Der hundertste Jahrtag des Erscheinens der Enzyklika „Pascendi dominici gregis“, mit der Pius X. am 8. September 1907 die „Lehren der Modernisten“ verurteilte, ist in der kirchlichen Öffentlichkeit in relativer Stille vorbeigegangen. Lediglich Veit Neumann bemühte sich in „Die Tagespost“ (6. September 2007) um eine positive Würdigung und schloss mit der Bemerkung, Pascendi sei „weiter Teil der Lehrverkündigung des kirchlichen Lehramts“. Auf der anderen Seite betonte Peter Neuner in den „Stimmen der Zeit“ (Nr. 9/2007) die bleibende Herausforderung von Theologie und Lehramt durch das „Problem der Dogmengeschichte“. Das römische Lehramt äußerte sich nicht explizit zum Pascendi-Jubiläum, was einzelne konservative Stimmen in Italien heftig beklagten. Lediglich in der offiziösen Jesuitenzeitschrift „Civiltà cattolica“ (Nr. 3775) nahm sich Giovanni Sale des Themas in vorwiegend historischer Perspektive an, um abschließend zu betonen, „Pascendi“ habe sich zu Recht gegen eine rein innerweltliche Interpretation des Glaubens gewandt. Die Enzyklika sei damals von „konservativen Kreisen der Kirche“ in einem exzessiv integralistischen und intransigenten Sinne gedeutet worden, habe aber in Wirklichkeit „die theologische Wissenschaft in eine friedlichere und weniger ideologische Richtung lenken“ wollen.
Leiden unter dem Antimodernismus
Papst Benedikt XVI. befand sich am 8. September 2007 auf seiner Apostolischen Reise nach Österreich. Seine Ansprachen in Mariazell und Heiligenkreuz erwähnen weder „Pascendi“ noch den „Modernismus“, können aber als nuancierter Kommentar zum Problem gelesen werden. Bei der morgendlichen Predigt in Mariazell betonte der Papst: „Wahrheit setzt sich nicht mit äußerer Macht durch, sondern sie ist demütig und gibt sich dem Menschen allein durch die innere Macht ihres Wahrseins. Wahrheit weist sich aus in der Liebe. Sie ist nie unser Eigentum, nie unser Produkt, sowie man auch die Liebe nicht machen, sondern nur empfangen und weiterschenken kann.“ Damit stellte sich Benedikt XVI. in die Linie des Zweiten Vatikanums, das in „Dignitatis humanae“ mit der früheren kirchlichen Pragmatik brach, dass es auch in gesellschaftlichpolitischer Hinsicht eigentlich keine „Freiheit für den Irrtum“ geben könne. Diese theologische Distanz zu den Zeiten Pius’ IX. und Pius’ X. kam auch in seiner abendlichen Ansprache zur Geltung, in der er explizit die Autobiographie von Romano Guardini erwähnte: „wie ihm in einem kritischen Augenblick seines Weges, in dem ihm der Glaube seiner Kindheit fraglich geworden war, der tragende Entscheid seines ganzen Lebens – die Bekehrung – geschenkt wurde in der Begegnung mit dem Wort Jesu, dass sich nur findet, wer sich verliert.“ Wer diese Autobiographie Guardinis zur Hand nimmt, wird schnell feststellen, wie sehr der junge Theologe unter dem Antimodernismus gelitten hat.
Täuschungsabsicht der Modernisten?
