Gottesdienste zwischen Ritual und ExperimentWas schöne Liturgie ausmacht

Wenn über die kirchliche Feierkultur gestritten wird, kommen viele und durchaus gegensätzliche Erwartungen ins Spiel, die längst nicht alle erfüllbar sind. Während die einen gerne Neues ausprobieren, gilt anderen die Tradition als alleinige Instanz. Auch das alte Kriterium der Schönheit kommt neu zur Geltung, allerdings in milieuspezifischen Varianten.

Zwei neue DVDs, eine mit protestantisch-innovativer und die andere mit katholisch-traditionalistischer Provenienz, beleuchten die facettenreiche Diskussion um die Liturgie. „Zur praktischen Inszenierung der Kasualien“ heißt der Untertitel des ersten Mediums, das zu Band 2 des „Handbuchs Liturgische Präsenz“ von Thomas Kabel gehört (verlegt im Gütersloher Verlagshaus 2007; Bd. 1 „Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes“ erschien bereits 2002). Unter dem durchaus provozierenden Vorzeichen der „Inszenierung“ werden hier im Protestantismus alte Qualitäten von Liturgie neu entdeckt: Raum und Ritual, die Kommunikation mit Worten und Gesten, mit Mimik und Stimme. Thomas Kabel ist jedoch kein Theologe, sondern Schauspieler und Regisseur, der mit Pfarrerinnen und Pfarrern an deren liturgischer Kompetenz arbeitet.

Rituelle Vollzüge sind mehr als bloße Äußerlichkeiten

Freilich weiß Kabel, dass liturgische Präsenz auf eine umfassende spirituelle Präsenz angewiesen ist, um glaubhaft nicht nur zu scheinen, sondern zu sein. „Bleib dran, halte den Kontakt zum Brautpaar“ oder „Jetzt eine klare Trennung vor dem ,Amen’“, so seine Anregungen im Blick auf die gottesdienstliche Regie. Immer klingt durch, dass die Fragen der rechten Haltung aus dem Schattendasein bloßer Äußerlichkeiten herausgeholt werden sollen. Die Grenzen zwischen Dramaturgie und Theologie geraten in Fluss, oftmals ist das eine die Kehrseite des anderen. So besteht Kabel aus dramaturgischen Gründen darauf, dass bei einem Konfirmationssegen jeder Konfirmand einzeln gesegnet wird; was der Pfarrer, mit dem der Schauspieler übt, dann schließlich auch theologisch versteht. Zwischen den starken Polen von Wort und Musik war im Protestantismus die rituelle Dimension gottesdienstlichen Feierns allzu weit in den Hintergrund gerückt. Und nun kommt ausgerechnet ein Schauspieler, um das alte theologische Axiom „Lex orandi – lex credendi“ neu in Erinnerung zu rufen und in die Erfahrung zu bringen. Wenn Thomas Kabel davor warnt, etwa bei der Taufe die trinitarische Formel durch gut gemeinte und selbstkreierte Zusätze zu entwerten, fühlt man sich durchaus an die alten Rubriken erinnert. „Nicht Menschen ordnen das Abendmahl, sondern das Abendmahl ordnet die Menschen“, erklärt er auf seiner Homepage. Um der rituellen Sicherheit einer kirchlich eher distanzierten Taufgesellschaft willen plädiert Kabel für die vorbereitende „Motivbesichtigung“ durch Eltern und Paten unter Anleitung des Pfarrers. Früher garantierte der regelmäßige „Kirchgang“ diese Vertrautheit, die vor liturgischer Überforderung schützt und so zum Erlebnis einer schönen Feier wesentlich beiträgt.

