Im Juni 1963 schrieb Rabbi Abraham Joshua Heschel an Präsident J. F. Kennedy ins Weiße Haus, der ihn zu einem Treffen religiöser Führer zum Thema „Rassismus“ eingeladen hatte, folgende Antwort: „Freue mich über Privileg, morgen 4 p.m. auf Treffen anwesend zu sein. Wahrscheinlich wird Rassismus wie das Wetter sein. Jeder spricht davon, aber niemand tut etwas. Bitte, verlangen Sie von den religiösen Führern persönliches Engagement, nicht nur feierliche Erklärungen. Wir verwirken das Recht, Gott zu verehren, wenn wir weiterhin Schwarze demütigen. Kirche und Synagoge haben versagt. Sie müssen bereuen. Fordern Sie die religiösen Führer auf, nationale Buße und persönliches Opfer zu verlangen. Die religiösen Führer mögen ein Monatsgehalt in einen Fonds für Wohnungen und Ausbildung der Schwarzen einbringen. Ich schlage vor, dass Sie, Herr Präsident, den moralischen Notstand erklären. Ein Marschall-Plan für die Schwarzen wird eine Notwendigkeit. Die Stunde verlangt nach moralischer Größe und geistigem Mut.“
Wer war Rabbi A. J. Heschel, dessen Leben sich größtenteils im Studierzimmer und in den Seminarräumen des Jewish Theological Seminary in New York (von 1945–1972) abspielte? Dessen unglaubliche Gelehrsamkeit von Kollegen gerühmt wurde, der wie wenige in die USA emigrierte Juden Osteuropas sowohl osteuropäische jüdische Tradition als auch westliche Bildung und Kultur in sich vereinigte? Was bewegte diesen Gelehrten, der in Hebräisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch seine Werke verfasste, sich auch in politischer Meinungsbildung und entsprechendem Handeln zu engagieren? Der soziales Unrecht als ein religiöses Anliegen verstand, und für den Religion ohne Entrüstung über politische Gräueltaten unmöglich war?
Abraham Joshua Heschel, dem heuer unter jüdischen Gelehrten ein Gedenkjahr gewidmet ist, wurde am 11. Januar 1907 in Warschau geboren und war Nachkomme einer bereits sieben Generationen umfassenden Familie von chassidischen Rabbinern. Beinahe alle großen Persönlichkeiten Osteuropas, die den Chassidismus inspirierten, waren mit Abraham J. Heschel verwandt. Seiner Herkunft gemäß wurde Heschel schon als kleines Kind mit besonderer Ehrerbietung behandelt. So erhoben sich die Erwachsenen, wenn er ein Zimmer betrat, als Geste der Achtung gegenüber seiner Familie. Seine außerordentlichen Begabungen wurden früh erkannt und man bezeichnete ihn als einen „Illui“, als ein Genie. Bereits im Alter von fünf Jahren hob man ihn auf einen Tisch, damit er gelehrte Auslegungen biblischer und talmudischer Texte halten konnte. Heschel war eine große Hoffnung für die chassidische Welt, die er aber nicht erfüllen sollte. 1923 verließ er das streng gesetzestreue Klima seiner Umgebung und zog nach Wilna, einem damaligen Zentrum des traditionellen wie fortschrittlichen jüdischen Kulturlebens, um dort das Gymnasium zu besuchen. 1927 übersiedelte er nach Berlin, schrieb sich an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein und besuchte zur selben Zeit das konservativ orthodoxe Hildesheimer Rabbinerseminar. Parallel zu diesen Studien belegte er 1929 an der Berliner Universität Philosophie, Kunstgeschichte und Semitische Philologie. Schon 1932 stellte er seine Dissertation „Die Prophetie“ fertig. 1934 wurde er zum Rabbiner ordiniert und erst 1935, drei Jahre nach Vollendung seiner letzten Prüfung erhielt er sein offizielles Doktordiplom. Geldmangel und die Machtergreifung Hitlers 1933 machten dem jüdischen Studenten die notwendige Veröffentlichung der Dissertation unmöglich. Sie wurde in der „Polnisch-wissenschaftlichen Akademie“ in Krakau veröffentlicht. 