Eine positive Bezugnahme auf „Pascendi“ deutete sich dagegen bei der Ansprache in der Abtei Heiligenkreuz am 9. September an, bei der Benedikt XVI. die Verbindung von Spiritualität und Theologie anmahnte und vor einem „dünnen Rationalismus“ warnte. Mit dem Wort „Fides et Ratio – Glaube und Vernunft“ spielte der Papst dabei auf die gleichlautende Enzyklika Johannes Pauls II. an, in der nach langer Zeit wieder auf „Pascendi“ und den Modernismus als „rationalistische Versuchung“ rekurriert worden war. Fides et Ratio operierte dabei mit einem „engen“ Modernismusbegriff, der vor allem „philosophische Anschauungen phänomenalistischer, agnostischer und immanentistischer Tendenz“ betraf. Andererseits war Hans Urs von Balthasar, dessen „kniende Theologie“ Benedikt XVI. zugleich empfahl, mit seiner Nähe zur „neo-modernistischen“ „Nouvelle Théologie“ wohl kaum ein Theologe im Sinne des Antimodernismus. Das alte häresiologische Gesamtkonzept „Modernismus“ ist damit aus dem lehramtlichen Diskurs mehr oder weniger verschwunden – was aus kirchenhistorischer Perspektive nur begrüßt werden kann. Die katholische Modernismuskrise (1893–1914) als historisches Phänomen bleibt dagegen Gegenstand lebhafter Erforschung, wie Symposien und Seminare in der Villa Vigoni am Comer See (bereits im Oktober 2006), in der katholischen Akademie Rottenburg-Stuttgart in Weingarten, in der katholisch-theologischen Fakultät in Graz, an der Universität Urbino und im italienisch-deutschen historischen Institut in Trient (alle im September/Oktober 2007) erwiesen haben. Die neueren Forschungen zeigen dabei, dass sich theologischer Antimodernismus und gesellschaftlich-politisch-kultureller „Integralismus“ zwar theologisch-gedanklich unterscheiden, aber historisch-genetisch gesehen nicht immer voneinander trennen lassen, wie es zuletzt Sale (und ansatzweise auch Neumann) in apologetischer Weise im Hinblick auf „Pascendi“ versucht haben.
Doch worum ging es eigentlich in „Pascendi“? Die Enzyklika stellte insofern ein theologiegeschichtliches Novum dar, als hier vom Lehramt selbst eine neue Gesamthäresie, der „Modernismus“ eben, erst „entdeckt“ und in ihrem inneren Zusammenhang dargelegt wurde. In ihrem lehrhaften Hauptteil beschrieb die Enzyklika den „Modernismus“ als Sammelbecken aller Häresien und typisierte den Modernisten in sieben Rollen: als Philosophen, der nur im Rahmen der Immanenz, also innerweltlich, denkt; als Gläubigen, der sich nur auf die subjektive religiöse Erfahrung stützt; als Theologen, der deshalb das Dogma nur symbolistisch verstehen kann; als Historiker und Bibelkritiker, der die göttliche Offenbarung durch Anwendung der historisch-kritischen Methode in innerweltliche Entwicklungsprozesse auflöst; als Apologeten, der die christliche Wahrheit nur vom Standpunkt der Immanenz her rechtfertigt; und schließlich als Reformer, der die Kirche grundstürzend verändern will. Agnostizismus, Immanentismus, Evolutionismus und Reformismus sind damit die Stichworte, die das philosophischtheologische System des „Modernismus“ kennzeichnen. Der Modernist leiste Widerstand gegen die hergebrachte Schultheologie und das kirchliche Lehramt, seine moralischen Kennzeichen seien falsche intellektuelle Neugier, Hochmut, Ignoranz und Täuschungsabsicht. Dies beweise unter anderem die Tatsache, dass kein Modernist das modernistische System offen vertrete, sondern immer nur einzelne Lehren daraus. In einem disziplinarischen Schlussteil traf die Enzyklika ganz praktische Maßnahmen zur Einschärfung der scholastischen Philosophie und Theologie, zur Maßregelung verdächtiger Dozenten und Priesteramtskandidaten, zur Buchzensur und zur Schaffung antimodernistischer Kontrollgremien in den einzelnen Diözesen. Diesem „Systementwurf“ von „Pascendi“ entsprachen durchaus handfeste theologische Probleme, die aber nicht „gelöst“, sondern deren Diskussion durch innerkirchliche Repression lediglich unterdrückt werden konnte: Inspiration der Heiligen Schrift und historisch-kritische Methode, Dogmengeschichte und –hermeneutik, Rezeption nicht-aristotelischer neuzeitlicher Philosophie, die Bedeutung individueller religiöser Erfahrung, die von der Hierarchie relativ unabhängige Tätigkeit von katholischen Laien in Politik, Gesellschaft und Kultur.
