Die meisten Einträge zu den Stichworten Grabeskirche und Aachen, in eine Internet-Suchmaschine eingegeben, betreffen die Nummer 1 des Weltkulturerbes: den Aachener Dom, die in ihrem oktogonalen Kern 1200 Jahre alte Palastkapelle und Grabeskirche Kaiser Karls den Großen. Ein beträchtlicher Teil der Einträge bezieht sich inzwischen freilich auf ein anderes Objekt: die ehemalige Pfarrkirche St. Joseph. Dieser 1894 eingeweihte Bau im Ostviertel Aachens wurde 2005 als Pfarrkirche geschlossen. Am Allerheiligentag 2006 wurde er wiedereröffnet, nun aber als „Grabeskirche“ für die Beisetzung von Urnen (www.grabeskirche-aachen.de). Nicht zuletzt durch dieses sowohl architektonisch wie auch wirtschaftlich offenbar gelungene Experiment sind Kolumbarien in Gestalt von Begräbnis- oder Grabeskirchen in aller Munde. Ähnliche Erfahrungen liegen etwa in Erfurt oder Marl vor. An vielen Orten werden derzeit Projekte angestoßen, um überzählige Kirchen in Kolumbarien umzuwidmen. Andernorts, zum Beispiel in Bonn-Bad Godesberg, wurden oder werden Mausoleen oder Friedhofskapellen zu Stätten für Urnenbegräbnisse ausgebaut. Inzwischen ruft dieser Trend vermehrt kommerzielle Anbieter auf den Plan. Die Friedwälder bekommen offensichtlich ernsthafte Konkurrenz – aber auch die klassischen Friedhöfe. Spätestens an diesem Punkt stellen sich kritische Fragen: Handelt es sich bei der „Grabeskirche“ in Aachen vielleicht nur um ein Strohfeuer, einen kurzlebigen Gag auf der Suche nach Alternativen in einer zunehmend überalterten Gesellschaft, deren Konventionen – hier die der christlich geprägten Friedhofskultur mit aufwändiger Grabpflege – mehr und mehr zerbröckeln? Oder steht hinter der Intention, Kirchengebäude zu Begräbnisstätten umzuwidmen, möglicherweise doch mehr, als der erste Anschein vermuten lässt?
Die Fragestellung ist komplex und betrifft mehr als nur den Teilbereich der Begräbniskultur. Es geht letztlich um die bleibende Präsenz oder das Verschwinden der christlichen Kirchen in unserer ständig diffuser werdenden Gesellschaft, die zunehmend von religiösem Analphabetismus geprägt ist. Zwar gehören in Europa Kirchengebäude noch weitgehend zum intakten Stadt- und Dorfbild hinzu, doch fungieren diese in manchen Gegenden und Ländern nur noch als Stimmungskulisse, deren vergangene inhaltliche Dimension kaum einen mehr interessiert.
