (gab es bereits im Bundessozialhilfegesetz) bedeutet eine verstärkte Refamiliarisierung des Risikos „Arbeitslosigkeit“. In Hartz IV ist das Familieneinkommen und nicht mehr das früher erzielte Erwerbseinkommen Grundlage der Leistungsberechnung. Partnereinkommen werden verstärkt angerechnet. ALG-II-BezieherInnen unter 25 Jahren werden in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern einbezogen und erhalten 80 Prozent des Regelsatzes. Im Falle eines Auszuges haben sie nur Anspruch auf Leistungen für Miete und Mietnebenkosten, wenn der kommunale Träger dies vorher zugesichert hat. Diese Zusicherung muss nur dann erteilt werden, wenn die Betroffenen aus „schwerwiegenden sozialen Gründen“ nicht in der Wohnung ihrer Eltern oder eines Elternteils leben können, sie aus beruflichen Gründen bei ihren Eltern ausziehen müssen oder ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt. Dies schränkt die Perspektiven für ein eigenständiges Leben stark ein. Der Gesetzgeber hat 1996 ein so genanntes Lohnabstandsgebot eingeführt. Als Vergleichsgröße für die Ermittlung der Regelsätze wurde das Nettoarbeitsgehalt unterer Lohngruppen eines Alleinverdieners mit Frau und drei Kindern zuzüglich Wohn- und Kindergeld herangezogen. Diese Familie sollte in jedem Fall ein höheres Einkommen erlangen als eine vergleichbare Familie im Sozialhilfe- beziehungsweise Grundsicherungsbezug. Dahinter steckt die durchaus plausible Idee, dass Personen, die arbeiten, in der Regel mehr Geld zur Verfügung haben sollen als Personen, die nicht arbeiten. Dies war solange kein Problem, wie die tatsächlich ausgezahlten Löhne auch oberhalb des staatlich definierten Existenzminimums lagen. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt verdeutlicht allerdings, dass es immer mehr Menschen gibt, die von ihrer Erwerbstätigkeit nicht mehr leben können, das heißt Löhne beziehen, die für sie selbst und ihre Familie unterhalb des staatlich definierten Bedarfssatzes verbleiben. Inzwischen sind es mehr als eine Million Beschäftigte, die aufstockende Leistungen in Anspruch nehmen. Hinzu kommen nach Schätzungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes mehr als zwei Millionen Erwerbstätige, die ihren Anspruch, aufstockende Leistungen zu beziehen, nicht geltend machen. Das heißt, dass das Lohnabstandsgebot an dem der Regelsatz orientiert ist, nicht verhindert, dass Löhne unter das Existenzminimum sinken beziehungsweise bereits gesunken sind. Vielmehr führt die Ausbreitung von Niedriglöhnen dazu, dass die Grundsicherung zunehmend die Funktion eines Kombilohnes übernimmt, die vorhandene Probleme auf dem Arbeitsmarkt eher verstärkt als reduziert. Denn gerade im unteren Einkommensbereich ist davon auszugehen, dass der Lohndruck umso stärker ausfällt, je geringer das gesetzliche Existenzminimum veranschlagt ist, und ein sinkendes Niveau im Niedriglohnsegment drückt wegen des Lohnabstandsgebotes und der Methode der Regelsatzberechnung wiederum auf das soziokulturelle Existenzminimum. Es ist daher davon auszugehen, dass rund 20 Prozent aller Erwerbstätigen Löhne beziehen, die unter der Niedriglohngrenze liegen. Es spricht einiges dafür, dass ein Lohnabstandsgebot nicht allein von Seiten der Grundsicherung eingehalten werden kann, sondern auch von Seiten der Löhne eingehalten werden muss. Es wird also darum gehen müssen, den Niedriglohnsektor durch eine verbindliche Einkommensuntergrenze zu begrenzen. Festzuhalten bleibt, dass eine armutsfeste Grundsicherung in Deutschland nicht besteht. Sie ist das Pendant zu Existenz sichernden Löhnen. Diese Situation bedeutet unter ethischer Rücksicht eine gravierende Gerechtigkeitslücke.