Schönheit ist jedoch mehr als akribisches Ritendesign, zumal sich Rituale ja auch in geistloser Perfektion erschöpfen können. Thomas Kabel löst die Sentenz Wagners aus Goethes „Faust“ ein:„ ... ein Komödiant könnt‘ einen Pfarrer lehren“. Doch zeigt Fausts Einwand „Ja, wenn der Pfarrer ein Komödiant ist“ sogleich die Gefahr des Unterfangens. Der Pfarrer im Habitus eines Schauspielers? Der Lektor mit dem Tonfall eines Nachrichtensprechers? Oder als Kantorin eine Opernsängerin? Qualität muss sein, doch sowohl die fehlende als auch die vorhandene Professionalität kann dem Gottesdienst den „Geist der Liturgie“ austreiben. Entscheidend ist offenbar der Zusammenklang von Person und Rolle. Wer seine Rolle nur unzureichend ausfüllt oder sie distanziert wie etwas Angelerntes abspult, der versagt im Heiligen Spiel. Qualitativer Prüfstein von Liturgie ist überdies das gesamte kirchliche Leben mit Verkündigung und Diakonie. Hier bewährt sich Liturgie als „Höhepunkt und Quelle“ (Sacrosanctum Concilium 10) insbesondere dann, wenn das gemeindliche Leben in all seinen privaten und gemeinsamen Facetten in die Gottesdienste einfließt, nicht um dort gespiegelt, sondern um im Licht der Glaubensfeier verwandelt zu werden.

Die Qualität eines Gottesdienstes ist nur bedingt messbar

Die Qualität eines Gottesdienstes ist nur bedingt messbar. Gerade an diesem heiklen Punkt hilft ein Seitenblick auf die Musik. Die gelingende Interpretation eines Werkes bedeutet nicht absolute Fehlerlosigkeit, was den Buchstaben des Notentextes angeht. Sie ist weder restlos objektivierbar noch ins Belieben der Subjektivität gestellt. Schön ist vielmehr das Gelingen in authentischer Stimmigkeit, wozu viele Faktoren beitragen, nicht zuletzt auch die Disposition dessen, der sich ein Urteil darüber erlaubt. Doch selbst wenn die liturgische Qualität nicht beweisbar ist, sollte über eine Qualitätssicherung von Gottesdiensten nachgedacht werden. Dieser sensible Punkt ist noch weitgehend unbearbeitet. Er umfasst die Sorgfalt der kollegialen Vorbereitung ebenso wie die Bereitschaft zu fairer gegenseitiger Kritik, etwa im Liturgieausschuss einer Gemeinde. Oft hat es jedoch den Anschein, dass dieses Thema mit einem Tabu belegt ist. Weil die ästhetischen Ansprüche ohnehin divergieren und das Gespräch darüber so mühsam ist, begnügt man sich mit der Gewissheit, dass doch auch dieses Mal alles zumindest gut gemeint war. Das zweite neu erschienene Übe-Medium für die Liturgie ist eine Doppel-CD „von Priestern für Priester“, die jedoch nicht im Handel erhältlich ist, sondern nur bei der traditionalistischen Priesterbruderschaft St. Pius X. (FSSPX). Deren kampagnenartig verbreitetes Motto heißt derzeit „Die neue Sehnsucht nach dem alten Ritus“. Geboten wird durch den Priester der Bruderschaft Wolfgang Göttler eine schrittweise und minutiöse Anleitung zur Zelebration der lateinischen „Missa tridentina“ nach dem Missale Romanum von 1962. Hier stellen sich nun ganz andere Fragen als bei der protestantischen Kasualien-Inszenierung: Wann genau ist welche der drei verschiedenen Körperverneigungen zu verrichten? Und wie ist das Zusammenhalten von Daumen und Zeigefinger der rechten Hand von den Wandlungsworten bis zur Reinigung des Kelches nach der Kommunion am besten zu bewerkstelligen? Das „Schlussevangelium“ ist mit dabei, doch wer weiß heute noch, was das einmal war? Hingegen fehlt die „Wandlungskerze“, deren Abschaffung von dem Schriftsteller und frisch gekürten Büchner-Preisträger Martin Mosebach so betrauert wird. Begleitpublikationen betonen den Gehorsam, der diese Form des Zelebrierens trägt.

Neue Sehnsucht nach der Missa tridentina?