Kirchen haben einen Standortvorteil
Freilich gibt es inzwischen auch gegenläufige Bewegungen. Die Diskussion um die „überflüssigen Kirchenräume“ hat auch weit außerhalb kirchlicher Kreise zu Solidaritätsbekundungen und mitunter nachhaltigen Initiativen geführt, die schon manche Kirchengebäude vor dem Verschwinden oder einer Fremdnutzung bewahrten und sie als Räume der Stille oder der Besinnung für die Allgemeinheit (nicht nur für die religiös geprägten Menschen) zurück gewannen. Mit dem Stichwort Kirchenpädagogik (vgl. HK, April 2006, 149 ff.) ist eine wichtige Möglichkeit genannt, weiten Kreisen der Bevölkerung die steinernen Zeugnisse der Jahrhunderte langen „Leitkultur“ Europas und damit einen wesentlichen Faktor ihrer eigenen Identität zu vermitteln. Hier bietet sich die Chance, Kirchen nicht nur museal, sondern auch als Zeugnisse gegenwärtigen gelebten Glaubens erfahrbar zu machen. Es geht in diesem Zusammenhang nicht zuletzt um die Frage, auf welche Weise die christlichen Glaubensgemeinschaften ihr Proprium im Konzert der unterschiedlichsten Religionen und Weltanschauungen und vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Individualisierung und Segmentierung sinnenhaft vermitteln können. Hier haben die Kirchen aufgrund der geschichtlichen Situation durchaus einen Standortvorteil. Noch wird die Mitte der meisten Städte und Dörfer von Kirchenbauten markiert. Dieser Vorteil kann aber nur dann genutzt werden, wenn die christlichen Gemeinden sich auf ihren Auftrag als Bewahrungsinstanzen kulturellen Gedächtnisses besinnen. Es geht dabei in erster Linie um die Erneuerung einer Kultur des Gottes-Gedenkens, also um die angemessene Gestalt der symbolischen Präsenz der Kirchen mit ihrem Anspruch, die Botschaft von dem in Jesus Christus erwirkten göttlichen Heil dieser Welt mitzuteilen. In diesen Anspruch ist das Gesamt menschlicher Existenz einbezogen, von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende und darüber hinaus. Das christliche Menschenbild steht für Menschenwürde und ehrendes Gedenken jeder einzelnen Person, und zwar nicht aufgrund heroischer Leistungen oder gesellschaftlichen Ansehens, sondern allein aufgrund der Gnade Gottes. Diese Errungenschaft jüdisch-christlicher Gedächtniskultur droht jedoch in der globalisierten Welt unterzugehen. Daher ist eine erhöhte Aufmerksamkeit für diesen Bereich Gebot der Stunde.
In unserer Gesellschaft war die Alleinzuständigkeit der Kirchen für die „letzten Dinge“ lange Zeit so selbstverständlich, dass auch vielen kirchlich Verantwortlichen nach wie vor kaum bewusst ist, in welchem Maße längst andere Institutionen und Individuen sich dieser Zuständigkeit angenommen und das einstige Monopol der Kirchen gebrochen haben. Speziell im Bereich des Bestattungswesens wird der Wandel zunehmend offenkundig. In dieser gegebenen Situation liegt aber zugleich eine Chance der Neubesinnung.Es kommt nun darauf an, sich auf das Wesen christlicher (und jüdischer) Gedächtniskultur zu besinnen und diese als Eigenprofil und Zukunftsperspektive für christliche Gemeinden zu entwickeln. Die Grabeskirche in Aachen bietet hierzu ein gutes Beispiel.
Um die Dimensionen der Fragestellung richtig einzuschätzen, ist noch einmal auf die erste Grabeskirche in Aachen, die Pfalzkapelle Karls des Großen und ihre weitere Bestimmung als Mausoleum, zurückzukommen. Karl wählte als Bauform nicht etwa die Basilika, sondern den Zentralbau in Gestalt des Acht- beziehungsweise Sechzehnecks. Zentralbauten fungieren in der Geschichte des Kirchenbaus vor allem als Memorialbauten (beispielsweise die Kirche Santo Stefano Rotondo in Rom), als Mausoleen (beispielsweise das Mausoleum der Costanza bei Sant’ Agnese in Rom) und vor allem als Baptisterien (beispielsweise das Baptisterium neben der Lateranbasilika in Rom). Das Oktogon begegnet vornehmlich in Baptisterien aufgrund der Achtzahl, als Zusammensetzung von Sieben plus Eins ein Symbol des achten Schöpfungstags und damit der Neuschöpfung beziehungsweise des ewigen Tags der Auferstehung am achten Tag. Taufgedächtnis und Totenmemoria stehen hier in engstem Zusammenhang.
