Am 24. März wurde der Deutschland-Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Bildung, Vernor Muñoz, veröffentlicht; in den Medien wie in der Politik löste er aufgrund der kritischen Einschätzung des deutschen Bildungssystems ein lebhaftes und kontroverses Echo aus. Nun erfordern Amt und Mandat des Sonderberichterstatters für das Menschenrecht auf Bildung eine besondere Aufmerksamkeit auf die Defizite hinsichtlich der Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung. Maßstab der Bewertung sind die internationalen Verpflichtungen, die der Bundesrepublik Deutschland aus den von ihr ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen erwachsen (vgl. Muñoz 2007, Abschnitt 1.A), das Menschenrecht auf Bildung zu achten, zu schützen und umzusetzen. Dementsprechend werden vor allem solche Aspekte und Zonen des Bildungswesens untersucht, in denen Beteiligungsprobleme und damit eine mangelnde Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung vermutet werden.
Das ist, wenn es um eine Hebung der menschenrechtlichen Qualität des Bildungssystems geht, nicht nur eine legitime, sondern eine notwendige Sicht. Allerdings kann der Bericht nur exemplarische Einblicke, aber keine umfassende systematische Analyse des deutschen Bildungssystems bieten. Manche Urteile scheinen daher, gemessen an der empirischen Basis, auf die sie gegründet sind, zu scharf beziehungsweise werden der Bildungswirklichkeit in Deutschland nicht vollkommen gerecht; und manche Voten spiegeln eher die Auffassung des Berichterstatters, ergeben sich aber nicht zwingend aus den Anforderungen des Menschenrechts auf Bildung; beispielsweise lässt sich daraus allein keine eindeutige Stellungnahme gegen das dreigliedrige Schulsystem ableiten.
Scharfe Kritik an der sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems
Vier Aspekte werden im Bericht besonders verfolgt (vgl. Nr. 3): Die Auswirkungen des föderalen politischen Systems sowie der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf eine kohärente und einheitliche Bildungspolitik werden „im Kontext der europäischen Integration und der Globalisierung“ angefragt; allerdings werden beide Kontexte nicht weiter präzisiert; entsprechende Szenarien werden aus den OECD-Vergleichsstudien (PISA) übernommen. Bisherige Ansätze zur Reform des Bildungssystems, die in Folge der Ergebnisse der PISA-Studien eingeleitet wurden, werden festgestellt und evaluiert; Kritik wird insbesondere an der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie an der auf Länderebene stark bürokratisierten und zentralisierten Bildungsverantwortung geübt, welche auf Kosten der Schulautonomie gehe. In Übereinstimmung mit den PISA-Befunden wird die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems moniert, die der Sonderberichterstatter vor allem auf Mängel in der frühkindlichen Förderung und im Ausbau von Ganztagsangeboten sowie auf das gegliederte Schulwesen zurückführt. Die Bedeutung von Bildung als zentrales Medium der gesellschaftlichen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und die daraus folgende Notwendigkeit, Bildungsbeteiligung als Rechtsanspruch auch in der prekären Situation von Kindern und Jugendlichen mit unsicherem Aufenthaltsstatus beziehungsweise in der Illegalität zu garantieren, werden besonders hervorgehoben. Hier wird auf einen Widerspruch zwischen dem Zuwanderungsgesetz und dem Recht auf Bildung sowie der allgemeinen Schulpflicht (als staatlichem Instrument zur Durchsetzung des Bildungsrechts des Kindes) hingewiesen und die Problematik beleuchtet, dass in einigen Bundesländern das Recht auf Bildung für Kinder dieser Gruppe nicht gesichert ist, weil diese von der Schulpflicht ausgenommen sind und ihnen nur ein – bedingtes – Schulrecht zugesprochen wird (vgl. Nr. 69). Obwohl die Defizite in der Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung für Migranten in der Tat erheblich sind, wurde gerade dieser Aspekt in der öffentlichen Rezeption des Berichts bisher nur am Rande aufgenommen. Ähnliches gilt für die Defizitanzeigen in Bezug auf die Bildungsbeteiligung von Menschen mit Behinderung (die entsprechende Akzentsetzung im Bericht dürfte im Blick auf die ausstehende Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention einen wichtigen Impuls setzen). Gerade in diesen Passagen des Berichts wird die normative Perspektive des Berichts, das Menschenrecht auf Bildung als Beteiligungs- beziehungsweise Empowermentrecht für alle geltend zu machen, besonders deutlich.