Zwei Positionen markieren die heutigen Extrempunkte im Verständnis von Liturgie: auf der einen Seite eine Art von Ritualismus mit der beständigen Tendenz zur Verhüllung des Geschehens bei den Traditionalisten. Die gehorsame Befolgung des Ritus durch den Priester steht im Vordergrund, wohingegen die Gemeinde in Passivität verharrt. Je weniger die Gemeinde tut, umso besser. Selbst das gemeinsame Singen deutscher Kirchenlieder wird von Martin Mosebach als ursächlich „für den Niedergang der Liturgie“ kritisiert (Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München 2007, 35). Auf der anderen Seite wiederum steht der Aktionismus, wie er von vielen unter Berufung auf die „actuosa participatio“ der gesamten feiernden Gemeinschaft betrieben wird. Hier heißt die Devise: Je mehr die Gemeinde macht, desto besser, denn so nimmt sie wirklich aktiv am Gottesdienst teil, den sie zugleich in jedem Moment auch verstehen soll. Bisweilen wird der Vollzug des Ritus deshalb durch allzu viele gut gemeinte Erklärungen beeinträchtigt, so dass der Zelebrant zugleich als sein eigener Kommentator fungiert.

Ähnlich verzerrt wie das Verhältnis von Feiern und Erklären ist das von alter Form und neuer Gestaltung. Wenn bereits im Pfarrblatt angekündigt wird, dass jeder nach Möglichkeit einen Spiegel zur Sonntagsmesse mitbringen soll, ist gewiss, dass schon viel Arbeit in dieser Feier steckt. Dennoch ist manches davon vergeblich, weil die falschen Fragen gestellt wurde: Welches Thema wählen wir für die Liturgie? Das Evangelium gerät so unter die Räder neuer Themen und die Liturgie verliert ihre provozierend schöne Zweckfreiheit. In der Predigt wird die Gemeinde dann einiges gefragt und manche antworten artig, genau wie in der Schule. Während im Traditions-Modell die exakte Vorschrift dominiert, setzt das Experiment-Modell auf Abwechslung bis hin zur Unkenntlichkeit. Feind der Schönheit ist im ersten Fall die Erstarrung der Form, im zweiten ihre Verflüchtigung in Beliebigkeit.

Eine doppelte Zwischenbilanz sei versucht zur gegenwärtigen Diskussion um die Liturgie: Zum einen kann nicht bestritten werden, dass an die Stelle früherer normativer Regelungen ein Übermaß an gestalterischem Wildwuchs getreten ist. Zum anderen aber gilt: Ein schlichtes Zurück zur Liturgie von gestern, etwa unter dem wie ein Zauberwort gehandelten Motto „Latein muss sein“ (Der Spiegel) wird diese Probleme nicht lösen. Keine Form des Feiern und auch kein musikalischer Stil garantieren per se die Schönheit der Liturgie. Vielmehr kommt es bei jeder Stilrichtung auf die stimmige Ausführung an, die ein gemeinsames Geschehen von Zelebranten, Musikern und Gemeinde ist, das gepflegt und bisweilen regelrecht eingeübt werden muss. Dass das lateinische Repertoire vielerorts kaum noch in Übung ist, mag man bedauern. Deshalb kann es passieren, dass die Gemeinde verstummt, anstatt auf den Gruß des Diakons „Ite missa est“ angemessen zu antworten. Wird die gleiche rituelle Formel jedoch zu einem freundlich-jovialen „Gehen Sie jetzt hin in Frieden“ variiert, muss man sich nicht wundern, dass die verdutzte Gemeinde – zwischen liturgischer und privater Sprache hin und her gerissen – die Antwort ebenso schuldig bleibt.