1937 lud Martin Buber Heschel ein, in Frankfurt das Jüdische Lehrhaus für Erwachsenenbildung zu leiten. Buber hatte sich ja bereits entschlossen, Deutschland zu verlassen. Im Oktober 1938 wurde Heschel mitten in der Nacht von der Gestapo verhaftet und unter unmenschlichen Bedingungen nach Polen deportiert, wo er einige Monate in einem Internierungslager verbringen musste. Im Sommer 1939, sechs Wochen vor Hitlers Überfall auf Polen, konnte Heschel nach London und im März des folgenden Jahres in die USA flüchten. Henschel kam niemals mehr nach Deutschland, Österreich und Polen zurück, obwohl er öfters dorthin eingeladen war. Aus seiner Erfahrung in Deutschland formulierte Heschel die ihn sein ganzes Leben lang bewegende Frage: „Wenn Deutschland, das solch eine hohe Kultur entwickelte, solch wundervolle Musik der Welt schenkte, Kathedralen, einzigartig in ihrer Schönheit, baute, so viele bedeutende Gelehrte und Künstler hervorbrachte...Wenn die Deutschen fähig waren zu tun, was sie taten, wie kann man sich da nur auf Humanität verlassen?“
Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil
Die erste Zeit lehrte Heschel im Hebrew Union College in Cincinnati und ab 1946–1972 am Hebrew College in New York jüdische Ethik und Mystik. Er wurde zum Lehrer von zwei Generationen von Studenten, deren Leben und Persönlichkeit er entscheidend prägen sollte.
Während der ersten Jahre in den USA musste er auch erfahren, dass fast seine ganze Familie in Europa von den Nazis vernichtet worden war. Er sprach öffentlich nie darüber. Aus diesem Schweigen ging aber eine bezeichnende Antwort durch sein Leben selbst hervor, er schwieg nicht, wenn Unrecht geschah. Er wusste, wie sehr wir alle in einem gemeinsamen Lebensbündel zusammengebunden sind, in einer unausweichlichen Verflochtenheit moralischer, sozialer und politischer Wirklichkeiten. Der öffentliche Protest, wenn offenbar Unrecht geschah, war für ihn eine innere Notwendigkeit, eine Pflicht, der er unbedingt folgte. Es war seine leidenschaftliche Reaktion auf das feige Verhalten so vieler gebildeter Menschen angesichts des Furchtbaren, das man seiner Familie und seinem Volk angetan hatte. Sicherlich war es auch die jahrzehntelang andauernde intensive Beschäftigung mit den Propheten Israels, die ihn für solch eine Lebenseinstellung sensibilisierte und ihn dazu führte, dass er sich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen an der Seite von Martin Luther King engagierte und gegen den Vietnamkrieg öffentlich Stellung bezog. Über das Studium der Propheten meinte er einmal: „Bei dieser Arbeit über die Propheten erkannte ich, dass ich nicht einfach lesend und schreibend in meinem Arbeitszimmer bleiben konnte, weil ein wirklich religiöser Mensch mit dem Leben anderer Menschen verbunden ist. Der Prophet ist doch ein Mensch, der das Unrecht, das anderen angetan wird, selber erleidet.“
In den sechziger Jahren wurde Heschel auch immer mehr in die Ereignisse des Zweiten Vatikanischen Konzils involviert. Schon 1961 wurde er vom American Jewish Comitee als ein Vertreter des Judentums zum Konzil gesandt. Er traf Kardinal Augustin Bea, zu dem sich eine herzliche Freundschaft entwickelte. Über Johannes XXIII. schrieb er: „Die große geistige Erneuerung innerhalb der römisch-katholischen Kirche, die Papst Johannes XXIII. heraufgeführt hat, ist ein Zeichen der Tiefe religiöser Existenz. Sie hat schon viele Herzen geöffnet und kostbare Erkenntnisse erschlossen.“ Heschel beeinflusste wesentlich die letzte Version des Konzilsdokumentes „Nostra Aetate“, in dem durch sein Eintreten die intendierte Aussage der Judenmission gestrichen wurde. „Sollte ich vor die Alternative gestellt werden: Konversion oder Tod, bin ich jederzeit bereit, nach Auschwitz zu gehen“, verkündete er den zuständigen Konzilsvätern. Zugleich aber gewann er während der Zeit des Konzils ein immer tieferes Verständnis für die katholische Kirche und fühlte eine starke Verbundenheit zu ihr.