So fordert man schließlich einen „Paradigmenwechsel bei der Migration in Verbindung mit demographischen Veränderungen und sozio-ökonomischen Faktoren“, wobei in diesem Punkt nicht menschenrechtlich, sondern nutzenorientiert argumentiert wird: Zur abschließenden Begründung, weshalb Deutschland die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund verbessern müsse, greift der Sonderberichterstatter auf politische und wirtschaftliche Opportunitäten angesichts der erwartbaren demographischen Entwicklung in Deutschland (vgl. Nr. 74); das Argument kann die menschenrechtliche Perspektive ergänzen und ihr zusätzlichen Nachdruck verleihen.
Alle Kinder und Jugendliche sind an grundlegenden Bildungsangeboten zu beteiligen
Bildung, Bildungsbeteiligung und die Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung werden in diesem Bericht also vor allem in Bezug auf die Institution Schule in ihren verschiedenen Formen und Stufen behandelt. Im Wege von Ländervergleichsszenarien, für die der Sonderberichterstatter auf die verschiedenen OECD-Studien zurückgreifen kann, wird zwar eine Erweiterung der Schule „nach vorne“ im Sinne vorschulischer Bildungsangebote stark gemacht und der Charakter des Kindergartens als Bildungseinrichtung propagiert (was die in der deutschen Bildungspolitik derzeit diskutierte Tendenz zur Einführung eines letzten obligatorischen Kindergartenjahrs verstärken dürfte). Fragen der Bildungsqualität, der Ziele und Inhalte kommen insofern zur Sprache, als bestimmte Anforderungen an die Lehrerbildung – Stärkung der pädagogischen Komponente, Menschenrechtsorientierung – formuliert werden.
Der Akzent liegt aber auf Strukturen, über die Beteiligung reguliert wird. Maßstab der Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit ist das individuelle Menschenrecht auf Bildung, demzufolge allen Kindern und Jugendlichen die Beteiligung an grundlegenden und weiterführenden Bildungsangeboten zu ermöglichen ist. Die Frage nach Reichweite beziehungsweise Adressatenkreis, für den das Recht auf Bildung aufgrund staatlicher Verpflichtungen bindend zu realisieren ist, wird nicht thematisiert. Gleichwohl stellen sich hier Probleme, die nicht aufgrund der Fokussierung auf die Schule ausgeblendet bleiben dürfen: beispielsweise bezogen auf die Bildungsbeteiligungsrechte erwachsener Analphabeten oder auf die Notwendigkeit des lebensbegleitenden Lernens, die sich für alle Gesellschaftsmitglieder stellt, aber besonders für jene, die aufgrund welcher Umstände auch immer in der biographischen Phase des obligatorischen Schulbesuchs Bildungsbenachteiligungen erfahren haben.
Bildungsgerechtigkeit wird im Sinne des Berichts in der Spannung von Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit zu konzipieren sein, der Staat ist aufgrund der eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen als Verantwortungsträger für Infrastruktur und Qualität der Bildung zu behaften und darüber hinaus ist nach Rahmenbedingungen zu fragen, in denen weitere Akteure im Raum der Gesellschaft Bildungsverantwortung übernehmen können und sollen.
Vorbereitung auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft
Eine andere Auffassung von Bildungsgerechtigkeit hat fast zeitgleich mit dem Muñoz-Bericht eine Gruppe von Bildungsforschern aus Soziologie, Pädagogik und Bildungsökonomie publik gemacht: Ein von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft beauftragter „Aktionsrat Bildung“ hat ebenfalls im März ein Jahresgutachten zum Thema Bildungsgerechtigkeit vorgelegt (Aktionsrat Bildung 2007). Im Rückgriff auf die bekannten internationalen Vergleichsstudien haben die renommierten Wissenschaftler, die teilweise selbst an deren Entwicklung beteiligt waren, ein weit ausgreifendes Kompendium aktueller Themen und Resultate der empirischen Bildungsforschung zusammengestellt. Die Veröffentlichung bietet einen Überblick über aktuell einflussreiche Trends in der bildungspolitischen Debatte, beispielsweise Stärkung der Elementarbildung, Glättung der Übergänge zwischen verschiedenen Bildungsstufen und -institutionen, Ausbau von Ganztagsangeboten, Reform der Lehrerbildung, Output-orientierte Steuerung von Schule und Hochschule, weitgehende Privatisierung des Angebots. Insofern handelt es sich um eine interessante Zusammenstellung von Daten und Material zu wichtigen Themen der Bildungspolitik, auf der die Autoren weitreichende Empfehlungen zum Umbau des Bildungssystems in Richtung einer Stärkung von Autonomie der Bildungsinstitutionen und marktlichen Steuerungselementen aufbauen (vor allem deshalb hat das Gutachten in der Öffentlichkeit einige Aufmerksamkeit erfahren).