Zusatzjobs sind bislang zu wenig zielgruppenorientiert
Die Qualifizierungs- und Weiterbildungsförderung entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. In der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik seit 2005 haben die Integrationsinstrumente „ABM“ und „FbW“ (Förderung beruflicher Weiterbildung“) deutlich an Bedeutung verloren. Die Zahl der Teilnehmenden an beruflicher Weiterbildung sinkt. Nur noch 188 000 Arbeitslose werden im Jahr 2007 qualifiziert, das sind drei Prozent weniger als im Vorjahr. Im Bereich der Weiterbildung wurde zwar der Versuch unternommen, im Sinne der Betroffenen die Transparenz und Wahlmöglichkeiten zu erhöhen; gleichzeitig begrenzen die verschärften administrativen Zielvorgaben in diesem Bereich die Förderungsmöglichkeiten der weniger leicht Vermittelbaren erheblich. Die Teilnahmechancen der arbeitsmarktpolitischen Problemgruppen sind beträchtlich gesunken.
1,44 Millionen Personen werden im Jahr 2007 in Arbeitsmarktmaßnahmen gefördert. An erster Stelle sind hier die Arbeitsgelegenheiten gefolgt von Lohnzuschüssen zu nennen. Es besteht die gesetzliche Möglichkeit, Arbeitslosengeld-II-Empfängern so genannte Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung zuzuweisen. Gemäß § 16 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 sind Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung nachrangig gegenüber allen anderen Förderinstrumenten, insbesondere jenen, die inhaltlich auf dem SGB III fußen. Sie werden daher zu Recht auch als arbeitsmarktpolitische ultima ratio bezeichnet. Der praktische Einsatz der Arbeitsgelegenheiten scheint aber den gesetzlichen Anforderungen bislang in vieler Hinsicht nicht zu entsprechen, worin sich ein weiteres Gerechtigkeitsproblem zeigt. Aktuelle Forschungsergebnisse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) liefern umfangreiches empirisches Material zum Einsatz der Arbeitsgelegenheiten (Kettner/Rebien: Soziale Arbeitsgelegenheiten, IAB-Forschungsbericht Nr. 2/2007; Hohendanner: Verdrängen Ein-Euro-Jobs sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in den Betrieben? IAB-Discussion-Paper Nr. 8/2007). Die wichtigsten Ergebnisse: Fast die Hälfte aller Betriebe mit Zusatzjobs erfüllt zumindest für einen Teil der Zusatzjobs die gesetzlichen Voraussetzungen für deren Einrichtungen nach SGB II nicht. Reguläre Arbeit wird in nicht zu vernachlässigendem Umfang ersetzt durch Zusatzjobs. Zusatzjobs sind in der Regel keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt; nur etwa zwei Prozent der Ein-Euro-Jobber haben eine Chance, in eine weitere Beschäftigung übernommen zu werden. Ostdeutsche „Zusatzjobber“ sind häufiger weiblich, besser für die Tätigkeit qualifiziert und erfüllen in höherem Ausmaß die Erwartungen der Betriebe als westdeutsche „Zusatzjobber“. Der überwiegende Teil der Betriebe bescheinigt den Zusatzjobbern eine hohe oder befriedigende Arbeitsmotivation, wobei diese Einschätzung in Ostdeutschland positiver ausfällt als in Westdeutschland. Rund ein Viertel der bisher in Zusatzjobs beschäftigten Personen wurden von den Betrieben als nicht geeignet für eine ungeförderte Beschäftigung befunden. Der wichtigste Grund für die Nichteignung ist eine ungenügende berufliche Qualifikation.
Die vorliegenden Forschungsergebnisse zeigen: Die Zusatzjobs sind nicht nur bislang zu wenig zielgruppenorientiert, sondern entsprechen auch nicht den gesetzlichen Anforderungen. Vielmehr werden offensichtlich in relevantem Ausmaß reguläre Arbeitsplätze durch Zusatzjobs ersetzt. Das Ergebnis ist nicht zusätzliche, sondern schlechtere Beschäftigung. Auf diese Weise wird durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in entsprechenden Einrichtungen befördert. Zusatzjobs werden häufig – zumindest auch – aus wirtschaftlichem Interesse der Träger an weitgehend kostenlosen Arbeitskräften und aus finanziellem Interesse an der Trägerpauschale der Arbeitsverwaltung eingesetzt. Gerade weil die Maßnahmen wenig zielgruppenorientiert sind und teilweise nicht mit arbeitsmarktpolitischen Integrationszielen abgestimmt sind, sondern lediglich dazu dienen, die Arbeitsbereitschaft zu testen, können gut qualifizierte und motivierte Personen in Zusatzjobs gelangen, wodurch die Betriebe ihre Wertschöpfung ohne zusätzliche Lohnkosten erheblich steigern. Die Erfolge im Sinne einer gelungenen Integration in den ersten Arbeitsmarkt sind bei den Zusatzjobs gering und bedürfen weiterer spezieller Untersuchungen.