Judentum
In dieser Zeit wurde er auch für Christen zu einem spirituellen Ratgeber. Bezeichnend dafür mag sein, dass einmal eine Gruppe von Nonnen zu ihm mit der Frage kam, ob sie ihren Habit weiter tragen sollten. Und er mahnte, dass man nicht zuviel von Glauben und Tradition preisgeben solle und klagte: „Warum werden so viele großen Religionen, die ihrem Ursprung im Mysterium hatten, schließlich zu sozialen Dienststellen?“ 1971 wurde er zu Gastvorlesungen nach Italien eingeladen, und während dieser Zeit trafen seine Frau und er in Privataudienz mit Paul VI. zusammen. In einer Tagebuchaufzeichnung berichtet Heschel über diese Begegnung: „Als mich der Papst sah, lächelte er freundlich, mit einem strahlenden Gesicht schüttelte er herzlich mit beiden Händen die meine. Das tat er während der Audienz einige Male. Er eröffnete unser Gespräch, indem er mir sagte, dass er meine Bücher gelesen habe, und dass sie sehr spirituell und sehr schön seien. Ja er sagte sogar, dass die Katholiken meine Bücher lesen sollten. Er hoffe, dass ich noch mehr schreiben würde und fügte hinzu, dass er wisse, welch starken Eindruck meine Schriften auf junge Menschen machten, und dass er dies besonders schätze.“ Am 31. Januar 1973, einige Wochen nach dem Tod Abraham J. Heschels sprach Paul VI. in einer allgemeinen Audienz über des Menschen Suche nach Gott. Gegen Ende seiner Ausführungen erinnerte er seine Hörer daran, dass, ehe wir uns auf die Suche nach Gott machten, Er schon auf der Suche nach uns sei, eine Anspielung auf Heschels Buch „Gott sucht den Menschen“. Dabei waren es nicht diese Worte, die die Aufmerksamkeit der Weltpresse erregten, sondern der Umstand, dass der später veröffentlichte Text der Ansprache die Schriften Abraham J. Heschels als Ursprung dieses Gedankens angab. Es war wohl das erste Mal geschehen, dass ein Papst die Schriften eines nicht christlichen Schriftstellers als Grundlage seiner Ausführungen verwendet hatte.
Es war die Morgenfrühe des Sabbats, am 23. Dezember 1972, als Rabbi Heschel überraschend, jedoch voller Frieden starb, der Tag, dem er in seinem vielleicht berühmtesten Buch „Der Sabbat“ ein unvergleichliches Denkmal gesetzt hat. Nach jüdischer Auffassung wird das Privileg, an einem Sabbat sterben zu dürfen, „Kuss Gottes“ genannt.