Mit der herrschenden Meinung, die insbesondere durch die genannten OECD-Studien genährt worden ist, geht die Studie von einem Mangel an Bildungsgerechtigkeit in Deutschland aus. Dies zeige sich an ungünstigen ökonomischen Output-Raten (im Vergleich der OECD-Länder), zu geringen Abschlussraten im Bereich der Sekundär- und Tertiärbildung und an der hohen schichtspezifischen Selektivität des deutschen Bildungssystems, die erhebliche Disparitäten in der Bildungsbeteiligung bedinge und besonders an den Übergängen zwischen den verschiedenen Stufen des Bildungssystems durchschlage (Aktionsrat Bildung 2007, 12 f.). Leitfrage der Studie ist, ob „es in den Bildungssystemen gelingt, junge Menschen auf Anforderungen der Wissensgesellschaft vorzubereiten“ (23). Es geht folglich um bestimmte Leistungen, die von den Bildungssystemen im Hinblick auf gesellschaftliche Funktionalität erwartet werden – konkret die Zurüstung der Lernenden mit Wissen und Kompetenzen, die dieser Typ von Gesellschaft als Bedingung erfolgreicher Partizipation einfordere. Es bleibt zu fragen, inwiefern die empirischen Befunde, mit denen die Studie arbeitet, tatsächlich über Bildungsgerechtigkeit Auskunft geben. Was untersucht wird, sind spezifische Ergebnisse von Bildungsprozessen und Bildungsvollzügen: der Erwerb von Wissen, Kompetenzen und Fertigkeiten sowie formaler Bildungstitel in ganz bestimmten Sektoren. Damit werden zwar unverzichtbare Erwartungen an Bildungsinstitutionen und -prozesse thematisiert, es wird aber keineswegs ein umfassender Begriff von Bildung als Bildung der Person aufgerufen, die auch Erziehung umfasst und immer mehr ist als Vorbereitung auf die Übernahme bestimmter gesellschaftlicher Funktionen und Aufgaben.
Eine minimalistische Vorstellung von Chancengleichheit
Ihr eigenes Verständnis von Bildungsgerechtigkeit entwickeln die Autoren im ersten Kapitel der Studie, indem sie sich abgrenzen gegen ein „Alltagsverständnis von Gerechtigkeit, das häufig mit Gleichheit oder gar mit dem Anspruch auf soziale Gleichheit in einer Gesellschaft verwechselt“ werde (19). Die Macht der behaupteten Gleichung wird offenbar sehr hoch eingeschätzt: Um sie zu delegitimieren, wird nicht nur das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, sondern (in einer allerdings sehr oberflächlichen Weise) die gesamte abendländische philosophische und theologische Tradition in Anspruch genommen: Der in der Verfassung verankerte Anspruch auf Gleichheit beschränke sich auf „Gleichheit vor dem Gesetz“, weshalb Bildungsgerechtigkeit im Rechtssystem ausschließlich über gerechte Verfahrensweisen realisierbar sei. Die zu erreichende „Teilhabegerechtigkeit“ wird als Herstellung „gleicher Ausgangsbedingungen“ entsprechend der kognitiven Leistungsfähigkeit verstanden. Ob eine solche minimalistische Vorstellung von Chancengleichheit zu „Teilhabegerechtigkeit“ führen kann, erscheint fraglich, insofern Teilhabe sinnvoller Weise nicht statisch, sondern nur dynamisch gedacht werden kann, bezogen auf biographisch und institutionell zu realisierende Bildungsprozesse. Es ist zu bezweifeln, dass die grundgesetzliche Ausgangsbasis zutreffend beschrieben ist. Denn eine rein formalrechtliche Auffassung von Gleichheit trägt dem Sozialstaatsprinzip in keiner Weise Rechnung; als sozialer Rechtsstaat hat die Bundesrepublik Deutschland positive Verpflichtungen hinsichtlich der Ermöglichung von Bildungsbeteiligung, die die Gewährleistung formal gleicher Ausgangsbedingungen für Bildungsteilnehmer mit unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Startbedingungen deutlich überschreiten. Im Vergleich