Fordern ohne Fördern verstärkt die Vereinzelung und erhöht den Druck auf Arbeitslose
Die entscheidende Herausforderung besteht darin, Zusatzjobs ihrem arbeitsmarktpolitischen Zweck entsprechend einzusetzen. Dies könnte bedeuten, ihren Einsatz quantitativ deutlich zu beschränken, sie auf Langzeitarbeitslose zu konzentrieren, die trotz intensiver Integrationsbemühungen keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, und sie stärker mit Qualifizierung zu verbinden. In diesem Zusammenhang ist auf den Vorschlag der Wohlfahrtsverbände zu verweisen, einen so genannten „Dritten Arbeitsmarkt“ zu schaffen. Vorrangiges Ziel wäre die soziale Integration in Arbeit beziehungsweise Beschäftigung auf freiwilliger Basis.
Mit dem „Vermittlungsskandal“ der Bundesagentur für Arbeit begann 2002 der Umbau der Bundesagentur für Arbeit und die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Nach den Vorstellungen der Hartz-Kommission zielte der Übergang von der „aktiven“ zur „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik vor allem auf einen Bruch mit dem bisherigen Verständnis des Kerngeschäfts von Arbeitsberatung und -vermittlung. Schafft die neue Doppelstruktur von Arbeitslosenversicherung und Fürsorge am Arbeitsmarkt Dienstleistungen erster und zweiter Klasse? Was geschieht wirklich in der neuen Welt der „Kundenzentren“ und „Job-Centern“, in denen VermittlerInnen und FallmanagerInnen Arbeitsuchende „fordern“ und „fördern“ sollen? Helfen die neuen Arbeitsmarktgesetze bei der Jobsuche und beim „Matching“ von BewerberInnen und offenen Stellen? Die Vorschläge der „Hartz-Kommission“ sahen „Job-Center“ als einheitliche Stellen für die Beratung und Betreuung aller Arbeitsuchenden vor. Stattdessen entstanden seit 2005 im Rechtskreis des SGB II völlig neue Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, noch dazu nach den konkurrierenden Modellen der Arbeitsgemeinschaften (Argen) und Jobcenter in rein kommunaler Trägerschaft. Im Rechtskreis des SGB III wurde mit dem Umbau der Arbeitsämter zu „Kundenzentren“ eine verbindliche, weitgehend veränderte Aufbauorganisation eingeführt, die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen arbeiten soll. Diese Aufspaltung der Arbeitsverwaltung in SGB II und SGB III, in Versicherung und Fürsorge gilt heute als Achillesferse der deutschen Arbeitsmarktpolitik.„Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – diesen Anspruch der neuen Arbeitsmarktgesetze soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende insbesondere durch integrierte Beratung und Betreuung erfüllen. Das neue „Fallmanagement“ soll für hilfebedürftige Personen „Leistungen aus einer Hand“ ermöglichen und sowohl für die Betroffenen als auch für die Arbeitsverwaltung optimierende Wirkungen hin auf das Oberziel „Beschäftigungsfähigkeit im ersten Arbeitsmarkt“ erzielen. Bereits im Rahmen der Verabschiedung der Hartz-Gesetze wurde das Konstrukt „Fallmanagement“ heftig kritisiert. Mittlerweile liegen erste Ergebnisse aus der empirischen Arbeitsmarktforschung vor, die diese neue „Dienstleistungstechnologie“ kritisch bewerten. Das Leitbild des „modernen Dienstleisters“, der vom Bedarf im Einzelfall ausgehen soll, zur Eigenaktivität befähigen und Wunsch- und Wahlrechte der Leistungsberechtigten berücksichtigt, ist im Alltag der Arbeitsverwaltung nicht realisiert. Der „moderne Arbeitsmarktdienstleister“ wird zur „Matching-Maschine“ mit standarisiertem Massengeschäft, virtuellem Arbeitsmarkt und Vermittlung als Anlerntätigkeit. Viele Sachbearbeiter in den Argen und Jobcentern verfügen über mangelhafte professionelle Voraussetzungen.