Pius X. hatte sich vor 1907 schon länger mit dem Gedanken einer Verurteilung der gefährlichen neuen Ideen in Exegese und Religionsphilosophie befasst. Der Weg, den die römische Kurie unter ihm bisher dazu beschritten hatte, war ein traditioneller: Die Indexkongregation und das Sanctum Officium hatten Werke, vor allem des Exegeten Alfred Loisy, indiziert und in jahrelanger Arbeit einen Syllabus der Hauptirrtümer Loisys erstellt, der endlich im Juli 1907 als Dekret „Lamentabili“ erschien, aber nicht explizit vom „Modernismus“ als neuer Gesamthäresie sprach. Die Idee für „Pascendi“ als Überbietung von „Lamentabili“ hatte dem Papst schon im Frühjahr 1907 der einflussreiche deutsche Dominikaner Albert Maria Weiß geliefert, den man als einen „Gegenintellektuellen“ bezeichnen könnte. Weiß besaß eine feine Witterung für alle Tendenzen der innerkatholischen Pluralisierung, für Historismus und Subjektivität. Sein kirchenpolitisches Engagement erfolgte aus intellektueller Überzeugung.
Joseph Lemius als „Ghost-Writer“ der Enzyklika
In schöpferischer Aufnahme der alten jesuitisch-dominikanischen Kontroverse um die Zuordnung von Natur und Übernatur arbeitete er scharf den Vorrang des übernatürlichen Zieles heraus und entwickelte daraus eine tendenziell autoritäre Ekklesiologie und Gesellschaftslehre: „Indem Gott die Menschheit zur übernatürlichen Ordnung erhob, hat er ihr das Streben nach dem übernatürlichen Ziel nicht bloß als ein schönes Ideal, sondern auch als unerlässliche Pflicht auferlegt“. „Wenn aber alles auf das übernatürliche Ziel der übernatürlichen Ordnung bezogen werden soll, dann muss jene Anstalt, in der die übernatürliche Ordnung nach Christi Gesetz verkörpert ist, [...] dann muss die Kirche, muss das Papsttum ein Recht haben, zu überwachen und zu beurteilen, was der Erreichung des übernatürlichen Zieles dienlich und was hinderlich ist“. Darin war für Weiß der Sinn des „Ultramontanismus“ zusammengefasst, und seine größte Sorge war, dass viele Katholiken um 1900 nicht mehr ultramontan sein wollten. Das war für ihn die „religiöse Gefahr“: „In religiösen Kreisen und Zeiten, besser gesagt dort, wo die Dogmatik die Herrschaft hat, da sind die Katholiken ultramontan oder kirchlich gesinnt ohne alle weitere Rücksicht. Wo die Politik die Oberhoheit gewinnt, in Zeiten, da man alles Gewicht darauf legt, die Welt zu verstehen und mit der Welt in Frieden zu leben, da siegt der Opportunismus auf Kosten des Friedens und der Einheit unter den Katholiken“. Weiß setzte auf konservative Identitätssicherung, auf klare Innen-Außen-Unterscheidungen, auf eine eindeutige Positionierung des Katholizismus, nämlich als Antiliberalismus und Antimodernismus.
Nicht die individuelle Persönlichkeit war im Kontext der Moderne zu retten, sondern die Seelen rettende Autorität der Kirche zu bewahren. Dabei richtete sich Weiß’ Zeitkritik auch auf die blinden Flecken in der Wahrnehmung liberalkatholischer Geister: Nationalismus, Herrenmenschentum und die antijudaistische Tendenz der Kritik an der Gesetzeskirche wurden von ihm diagnostiziert, aber zu plakativ angeprangert, als dass eine tatsächliche Nachdenklichkeit bei den Betroffenen erreicht werden konnte. Im Übrigen huldigte auch Weiß einem katholisch-antikapitalistischen Antisemitismus, der Teil seiner konservativen Vision war, die „soziale Frage“ durch die Rückkehr zu einer mittelalterlich-ständischen Gesellschaftsidylle zu lösen. Allen Bemühungen um konfessionelle Annäherung – nicht nur im theologischen, sondern auch im gesellschaftlich-politischen Bereich (etwa den überkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften) – stellte Weiß seinen radikalen Antiprotestantismus entgegen: das ursprüngliche Luthertum, das er vom späteren staatskirchlichen Byzantinismus schied, war für ihn der Vater des modernen subjektiven Geistes. Reformation und Gegenreformation bildeten die historische Folie, auf der Weiß seine Gegenwart verstand, auch in seinem Modernismus-Memorandum für Pius X.