Wer Heschels leider noch nicht ins Deutsche übersetztes Opus Magnum „The Prophets“ (1962) zu lesen beginnt, wird von der ersten Seite an von der spirituellen und intellektuellen Macht dieses Buches erfasst. Obwohl bereits „in die Jahre gekommen“ hat es nichts von seiner Originalität und Brisanz verloren. Es ist das Werk eines Meisters, das eine lange durchdringende Beschäftigung mit dem Gegenstand atmet. Ein aus der jüdischen Tradition schöpfendes Wissen um den Gott der Offenbarung, ein die Geschichte als Offenbarungsort Gottes schauender Blick, eine vom Glauben geformte Intuition verbinden sich mit der Sprachgewalt eines aus dem Hebräischen denkenden und fühlenden Gelehrten und Dichters. Welch ein Mensch ist der Prophet? so fragt Heschel auf den ersten Seiten seines Buches. Eine Person, „dessen Seele und Leben, in dem was er sagt, mit auf dem Spiel stehen“, der aber auch fähig ist, „das stille Seufzen menschlicher Angst und Agonie“ zu vernehmen. Im herkömmlichen Verständnis sind die Propheten diejenigen, die die Zukunft voraussagen, die wegen der Sünden vor göttlicher Bestrafung warnen und die soziale Gerechtigkeit einfordern. Aber solch mäßigendes Verständnis verfehlt das Wesentliche, nämlich, „dass Gott sich in den Worten der Propheten Stimme verschafft“. Während man in unserer Gesellschaft Ungerechtigkeiten wohl kritisiert, bleiben sie dennoch tolerierbar, aber für den Propheten nimmt jede kleinste Ungerechtigkeit kosmische Proportion an, wie überhaupt ihr Einsatz für die Armen auffallend ist. Wenn man heute die Schriften der Propheten liest, könnte man fragen: Was bedeutet es denn, wenn im alten Israel ein paar arme Leute von anderen, die die Macht haben, nicht anständig behandelt werden? Was soll die Drohung mit Weltuntergängen angesichts von Vorgängen in Israel, wie sie sich täglich in aller Welt ereignen? Betrug beim Abwickeln von Geschäften hat es immer gegeben, Ausbeutung von wehrlosen Armen ebenso. Stehen diese Ausbrüche der Entrüstung nicht im Missverhältnis zu ihrer Ursache? Sieht der Prophet die Schuld nicht durch ein Vergrößerungsglas? Ist ihre atemlose Ungeduld gegenüber der Ungerechtigkeit nicht hysterisch? Der Prophet würde erwidern: Wenn ihr unsere Entrüstung übertrieben findet, welche Worte habt ihr denn angesichts der abtrünnigen Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber dem Bösen? „Eurer Gefühllosigkeit stellen wir unseren Zorn entgegen.“ Für Heschel ist genau diese Leidenschaft das Wesentliche des Propheten, der nicht nur eine Botschaft verkündet, sondern Zeuge ist, der nicht nur überbringt, sondern enthüllt.
Die in den Worten des Propheten hervorbrechende göttliche Macht ist an ein Erleben Gottes gebunden; der Prophet,„der in Gemeinschaft mit den Gefühlen Gottes steht, der göttliches Bewusstsein erfährt und daran Anteil nimmt“. Deshalb sind diese Reden auch nicht einfach objektive Kritik oder Voraussagen, sondern bringen zur Sprache, was Gott selbst zuinnerst „bewegt“: seine Liebe, seine Enttäuschungen. Das leidenschaftliche Betroffensein Gottes, das göttliche Pathos, ist der Schlüssel zum Verständnis inspirierter Prophetie. Die Geschehnisse und Handlungen der Geschichte erregen in Ihm Freude oder Leid, Wohlgefallen oder Missfallen. Er ist nicht der unbewegte Beweger der aristotelischen Tradition, sondern der höchstbewegte Beweger. Die Propheten stellen Gott als einen dar, der in alles, was das Volk betrifft, verwoben ist. Auch die göttlichen Gebote sind keine bloßen Empfehlungen, sondern sie drücken Gottes Zuwendung aus, und ihre Erfüllung oder ihre Zurückweisung ist für Ihn persönlich wichtig. Liebe, Gnade, Enttäuschung oder Zorn bezeugen die Reaktion des göttlichen Ich-Selbst, zeigen die flammende Intensität der göttlichen Innerlichkeit. Von diesem Pathos sind