Dieser Bezug ist auch in der Aachener Grabeskirche St. Joseph hergestellt, deren gesamtes Kirchenschiff vom Eingang bis zum Übergang in den Chor eine Wasserrinne durchzieht, die eine Brunnenanlage im Eingangsbereich mit dem am Choreingang platzierten alten Taufstein verbindet, bei dem das Wasser versickert (Architektenbüro Hahn + Helten, Aachen). Der Leitgedanke ist, dass das Wasser aus dem Taufstein im Sakrament der Taufe für die Täuflinge zur Quelle des ewigen Lebens wird. Somit handelt es sich bei der Grabeskirche in Aachen keineswegs um ein bloßes Toten-Kolumbarium, sondern um einen Gedächtnisort von hoher christlicher Lebenssymbolik. Der Vergleich mit der Grabeskirche schlechthin, der eigentlichen Mutter aller christlichen Zentralbauten, drängt sich auf: die Anastasisrotunde in Jerusalem mit dem leeren Heiligen Grab. Insofern alle als Rund- und Zentralbauten ausgeführten Baptisterien der Christenheit sich auf die Grabeskirche beziehen, haben Taufe und Begräbnis seit jeher etwas miteinander zu tun. Ein biblisches Fundament dieser Verknüpfung ist Röm 6,3f., die Epistel der Osternachtsliturgie: „Wisst Ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben.“
Taufgedächtnis und Memento mori
In der Geschichte der Kirche stehen Tauf- und Totengedächtnis in engem Zusammenhang. So bildet bis heute das Taufgedächtnis einen wichtigen Bestandteil des Begräbnisritus. Beim Besprengen des Sarges mit geweihtem Wasser heißt es: „Im Wasser und im Heiligen Geist wurdest du getauft. Der Herr vollende an dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ Jahrhunderte lang waren Kirchen und Kirchhöfe bevorzugte Begräbnisplätze. Taufsteine und Grabmonumente befinden sich bis heute in unmittelbarer Nähe zueinander. Die Täuflinge wurden über die Kirchhöfe getragen, vorbei an den Gräbern ihrer Vorfahren. Erst mit der Verlagerung der Friedhöfe in den Außenbereich der Städte und Dörfer aufgrund neuer hygienischer Standards in der Zeit der Aufklärung verlor man diesen Zusammenhang mehr und mehr aus dem Blick. Während der Liturgiereform geriet zudem das regelmäßige Taufgedächtnis am Sonntag, der Asperges-Ritus vor dem Hochamt, weitgehend außer Übung. Bis heute ist es nicht gelungen, das sonntägliche Taufgedächtnis wieder allgemein zu verankern. Doch gibt es auch hier eine Gegenströmung. Seit dem so genannten Lima-Dokument über Taufe, Eucharistie und Amt des Ökumenischen Rats der Kirchen von 1983 ist das Taufgedächtnis als ökumenisches Thema im deutschen Sprachraum wieder stärker präsent. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der als Taufgedächtnis konzipierte Schlussgottesdienst des Ökumenischen Kirchentags 2003 in Berlin. Fundament dieser neuen Gottesdienstform ist das im Credo enthaltene Bekenntnis zur einen Taufe („Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden“). In der Karfreitagsfürbitte „Für die Einheit der Christen“ spricht der Priester: „Erbarme dich deiner Christenheit, die geheiligt ist durch die eine Taufe.“ Trotz aller Spaltungen in der Geschichte der Kirche ist dieses Band ursprünglicher Einheit nicht zerrissen. Das ökumenische Taufgedächtnis ist Bestandteil einer Besinnung der christlichen Theologien und Kirchen auf die jüdisch-christliche Kategorie des Gedenkens, vielleicht eine heilsame Reaktion auf die Geschichtsvergessenheit der Gegenwart. Diese Geschichtsvergessenheit steht nur scheinbar in Widerspruch zu der überbordenden Zahl an Jubiläen und Gedenkfeiern aller Art. Denn diese sind meist nur Symptom unserer Eventkultur, die das