Als „Ghost-Writer“ der Enzyklika Pascendi, der die Idee von Weiß dann umsetzte, steht nach den neuesten Forschungen eindeutig der Franzose Joseph Lemius, Generalprokurator der Oblati Mariae Immaculatae in Rom, fest. Lemius beschäftigte sich schon seit 1903 mit den Schriften seines Landsmannes Alfred Loisy und suchte in ihnen ein häretisches System zu entdecken beziehungsweise die „agnostische Philosophie“ hinter seiner Exegese offenzulegen. Dies war in der kirchlichen Öffentlichkeit Roms bekannt, weil Lemius vor der Accademia di San Tommaso auch Vorträge zu diesem Thema hielt. Er erschien bisher als ein typischer Neuscholastiker, dem man sogar eine ehrliche antimodernistische Entrüstung in relativ gemäßigtem Tone zubilligte.
Keinesfalls war die ganze damalige reformtheologische Landschaft im Blick
Die Akten des Privatsekretariats von Pius X. werfen nun allerdings ein grelleres Licht auf den Hauptverfasser von „Pascendi“. Er gehörte 1913/14 zu den kurialen Verteidigern der chauvinistisch-antidemokratischen Action fran¸caise des Charles Maurras, deren Indizierung Pius X. unter anderem auf Drängen von Lemius nicht publizierte. Zugleich stand Lemius dem christdemokratischen „Sillon“ des Franzosen Marc Sangnier, den Pius X. öffentlich verurteilte, feindlich gegenüber. Die private Korrespondenz Lemius ergänzt dieses Bild einer antimodernistischen Rechtslastigkeit noch um einen weiteren interessanten Zug und vertieft die Einordnung von Lemius’ theologischen Antimodernismus in ein integralistisches Gesamtkonzept.
Lemius schrieb im April 1921 an seinen Ordensbruder Léopold Trabaud, der sich um eine erneuerte Theologie des Judentums bemühte und dieses nicht nur mit Thomas von Aquin als bloßen Zeugen der alttestamentlichen Offenbarung sehen wollte, folgendes: „Die These scheint mir nicht richtig zu sein. Und auf jeden Fall ist sie zu dieser Stunde sehr inopportun, wo sich die zionistische Bewegung produziert und hervortut. Was man heute in den Seelen der Gläubigen fördern soll, ist der Abscheu vor den Juden, die die Seele jeder Verfolgung gegen die Kirche sind. In der Arbeit des lieben Paters spürt man dagegen eine sehr lebendige Sympathie. Es scheint nicht gut, dass diese Sympathie geteilt werde. – Ohne besseren Bescheid und mit dem Bedauern, meine bescheidene Billigung der Arbeit eines sehr lieben Freundes nicht geben zu können – Joseph Lemius.“ Aus Lemius Worten spricht hier eine ganz ähnliche Haltung, wie sie sich sieben Jahre später beim Vorgehen des Hl. Offiziums unter Kardinal Merry del Val, dem früheren Staatssekretär Pius’ X., gegen die „Amici Israel“ feststellen lässt (vgl. die entsprechenden Beiträge von Hubert Wolf).
Eine gewisse Tragik liegt andererseits über den Folgen der Enzyklika für Lemius: Er hatte in Pascendi seine umfangreichen persönlichen Vorarbeiten für ein größeres Werk gegen die modernen Irrtümer von Loisy und Konsorten investiert. Im November 1907, also zwei Monate nach Erscheinen von Pascendi wurde er um zwei Vorträge über die Enzyklika gebeten: Lemius berichtete seinem Bruder Jean-Baptiste Lemius über seine Verlegenheit: Würde man nicht sofort seine Autorschaft an Pascendi erkennen? Er befragte daraufhin brieflich den Kardinalstaatssekretär, und Pius X. verlangte durch Merry del Val dringend die Absage der Vorträge, um die Anonymität des Autors von Pascendi zu wahren, zumal die Modernisten schon auf der Suche nach ihm seien. Lemius war also zum Schweigen und zur Einstellung seiner öffentlichen theologischen Arbeit gezwungen. Auf der anderen Seite feierte sein leiblicher Bruder und zugleich Ordensbruder Jean Baptiste Lemius Triumphe mit einem Katechismus zu Pascendi, in dem er die antimodernistische Doktrin in Frage-Antwort-Form gebracht hatte und der in französischer, englischer und italienischer Fassung erschien. Joseph berichtete seinem Bruder etwa von einem Gespräch mit dem päpstlichen Privatsekretär Giovanni Bressan: „Bressan sagte mir: ,Also, ich habe nicht viel von der Enzyklika verstanden. Ich mache den Katechismus auf: Krack! Alles ist klar‘. Das nur unter uns“. Pius X. verschenkte 7000 Exemplare des Pascendi-Katechismus an die italienischen Bischöfe: 25 Stück für jeden. Die Ausgaben waren mit einem Geleitwort Merry del Vals versehen. Joseph Lemius war also nicht nur um sein theologisches Thema gebracht; den Ruhm für seine Arbeit erntete auch noch sein Bruder, für den er römische Vermittlerdienste leisten musste und der noch heute fälschlicherweise im „Denzinger“ als Autor von „Pascendi“ gehandelt wird. Joseph Lemius habe aber immer nur ein feines Lächeln aufgesetzt, wenn man ihn später auf „Pascendi“ angesprochen habe.