die Propheten durchglüht. Dieses stellt aber kein Wesensattribut oder eine unveränderliche Qualität Gottes dar, sondern ist ein durch Umkehr des Volkes veränderbarer Aspekt, und durch die veränderliche Beziehungsform des Pathos wird auch die Aufgabe des Propheten verändert. Für die Propheten ist daher nicht das Wesen Gottes, sondern dessen Pathos von Bedeutung, das die jeweilige Stellung Gottes zu den Vorgängen in der Welt ausdrückt, der in das Leben der Menschen einbezogen ist, da der Bund ihn an sein Volk bindet. Die Antwort des Propheten gegenüber dem göttlichen Pathos ist Sympathie. Er ist ein Mitergriffener, der in Gottes eigenes Empfinden hineingenommen ist. Aber er bleibt dabei eine selbstständige Person, er ist kein Mikrophon. Er ist mit einer Mission ausgestattet, mit einer Macht des Wortes, dessen Größe für sich selbst spricht. Er besitzt Temperament, Charakter und Individualität. Und so wie er keinen Widerstand gegen das Einwirken göttlicher Inspiration setzt, so setzt er zuweilen auch keinen Widerstand gegenüber der Wucht seines eigenen Temperaments. Seine Aufgabe ist es, eine göttliche Perspektive zu enthüllen, jedoch als Person ist er Ausgangspunkt dieser Perspektive. Er spricht vom Standpunkt Gottes, wie er ihn aus der Perspektive der eigenen Situation wahrnahm. Sympathie ist die Antwort auf eine transzendente Aufmerksamkeit, der Prophet hört Gottes Stimme und spürt Gottes Herz. Er versucht das Pathos der Botschaft zusammen mit ihrem Logos mitzuteilen. „In gewissen Sinn besteht Prophetie aus einer Offenbarung von Gott her und einer Mitoffenbarung vom Menschen her, sie ist das spannende Schauspiel des Bundes zwischen Gott und Mensch.“
Auch im interreligiösen Gespräch aktiv
Noch während seines letzten Fernsehinterviews im Dezember 1972, wenige Tage vor seinem Tod, kam Heschel auf die Bedeutung der Propheten für die gegenwärtige Gesellschaft zu sprechen und betonte sowohl ihre Universalität als auch ihre Erfahrung eines leidenden Gottes. Propheten sind in einen Bezug eingeordnet, der höher liegt als alle Nationen und Königreiche. Das Maß ihrer Botschaft übersteigt die Grenzen der eigenen Religion hin ins Universelle. Deshalb ist das Wesen ihrer Erwählung nicht adäquat ausgesagt, wenn man es nur Charisma nennt. Nicht die Tatsache, dass sie Betroffene sind, sondern die Tatsache, dass ihnen die Macht gegeben wurde, andere zu Betroffenen zu machen, zeigt die Einzigartigkeit ihrer Existenz. Einen Menschen, der mit prophetischem Licht begabt ist, erscheint jeder andere fast wie ein Blinder. Einen Menschen, der Gottes Stimme vernimmt, scheint jeder andere Staub zu sein. Kein Wissen ist tief, kein Vertrauen ist vollkommen genug. Der Prophet hasst das „Beinahe“, er verachtet es, den mittleren Weg zu gehen. Der Mensch muss für ihn auf dem Scheitel des Berges leben, wenn er nicht in den Abgrund stürzen will. An nichts kann der Mensch sich festhalten, nur an Gott.
Aber zugleich vernimmt das Ohr des Propheten das stumme Seufzen der leidenden Kreatur. Die ihnen zukommende Größe liegt darin: „Gott und Mensch in einem Gedanken zu halten, einmal und immer. Das ist so groß und so wunderbar. Das bedeutet, was immer ich einem Menschen antue, tue ich Gott an. Verletze ich einen Menschen verletze ich Gott.“ Für Heschel wurden die Propheten Israels zu seinem eigenen Lebensmodell. Sie veranlassten ihn immer wieder, seinen Schreibtisch und seine Gelehrtentätigkeit zu unterbrechen, um an der Seite von Martin Luther King 1965 in Selma (Alabama), in der Bürgerrechtsbewegung mit zu marschieren. „Ich fühlte, dass meine Füße beteten“, schrieb er in sein Tagebuch. 1967 protestierte er öffentlich gegen den Vietnamkrieg und schrieb: „Über Gott zu sprechen und über Vietnam nicht seine Stimme zu erheben ist gotteslästerlich“.