mit dem Muñoz-Bericht fällt besonders auf, dass die Autoren darauf verzichten, die rechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Menschenrechts auf Bildung auch nur anzusprechen. Vergleichsweise ausführlich werden möglicherweise schädliche, weil neue Gerechtigkeitsprobleme provozierende Wirkungen einer Beteiligung fördernden Bildungspolitik besprochen: Maßnahmen für mehr Bildungsgerechtigkeit seien grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig, weil sie neue Ungerechtigkeiten hervorrufen können. Wohl deshalb werden die Pflichten der Individuen mehr als alles andere hervorgehoben. Diejenigen, „in deren Interesse bildungsgerechtigkeitsfördernde [!] Maßnahmen ergriffen werden“, stehen in der Schuld der Gesellschaft insgesamt, weil jeder Einzelne „mit seinen Abgaben, genauer also mit Lebenszeit, dafür bezahlt, dass andere Einzelne erhöhte Bildungschancen bekommen“. Deshalb muss „die Gesellschaft als Ganzes [!] von den zu fördernden Personengruppen einen maximalen Beitrag zum Erfolg der Bildungsmaßnahmen erwarten“ (20).
Positive Erträge von Bildung ausschließlich den einzelnen Nutznießern zugerechnet
Darauf folgt eine Serie von Beispielen, um bildungsspezifisches Wohlverhalten und die vom Staat zu fordernde Sanktionierung von „Bildungsmissbrauch“ (21) zu illustrieren. Der Verzicht auf die Berücksichtigung des Rechts auf Bildung, das zeigt sich hier, schränkt die Perspektive auf Bildungsgerechtigkeit erheblich ein. Die Ermöglichung von Beteiligung an Bildung für die Benachteiligten wird offenbar eher als (im Fall der Unbotmäßigkeit der Empfänger disponible) Funktion der Großzügigkeit der ökonomisch potenten Gesellschaftsmitglieder verstanden, die ein Stück ihrer Freiheit „opfern“, denn als Rechtsanspruch, der einem jeden Gesellschaftsmitglied – in bestimmten Grenzen – zu gewährleisten ist und dem alle Einzelnen als Staatsbürger und -bürgerin verpflichtet sind. Zudem werden die positiven Erträge von Bildung ausschließlich den einzelnen Nutznießern zugerechnet; dabei bleibt ausgeblendet, dass eine Verbesserung der Bildungsbeteiligung für Angehörige benachteiligter Gruppen auch der Gesellschaft insgesamt – und damit indirekt auch den Bildungsreichen – zugute kommt, insoweit der soziale Frieden, der gesellschaftliche Wohlstand, die politische Kultur und das kulturelle Niveau einer Gesellschaft davon profitieren.
Auch wenn die in der Missbrauchs-Rhetorik zum Ausdruck kommende Engführung der Perspektive aus Gerechtigkeitsgründen zu kritisieren ist, verweist sie indirekt auf ethisch bedeutsame Aspekte: Bildungspolitik und -ethik müssen die Autonomie und die Verantwortung der Bildungsteilnehmenden selbst, ohne die Bildungsprozesse nicht gelingen können, ernst nehmen; im Extremfall eines totalen „Bildungsunwillens“ ist dann auch nicht auszuschließen, dass entsprechendes Verhalten zum Ausschluss von bestimmten Bildungsbeteiligungsrechten führen kann. Allerdings ist die Aktivität der Bildungsteilnehmenden vor allem positiv aufzunehmen und deren Förderung als Kriterium in bildungspolitischen Entscheidungen und Strategien fruchtbar zu machen. Wenn die Nutznießer von Bildungsförderung generell unter Verdacht des Missbrauchs gestellt werden, können die pädagogischen, rechtlichen und politischen Implikationen dieser Einsicht kaum geltend gemacht werden: In einer Gerechtigkeitsperspektive ist es fatal, einerseits die pädagogische Logik der Bildung zu ignorieren, andererseits den Aspekt des Individualrechts auf Bildung konsequent auszublenden und Bildung als gesellschaftliche Aufgabe exklusiv von einer ökonomischen Logik aus zu konzipieren.