Die Entwicklung von Erziehungsinstrumenten steht im Vordergrund
Bezogen auf die betroffenen Arbeitslosen lässt sich konstatieren: Fordern ohne Fördern verstärkt die Vereinzelung, wirkt nicht beschäftigungsfördernd und erhöht den Druck auf Arbeitslose. Das Fordern stört beim Fördern: Es wird gerade nicht zur Eigenverantwortung befähigt, wenn nur an die Leistung der Hilfebedürftigen appelliert wird.
In der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik wird das individuelle Verhalten des Arbeitslosen zum Bezugspunkt der arbeitsmarktpolitischen Intervention. Aktivierung bedeutet, durch geeignete Verhaltensanreize unerwünschtes Verhalten zu verhindern und erwünschtes Verhalten zu erzeugen. Damit ist der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ein erzieherischer Aspekt inhärent: Die Arbeitslosen sollen zu nützlichen Marktsubjekten geformt werden. Dieses Ziel ist allen Instrumenten der Aktivierungspolitik gemeinsam. Allerdings hängt die Möglichkeit einer erfolgreichen Aktivierung maßgeblich davon ab, wie nah oder wie fern die erwünschten Eigenschaften den Arbeitslosen sind: Eine Förderung kommt in der Praxis überwiegend solchen Arbeitslosen zugute, bei denen ein zeitnaher Integrationserfolg erwartet wird, während Personen mit einem hohen Betreuungsbedarf kaum unterstützt werden. Die Chancen, in den Genuss einer Förderung zu kommen, sind also ungleich verteilt. Genau darin zeigt sich die Widersprüchlichkeit der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik: ausgerechnet diejenigen, die besonders förderungsbedürftig sind, werden oftmals von der Förderung ausgeschlossen. Faktisch erweisen sich das Fallmanagement und die persönlichen Ansprechpartner nicht als Weg, um eine bedarfs- und personengerechte Dienstleistung spezialisiert und arbeitsteilig zu erbringen. Der Aufschwung am Arbeitsmarkt geht an den Hartz-IV-EmpfängerInnen weitgehend vorbei. Die Vermittlung und Betreuung von Arbeitslosen konzentriert sich auf die Arbeitslosenversicherung (SGB III-Rechtskreis) mit vorwiegend Kurzzeitarbeitslosen. Das Gros der Arbeitslosigkeit verlagert sich noch weiter in das Hartz-IV-System (SGB II-Rechtskreis). Entgegen dem Vorhaben, die Eigenverantwortung der Bürger und Bürgerinnen zu fördern, hat sich der Gesetzgeber auf die Entwicklung von Kontroll- und Erziehungsinstrumenten zur hierarchischen Steuerung des individuellen Verhaltens konzentriert. Dabei zeigen Analysen der bisherigen Sanktionsregelung beim Arbeitslosengeld I, dass Verhaltensänderungen durch diese Steuerungsinstrumente nicht zu erzielen sind und eine Beschleunigung der Vermittlungsprozesse kaum erreicht wird. Die Sozialstaatslogik wird damit ins Gegenteil verkehrt. Solidarische Sicherungszusammenhänge werden durch paternalistische und autoritäre Kontrollstrukturen ersetzt, die, implementiert durch eine nicht entsprechend informierte oder mit Handlungsmöglichkeiten ausgestattete Arbeitsverwaltung, restriktive, zuweilen sogar repressive Wirkung entfalten. Damit aber wird das in einem demokratischen Sozialstaat zentrale Selbstbestimmungsrecht der Bürger und Bürgerinnen eingeschränkt und nicht vergrößert. Die verstärkten Kontroll- und Repressionsmöglichkeiten widersprechen dem christlichen Menschenbild.
Sozialstaatslogik wird ins Gegenteil verkehrt
Was die materielle Unterstützung von Arbeitslosen angeht, die Bildung und Qualifizierung von Arbeitslosen und die Beratungs- und Vermittlungsdienstleistungen für Arbeitslose weist die Arbeitsmarktreform deutliche Gerechtigkeitsdefizite auf. Fünf Jahre seit dem Auftakt der Reformdebatte und drei Jahre Gesetzesrealität verbieten es, von fortgesetzten Umstellungsproblemen in der Jahrhundertreform zu sprechen. Die neue Eigenverantwortung der hilfebedürftigen Personen erweist sich nicht als Stärkung der Autonomie des Einzelnen im Gemeinwesen, sondern macht ihn eher zum freigesetzten, auf Dauer ausgegrenzten Marktsubjekt. Die Hartz-IV-Reform ist, gemessen an ihrer zentralen Zielsetzung, in wesentlichen Aspekten gescheitert.