Liturgie als Geschehen vielfältiger Integration

Die Alternative alt oder neu bestimmt die liturgische Diskussion im Feuilleton und ist doch letztlich falsch. Wie viele Spannungen – Ich und Wir, Klang und Schweigen, Planung und Spontaneität oder Feier und Alltag, um nur einige zu nennen – kann auch der Konflikt zwischen Tradition und Innovation nicht zu Gunsten einer Seite aufgelöst werden. Diese Spannung kann und muss vielmehr gestaltet werden, weil sie zuinnerst zum Glauben gehört, den wir feiern. Wer den Menschen im Gottesdienst, beständig auf Akzeptanz schielend, gar nichts Neues mehr zumutet, macht letztlich den gleichen Fehler wie jene, die hektisch eine Neuerung an die andere reihen. Tradition ist notwendig als Verbindung mit der Geschichte. Sie stiftet Identität über die Generationen hinweg. Der Theologe Fulbert Steffensky hat dafür die Formel „Zu Gast in fremden Zelten“ geprägt, die wohl auch vielen Feiernden in der Liturgie aus dem Herzen spricht. Der Gaststatus stiftet eine gewisse Vertrautheit, ohne die Momente der Fremdheit, etwa im Blick auf die Sprache Paul Gerhardts oder die Musiksprache der Gregorianik, zu leugnen. Außerdem kommt Respekt vor den gewachsenen Formen der Vergangenheit ins Spiel, die nicht durch museale Konservierung schön bleiben, sondern es immer neu werden, wenn wir sie uns lebendig aneignen.

Auf der anderen Seite aber ist in der Liturgie die Innovation gefragt, weil ohne sie die Zeitgenossenschaft verloren geht. Die biblische Aufforderung „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (Psalm 98) darf sich nur in der musikalischen Sprache von gestern erschöpfen, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Wann aber hören wir denn neue Klänge in der Liturgie? Das Neue geistliche Lied steht für Vertrautheit im Sinne des Pop-Idioms oder für regressiv-behagliche Spiritualität, nicht aber für Avantgarde oder gar Fremdheit. Am ehesten wird die Orgelimprovisation dieser innovativen Rolle gerecht, wenn sie nicht in Oberflächlichkeit verharrt, was das neue vatikanische Dokument „Sacramentum Caritatis“ (Nr. 42) bemängelt, allerdings ohne die positiven Chancen von Improvisation und neuer Musik auch nur zu erwähnen. Zu bedauern ist, dass das immense spirituelle Potenzial der neuen „E-Musik“ – um dieses fragwürdigen Etikett zu gebrauchen – liturgisch noch kaum fruchtbar geworden ist.

Liturgische Qualität im Konflikt der ästhetischen Milieus

Eine weitere kreativ zu gestaltende Spannung ist die von Schlichtheit und Festlichkeit. Die Maxime der Liturgiekonstitution vom „Glanz edler Einfachheit“ (Sacrosanctum Concilium 34) ist höchst aktuell, denn sie verhindert die Steigerung von Äußerlichkeiten unter dem Motto: je mehr Aufwand, desto schöner. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten Entscheidendes verändert. Die gesellschaftliche Aufsplitterung in Milieus zeigt sich in divergierenden ästhetischen Konzepten, die den Kontakt untereinander immer mehr verlieren. Thomas Becker, der Leiter der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz in Hamm, führte bei einem Pastoralkongress zu Perspektiven der Sinus-Milieu-Studie ein bezeichnendes Beispiel an, das diese Schwierigkeit illustriert: Ein kirchlich distanzierter, an der schönen Gestaltung der Erstkommunion seines Kindes jedoch sehr interessierter Vater macht dem Pfarrer ein großzügiges musikalisches Angebot. Er will einen professionellen Gitarristen bestellen, um das seiner Ansicht nach allzu laienhafte Spiel dreier „engagierter Frauen mit ihren Gitarren“ zu verbessern. Nach eingehender Prüfung und Beratung hat jener Pfarrer das Angebot aber abgelehnt, weil es zum Selbstverständnis der Gemeinde gehört, „dass sich jeder mit seinen Charismen einbringt“. Zu einer direkten Begegnung der beiden ästhetischen Milieus kam es leider nicht. Doch wäre nicht genau diese gegenseitige Inspiration das Ziel? Von dem professionellen Gitarristen erfordert dies ein Sich-Einlassen auf die Möglichkeiten der „Laien“, von diesen wiederum die Offenheit, sich vom Profi auch etwas sagen zu lassen. Die verhärteten Fronten zwischen elitär und trivial könnten so vielleicht in einem liturgischen Crossover aufgebrochen werden. Im Übrigen war die Entscheidung jenes Pfarrers auch eine Option für ein bestimmtes, von der Mehrheit akzeptiertes und favorisiertes Milieu. Ähnliches findet statt, wenn ein traditionsbewusster Kirchenchor das Neue geistliche Lied von vornherein ablehnt und die Schönheit des Feiertagshochamtes, für die er sich exklusiv zuständig fühlt, ausschließlich an die Orchestermesse aus der Feder Mozarts, Haydns oder Schuberts knüpft. Auf der anderen Seite wird bei vielen Jugendgottesdiensten oder Firmungen auf Orgelspiel gänzlich verzichtet, offenbar weil man dieses Instrument dem hier erwarteten Milieu gar nicht zumuten will.