Zudem beleuchtet aber die ökonomische Logik ein Sachproblem, das auf die strukturelle Dimension dessen verweist, was die Autoren der Studie unter dem Missbrauchs-Verdacht gegen einzelne Bildungsteilnehmer artikuliert haben: Bildungsprozesse müssen so gestaltet werden, dass nicht – beispielsweise aufgrund von Motivations-, Disziplin- beziehungsweise Selbstverpflichtungsproblemen – auf allen Seiten Ressourcen vergeudet werden: bei den Geldgebern (Steuerzahlern), bei denen, die ihre Zeit in Bildungsmaßnahmen verbringen, ohne dass sie ihnen tatsächlich etwas bringen, sowie schließlich bei denen, die ihre Arbeitskraft und Kompetenz in den Dienst von Erziehungs- und Bildungsprozessen stellen. Die sozialstaatlich organisierte, solidarische Bereitstellung von Gütern birgt, nicht nur im Bildungswesen, die Gefahr solcher Ineffizienzen, die das System aushöhlen und die Solidaritätsbereitschaft untergraben. Dieser Gefahr gegenüber sind Qualitätsanforderungen an Bildungsangebote und -prozesse sowie an die Qualifizierung (und Unterstützung) des pädagogischen Personals unbedingt einzufordern. Vergeudung von Ressourcen ist ethisch nicht neutral.
Gerechtigkeit gegen Freiheit
Allerdings setzt die Diagnose „Ressourcenvergeudung“ voraus, dass Klarheit über die mit den eingesetzten Mitteln angestrebten (pädagogischen, ökonomischen, arbeitsmarktpolitischen, usw.) Ziele und ihre Gewichtung zueinander erreicht wird; dies muss Aufgabe eines umfassenden politischen Diskurses sein. Maßnahmen zur Effizienzsteigerung im Bildungswesen, die dem Anspruch der Bildungsgerechtigkeit entsprechen sollen, können aufgrund der komplexen Ziele, die mit dem Gut Bildung erreicht werden sollen, daher gerade nicht allein aufgrund einer ökonomischen Logik entworfen werden.
Was ergibt sich nun für das Verständnis von Bildungsgerechtigkeit? In der Studie des Aktionsrates Bildung soll die politische Zielsetzung „Bildungsgerechtigkeit“ offenbar gegenüber dem Anspruch größtmöglicher individueller Freiheit, verstanden als Verfügungsrechte über individuelle Lebenszeit und Besitz/finanzielle Ressourcen, möglichst eng limitiert werden. Im Gegensatz zum Muñoz-Bericht basiert die Studie auf einem Vorverständnis, das Bildung als soziales Menschenrecht durch Bildung als Investitionsgut und damit als in weiten Teilen privat zu verantwortende und zu regelnde Aufgabe ersetzen will: Bildungsförderung muss „sich rechnen“, nur dann ist sie „richtig“. Dass sich Bildungsförderung in der Regel tatsächlich als Zukunftsinvestition auszahlt und damit auch ökonomisch vernünftig ist, ist in vielen politischen Kontexten sicherlich ein nützliches Argument. Gerechtigkeitsforderungen dürfen aber nicht nach Maßgabe ihrer ökonomischen Nützlichkeit beurteilt werden, denn das wäre gerade die Verweigerung der Anerkennung einer Gerechtigkeitsnorm. Die Exklusivität, mit der Beteiligung an Bildung unter ökonomischen Gesichtspunkten verhandelt wird, führt zu einer einseitigen Wahrnehmung, die im Vergleich mit der Perspektive des Muñoz-Berichts um so deutlicher zum Vorschein kommt: Die rechtliche Perspektive wird extrem verengt, während politische und pädagogische Zugänge überhaupt unberücksichtigt bleiben. Die Perspektive auf die Subjekte von Bildung spielt positiv überhaupt keine Rolle, sondern kommt ausschließlich negativ zum Tragen („Bildungsmissbrauch“). Bildungsethisch gesehen, dürfte hier einer der gravierendsten Mängel der gewählten Zugangsweise liegen. Dieser Befund in Verbindung mit der Wahrnehmung, dass die sozialethische Perspektive (Gerechtigkeit) der ökonomischen (Verfügungsrechte, Nützlichkeit) systematisch untergeordnet wird, provoziert die Frage, ob die Beanspruchung des Begriffs Bildungsgerechtigkeit hier angemessen ist.