Lemius hat sein Pascendi-Typoskript, das er innerhalb von vier Tagen im Sommer 1907 erstellte, mit handschriftlichen Marginalien zu den angezielten Positionen versehen. Sie verraten uns, wen Pascendi eigentlich im Blick hatte: Das war in erster Linie natürlich der Exeget Alfred Loisy. Dieser, und nicht etwa der Ex-Jesuit George Tyrrell wird annotiert, wenn es um die Bedeutung der individuellen religiösen Erfahrung geht. Die abgelehnte „vitale Immanenz“ zielt auf den Oratorianer Lucien Laberthonni`ere, dessen „Essai de philosophie religieuse“ bereits 1906 indiziert worden war. Daneben spielt nur noch die junge italienische Priestergruppe eine Rolle, die 1907 den offenen anonymen Brief „Quelle che vogliamo“ – „Was wir wollen“ an Pius X. gerichtet und so ungewollt die Wahrnehmung einer „modernistischen Verschwörung“ im jüngeren Klerus bestätigt hatte.
Ein feines Gespür für die Folgen von Historismus und Anthropozentrik?
Ansonsten bezog sich Lemius auf den üblichen Hauptbösewicht Immanuel Kant, aber auch ganz aktuell auf den Soziologen Herbert Spencer, mit seiner evolutionistischen Religionsdeutung und auf den Religionsphänomenologen William James. Davon, dass die ganze damalige reformtheologische Landschaft im Blickfeld des lehrhaften Teils der Enzyklika gelegen hätte, kann also keine Rede sein. Andere Positionen, etwa aus Deutschland und England, waren höchstens indirekt präsent. Es gibt damit kein lehramtliches Dokument, das sich etwa direkt mit dem „Erz-Modernisten“ George Tyrrell oder mit Friedrich von Hügel, dem „Laienbischof der Modernisten“ beschäftigen würde. Dem integralistischen Impetus, der hinter „Pascendi“ stand, entsprach also eine nur eingeschränkte theologische Wahrnehmung.
Das Verhältnis des römischen Lehramts zum Antimodernismus und damit die Frage nach seiner Antimodernität gestaltet sich komplex: Während sich das Dekret „Lamentabili“ noch als institutionell geregelter Kompromiss mit begrenzter theologischer Reichweite charakterisieren lässt, der vor allem das Problem der theologischen Folgen von historisch-kritischer Exegese und Dogmengeschichte betraf, erweisen sich die geistigen Väter der Enzyklika „Pascendi“ als Vertreter eines Integralismus, der über rein theologische Interessen hinausging und ein im Grunde antimodernes und antidemokratisches, also autoritäres Gesellschaftskonzept implizierte. Albert Maria Weiß und Joseph Lemius waren dabei Protagonisten einer größeren transnationalen Gruppe, die auf der theologischen Seite ein feines Gespür für die kirchlichen Folgen von Historismus und Anthropozentrik hatte. Sie leitete mit Hilfe der kirchlichen Autorität eine Wende ein, die sich bis hin zum Zweiten Vatikanum und teilweise darüber hinaus auswirkte. Wenn heute „Modernismus“ zuweilen wieder als kirchenpolitischer Kampfbegriff auftaucht und in der stärker polarisierten nordamerikanischen kirchlichen Öffentlichkeit schon relativ stark präsent ist, dann sollten auch alle Optionen benannt werden, die sich historisch gesehen mit diesem Häresie-Konzept verbanden und vielleicht noch verbinden.