Ob es gelingt, den Gottesdienst neu als Ort der „Milieu-Begegnung“ zu profilieren, muss sich zeigen. Zunächst ist es wichtig, die milieubedingten Erwartungen und Verengungen zur Kenntnis zu nehmen. Zu denken gibt schließlich, dass eine Münchner Pfarrei sich entschlossen hat, den mit der Erstkommunion jährlich einhergehenden liturgischen Ausnahmezustand zu beenden und die Feier der Erstkommunion neuerdings wieder inmitten der Kerngemeinde ansiedelt. Diese Entscheidung lässt sich durchaus verstehen als der Versuch, eine bestimmte Feier der alleinigen Gestaltungshoheit eines Milieus zu entziehen, um wieder auf einen integrativeren Kurs zu gelangen. Zu den Schieflagen der Liturgie gehört ja nicht zuletzt die Privatisierung der Sakramente.

Die Intellektuellen und die alte Messe

Aus dem Blickwinkel der kirchlichen Milieus lässt sich auch die neue Koalition zwischen Traditionalisten und Intellektuellen genauer beschreiben, nämlich als das Bündnis jener, die sich von der Liturgiereform und ihrer oftmals problematischen Umsetzung aus je verschiedenen Gründen vernachlässigt fühlen. Den Traditionalisten wurde allzu viel Neues zugemutet, was sie regelrecht ängstigt. Sie sehnen sich deshalb nach dem Alten und projizieren diese Sehnsucht auf die alte Form der Messe. Mit Argumenten springen Intellektuelle wie Martin Mosebach bei, die ästhetisch enttäuscht wurden. Er sieht in der erneuerten Form bekanntlich die „Häresie der Formlosigkeit“. Konsequent hält er die Liturgiereform deshalb für gescheitert. Die Schönheit der Liturgie ist nach Mosebach in vergeblichen Experimenten untergegangen. Diese Position ist medienwirksam, wird aber dem Spektrum gegenwärtiger Liturgie mit seinen Licht- und Schattenseiten keineswegs gerecht.

Ohnehin trägt die gegenwärtig neu entflammte Diskussion um die „lateinische Messe“ Züge eines Scheingefechts, zumal das Latein ja niemals abgeschafft und etwa in der neuesten vatikanischen Verlautbarung zur Liturgie im Anschluss an die Bischofssynode des Jahres 2000 erneut wärmstens empfohlen wird. Zu fragen ist jedoch, warum dieses Missverständnis sich so hartnäckig halten kann. Offenbar weil die Vielsprachigkeit der Liturgie zugunsten der Landessprache vernachlässigt wurde. Kinder können bei einem internationalen Kinderchortreffen wunderbar in der lateinischen Sprache feiern, die in diesem Moment niemanden bevorzugt und niemanden benachteiligt, also ideal ist. In vielen Gemeindegottesdiensten wird der Weg zu einer Intensivierung des Latein und des Gregorianischen Chorals aber nicht einfach sein, wenn er denn beschritten wird. Aufgabe der Gemeinden ist es, ihr liturgisches Profil durch die Pflege des Repertoires zu schärfen. Dazu gehört auch die Frage, welche Gesänge und Gebete regelmäßig lateinisch erklingen sollen. Leider werden solche langfristigen liturgischen Planungen oftmals zugunsten momentaner Fragen vernachlässigt. Für die Schönheit und eine sinnvolle Feierkultur sind sie aber ähnlich wichtig wie das Vorhandensein aller liturgischer Rollen. Die im besten Sinne spielerische Devise der Konzilskonstitution, dass jeder „all das und nur das“ (Sacrosanctum Concilium 28) tun soll, was ihm von seiner Rolle her zukommt, darf nicht vergessen, sondern muss noch viel konsequenter umgesetzt werden. Aufgabe der Zukunft ist die Profilierung der Rollen durch sorgfältige Aus- und Fortbildung, auch im gegenseitigen Dialog.