Beteiligung an Bildung als Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Inklusion
Vor dem Hintergrund der diskutierten Ansätze lassen sich Kriterien benennen, die aus sozialethischer Sicht in einer Konzeption von Bildungsgerechtigkeit Berücksichtigung finden müssten: So bleibt in den gegenwärtigen Debatten häufig unausgewiesen oder unterbestimmt, was unter Bildung verstanden und von Bildungsprozessen erwartet wird; dennoch werden zumindest implizit normative Erwartungen transportiert. Ein sozialethischer Zugang wird daher zunächst Begriff und Verständnis von Bildung erfragen. Fundamental für die ethische Bewandtnis von Bildung ist die Aktivität – das heißt in ethischer Hinsicht Verantwortung – des Subjekts: Jemand muss sich bilden wollen, um sich, seine Fähigkeiten und Potentiale im sozialen Zusammenhang entwickeln und als Fundament gesellschaftlicher Interaktion entfalten zu können. Der Mensch als bildsames Wesen ist deshalb Ausgangs- und zentraler Bezugspunkt jeder Bildungsethik. Bildungsprozesse müssen den Betroffenen die Entdeckung ihrer eigenen personalen Potentiale und deren Entfaltung ermöglichen; Bildungsinstitutionen sind sozialethisch zunächst danach zu beurteilen, inwieweit sie subjekt- und partizipationsorientiert sind; diesem Kriterium sind die Aspekte der Gemeinwohlverträglichkeit und der sozialen Nachhaltigkeit zur Seite zu stellen: Aus der Einsicht in die Schlüsselbedeutung von Bildung für die Entwicklung und Entfaltung personaler Potentiale resultiert, dass die Beteiligung an Bildung eine Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Inklusion ist. Mangelhafter Zugang zu Bildung und selektiv verteilte Bildungsbeteiligung(smöglichkeiten) führen zu Bildungsarmut, die oft über Generationen vererbt wird. Hier liegt systematisch der Ansatzpunkt zur Entfaltung normativer Erwartungen an Bildungspolitik als Teil einer umfassenden und präventiv gedachten Sozialpolitik. Neben dem Postulat, Zugang zu Bildung für alle zu sichern und eine flächendeckende Bildungsinfrastruktur zu gewährleisten, müssen Gegenstand und Ziel von Bildung sowie die qualitativen Maßstäbe, an denen Institutionen und Angebote orientiert werden, personalen und gesellschaftlichen Anforderungen genügen.
In gesamtgesellschaftlicher Hinsicht beziehungsweise zur Förderung des Gemeinwohls ist Bildung notwendig für gesellschaftliche Wohlfahrt, für eine partizipationsorientierte politische und kulturelle Entwicklung, für ökonomischen Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft im globalen Wettbewerb. Persönlicher Freiheitsgewinn in einem umfassenden Sinn befördert zugleich die ökonomische und politische Entwicklung. Gesellschaft und Wirtschaft sind auf die Entfaltung individueller Potentiale und auf Kommunikationsfähigkeit der Einzelnen angewiesen. Ethisch relevant ist zudem die Frage der Verteilung der Lasten, die als finanzielle und zeitliche Ressourcen aufgebracht werden müssen, um Bildung im erforderlichen Umfang und in der notwendigen Qualität sowie in geeigneten Angeboten bereitzustellen. Es gilt zu klären, welche Formen der Bildungsfinanzierung eine faire Verteilung der Kosten und gleichzeitig einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung sicherstellen (und insofern Gerechtigkeitserfordernissen genügen).
Subjekt- beziehungsweise Personperspektive und Gesellschafts- beziehungsweise Gemeinwohlperspektive – sind grundlegend aufeinander bezogen. Bildung zielt auf individuelle Reifung, Verantwortungsfähigkeit und die Ermöglichung selbständiger Lebensführung sowie auf gesellschaftliche Kontinuität und Innovationsfähigkeit. Dieser Prämisse gibt das Menschenrecht auf Bildung normativen Ausdruck; zugleich trägt es den komplexen Zusammenhang von Beteiligung an Bildung und Beteiligung durch Bildung, die Qualitätsmaßstäben zu genügen hat, als Gestaltungsauftrag in die gesellschaftlichen Institutionen ein. Schließlich markiert es den Anspruch, Bildungsprozesse selbst im menschenrechtlichen Sinne zu gestalten, also dem Recht auf Bildung in den Bildungsvollzügen selbst Rechnung zu tragen.