Aber auch im interreligiösen Gespräch war Heschel aktiv tätig und forderte Zusammenarbeit und zugleich gegenseitige Ermutigung, die Verschiedenartigkeit der Religionen als Willen Gottes anzusehen: „Keine Religion ist eine Insel. Spiritueller Verrat von einem von uns berührt den Glauben aller. Wir haben zwischen Gaubensaustausch und Nihilismusaustausch zu wählen. Sollen wir an der Illusion, dass wir uns isolieren können, festhalten? Sollten wir nicht einander helfen unsere Herzenshärte aufzugeben, und den Sinn für das Wunder und das Mysterium des Lebens nähren? Ist nicht von höchster Dringlichkeit, den Sinn für Heiligkeit zu wecken, so dass die Herzen für die Herausforderungen der hebräischen Bibel geöffnet werden?“
In aller Welt, besonders aber in den USA und in Israel wird gerade in diesem Gedenkjahr Heschels Werk und seine spirituelle Bedeutung zunehmend wiederentdeckt und erkannt. Es sind besonders seine Bemühungen um Einsichten, die zu „den Wurzeln biblischer Erfahrung von Sein und Wirklichkeit durchstoßen“, die dabei im Mittelpunkt stehen. Eine davon ist das göttliche Pathos. Dazu stellt Heschel die auch heute noch virulente Frage:„Wie lässt es sich erklären,dass für mehr als zwei tausend Jahre jüdische und später auch christliche Theologen durch die konstanten Hinweise auf das göttliche Pathos in der Bibel so tief verlegen reagierten? Was waren die Gründe für diese Verlegenheit? Warum widersetzten sie sich der Idee des Pathos? Es scheint, dass die Opposition ihren Grund in einer Kombination philosophischer Voraussetzungen hat, deren Ursprung im klassischen hellenistischen Denken liegt.“ Ist die Auseinandersetzung mit Rabbi Heschel, der ein Zeuge für die fortdauernde Lebenskraft wie für die Heiligkeit jüdischer Tradition ist, nicht eine Gelegenheit, sich im Licht jüdischer Weisheit um die Fundamente einer biblischen Geisteshaltung zu mühen? Einer Geisteshaltung, die Hiob befähigte zu sprechen: „Ich werde Gott in meinem Fleische schauen“ (Hiob 19,26)? Ein solches Bemühen scheint umso mehr ein Gebot der Stunde zu sein, da selbst Benedikt XVI. in seinem Buch „Jesus von Nazareth“ in eine solche Richtung denkt. Der Papst erwähnt in seinen Ausführungen besonders Rabbi Neusners Buch „Ein Rabbi spricht mit Jesus“, und er schreibt über ihn: „Dieser ehrfürchtig und freimütig geführte Disput des gläubigen Juden mit Jesus, dem Sohn Abrahams, hat mir mehr als anderen Auslegungen, die ich kenne, die Augen geöffnet für die Größe von Jesu Wort und für die Entscheidung, vor die uns das Evangelium stellt“ (99). Rabbi Neusner ist Schüler von Heschel, den er „the greatest Judaic theologian of the twentieth century“ nennt. Das nun bereits auslaufende Gedenkjahr wäre ein guter Anfang, Heschel, diesem „wahrhaftigen Israeliten, in dem kein Falsch ist“ (Joh 1,47) auch im deutschsprachigen (katholischen) Raum, mit dem er so schicksalhaft verbunden war, gebührend Gehör zu verschaffen. Bernhard Dolna
Dr. Bernhard Dolna (geb. 1954), Studium der Katholischen Theologie und Germanistik in Wien und Freiburg und der Judaistik in Wien. Veröffentlichungen zur jüdisch-christlichen Thematik und zur jüdischen mittelalterlichen Religionsphilosophie. Erste deutschsprachige Darstellung von Leben und Werk Abraham Joshua Heschels („Der Gegenwart Gottes preisgegeben“, Mainz 2001). Derzeit Professor für Hebräisch und jüdische Studien am International Theological Institute, Gaming, Österreich.