Schönheit der Liturgie und Ars celebrandi

Was heute am meisten fehlt, ist die Balance zwischen den Gottesdiensten in all ihrer möglichen Vielfalt und der Eucharistiefeier als „Höhepunkt und Quelle“ allen Feierns. Die meisten Formen, die denkbar wären, fallen schlichtweg aus. Dafür finden aber die Freiheiten, die diesen variablen Formen etwa im Rahmen der Tagzeitenliturgie zugute kommen könnten, nun allesamt in der Heiligen Messe statt, wo sie am wenigsten angebracht sind. Die deutschen Bischöfe haben diese Situation in ihrem pastoralen Schreiben „Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde“ mit Impulsen für eine lebendige Feier der Liturgie vom 24. Juni 2003 richtig diagnostiziert (Die deutschen Bischöfe, Nr. 74).

Obwohl die Erfahrungen mit der Tagzeitenliturgie insgesamt sehr ermutigend sind, tun sich die meisten Gemeinden damit schwer. Bedingt durch den Priestermangel drohen gleichzeitig eine liturgische Verarmung sowie die spirituelle Vernachlässigung der „durchbeteten Räume“. Gespannt sein darf man auf das bereits von der Deutschen Bischofskonferenz angekündigte Werkbuch mit dem Titel „Gottesdienste an Wochentagen“. Die in sehr unterschiedlicher Intensität praktizierte Wortgottesfeier an Sonn- und Festtagen wiederum leidet an ihrer ungewollten Ähnlichkeit mit der Feier der Eucharistie. Erlebt man eine Wortgottesfeier ohne Antwortpsalm, dafür aber mit der von einer Vorlage abgelesenen Ansprache, stehen die Dinge doch irgendwie auf dem Kopf.

Zwischen Privatisierung und Eventkultur braucht die Liturgie eine neue Selbstverständlichkeit, die sich am besten durch Regelmäßigkeit und Ordnung einstellt. Organisch dazugehören sollten Tradition ohne Traditionalismus sowie Modernität ohne Modernismus. Die von vielen geforderte Ars celebrandi beruht nicht zuletzt auf dem schlichten Vorgang des Einübens und Vertraut-Werdens. Da unterscheidet sich das Heilige Spiel zunächst einmal nicht von anderen Spielen. Seine Rollen sind so zu profilieren, dass sie die Regeln kreativ ausschöpfen, anstatt sich immer wieder der Überforderung hinzugeben, das Ganze neu erfinden zu müssen. Nicht vergessen dürfen wir, dass die Ars celebrandi auch für die feiernde Gemeinde gilt. Sie feiert intensiver und schöner, wenn sie weiß, wann man sitzt, steht oder kniet. Letztlich ist die Schönheit des Gottesdienstes durch vieles mitbedingt, was gar nicht machbar ist. Auf die Kraft der Symbole dürfen wir setzen, auf den Rhythmus des Kirchenjahres und auf die Wirkung des Heiligen Raumes. Je besser all das erschlossen wird und je sensibler die pastoral und musikalisch Verantwortlichen gemeinsam handeln, desto schöner kann das Gesamtkunstwerk Liturgie gefeiert werden.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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