Erinnerte sogleich wieder verdrängt, um neuen Themen Platz zu machen. Ganz anders das Gedenken der biblischen Religionen. Es entspricht der Überzeugung, dass Gott in seiner Bundestreue der Seinen stets gedenkt. Wenn Israel und die Kirche nicht müde werden, der Heilstaten Gottes zu gedenken, dürfen sie seines Gedenkens gewiss sein. In der Struktur der christlichen Hochgebete, zum Beispiel der Eucharistiegebete, ist dies zum Ausdruck gebracht: aus dem dankbaren Gedenken des von Gott geschenkten Heils (memores) erwächst die hoffnungsvolle Bitte um Fortsetzung seines Heil bringenden Gedenkens bis zur Vollendung (memento). Ähnlich beginnt die großartige Oration zu Beginn der Karfreitagsliturgie: Gedenke (reminiscere) Herr, der großen Taten, die dein Erbarmen gewirkt hat.“
Jüdisches und christliches Gedenken ist also nicht an Orte gebunden, sondern an Personen, die in persönlichem und gemeinschaftlichem Gedenken die Erinnerung an Gottes Gegenwart in unserer Welt wach halten. Jedoch wird dieses beständige Tun durch Orte des Gedenkens bezeichnet und gestützt. Aus diesem Grund übernahmen Synagogenbauten schon früh Funktionen des zerstörten Tempels, und im Christentum begann noch vor der konstantinischen Wende der Bau repräsentativer Kirchen. Repräsentation meint hier weniger die Demonstration kaiserlicher oder kirchlicher Macht, sondern vor allem die Vergegenwärtigung der Alterität, des Anderen, eine „offene Stelle im Gefüge der Welt“ (Rudolf Schwarz): Zwecklosigkeit als Sinnerfüllung in einer „verzweckten“, aber sinnentleerten Welt!
Insofern ist es ein prekäres Zeichen, wenn ein Kirchengebäude einem Supermarkt weichen muss, wie in Berlin-Gatow bereits geschehen. Bei den Diskussionen über die so genannten „weiteren“, nicht mehr in die neuen Pastoralkonzepte passenden Kirchengebäuden ist der Gedanke der Repräsentation als „monumentales Gedächtnis“ noch zu wenig im Spiel. Dabei ist von Bedeutung, dass Kirchengebäude nie in der Funktion als Gemeindekirche für die Sonntagsmessen aufgegangen sind. Viele dienten niemals dieser Bestimmung und hatten doch wichtige Funktionen in der sakralen Topographie einer Stadt oder eines Dorfes: Kapellen, Oratorien, Baptisterien, Memorialkirchen genügten unterschiedlichsten Ansprüchen, waren oft einfach nur da. Manches zur Disposition gestellte Kirchengebäude könnte eine neue Identität bekommen, wenn man eine solche denn zulässt – als Raum der Stille, für tägliches Stundengebet, als Anbetungskirche, als zentrale Taufkirche (eventuell in Verbindung mit Angeboten des Gesprächs und der Diakonie), als Raum für Projekte der City-Pastoral. Längst liegen positive Erfahrungen damit vor, und ständig kommen neue hinzu. Eine dieser Möglichkeiten der Neuwidmung nimmt zur Zeit in der Kirche St. Michael in Frankfurt Gestalt an und steht anderenorts (beispielsweise Hl. Kreuz in Bottrop) zumindest in der Diskussion. Die aus dem Geist der Liturgischen Bewegung entstandene Kirche des Frankfurter Oratoriums (Rudolf und Maria Schwarz, 1954) soll in Zukunft gleichzeitig als zentrale Taufkirche und als Ort des Totengedenkens dienen. Veranlasst wurde diese Rettungsmaßnahme durch Altbischof Franz Kamphaus. Vielleicht helfen die scheinbar überflüssigen Kirchengebäude den christlichen Gemeinden, ihr einzigartiges Profil wieder zu entdecken und der Gesellschaft Lebensräume anzubieten, die man nicht kaufen kann und die als Raummarken eine Verkündigung des Osterglaubens in Stein oder Beton darstellen: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor 15, 54 f.).