Bei ihrem Bundesparteitag Anfang Dezember in Hannover wird die CDU ein neues Grundsatzprogramm verabschieden; schon Ende September steht auf dem CSU-Parteitag der Beschluss überein Grundsatzprogramm an. Die beiden deutschen C-Parteien, die eine seit zwei Jahren im Bund Partner einer großen Koalition mit der SPD, die andere in Bayern alleinige Regierungspartei, wollen ihr Profil neu justieren und die Grundlagen für ihr politisches Handeln umschreiben. Die Geschichte der CDU-Grundsatzprogramme begann mit dem „Berliner Programm“ von 1968, das 1971 eine zweite Fassung erhielt. Es folgten das von einer Kommission unter Leitung von Richard von Weizsäcker erarbeitete und im Oktober 1978 verabschiedete „Ludwigshafener Programm“ und das Grundsatzprogramm von 1994, mit dem die Partei auf die Zäsur der Wiedervereinigung reagierte (vgl. HK, März 1993, 12 ff.).
Grundelemente des christlichen Menschenbilds
Nach dem Schock der Bundestagswahl vom 18. September 2005 beschloss die CDU-Führung dann im Frühjahr 2006 die Berufung einer neuen Grundsatzprogramm-Kommission unter dem Vorsitz von Generalsekretär Ronald Pofalla mit den Stellvertretern Dieter Althaus, Peter Müller und Annette Schavan. Anfang Juli 2007 wurde der Entwurf des neuen Grundsatzprogramms vom Bundesvorstand verabschiedet. Die Aussagen zum Menschenbild und zu den Grundwerten der CDU stehen in Kontinuität zu den bisherigen Grundsatzprogrammen. So heißt es gleich zu Anfang: „Unsere Politik beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott“ (Nr. 1). Dem folgt wie bisher der Satz: „Dabei wissen wir, dass sich aus dem christlichen Glauben kein bestimmtes politisches Programm ableiten lässt“ (Nr. 2).
Die CDU sei für jeden offen, der die Würde und die Freiheit aller Menschen anerkenne und die hieraus folgenden Grundüberzeugungen ihrer Politik bejahe: „Auf diesem Fundament baut das gemeinsame Handeln von Christen, Andersgläubigen und Nichtglaubenden in der CDU auf“ (ebd.). Bei der Aufzählung der geistigen und politischen Grundlagen der CDU nennt der Entwurf als erstes die Sozialethik der christlichen Kirchen. In fünf Abschnitten versucht der Entwurf, Grundelemente des christlichen Menschenbilds zu umreißen: Unantastbare Würde des Menschen; Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zugleich Verantwortung gegenüber dem Nächsten; der Mensch als Irrtum und Schuld ausgesetztes Wesen; der Mensch als Teil der Schöpfung. Auf diesem Menschenbild beruhten die Grundlagen demokratischer Rechts- und Verfassungsstaaten. Es wird als die „besondere Selbstverpflichtung“ der CDU herausgestellt, „die christlich geprägten Wertgrundlagen unserer freiheitlichen Demokratie zu bewahren und zu stärken“(Nr. 10).
Die Berufung auf das Christentum als Fundament des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaats und seiner Grundwerte findet sich auch in anderen Teilen des Entwurfs. So heißt es im Kapitel „Deutschlands Chance Europa“, das christliche Bild vom Menschen sei als Teil des gemeinsamen europäischen Erbes wesentlich für die europäische Identität: „Es bleibt auch im Zeitalter der Globalisierung die Grundlage für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft in Europa“ (Nr. 311). An anderer Stelle wird Deutschland als „europäische Kulturnation“ apostrophiert, „geprägt vor allem durch die christlich-jüdische Tradition und die Aufklärung“ (Nr. 125). Das Kapitel über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beginnt mit der Aussage, nach christlichem Verständnis seien Mensch, Natur und Umwelt Schöpfung Gottes: „Sie zu erhalten, ist unser Auftrag“ (Nr. 234). Wenige Abschnitte vorher wird zur Begründung des Lebensschutzes formuliert: „Die unantastbare Würde des Menschen als Geschöpf Gottes ist allem menschlichen Handeln unverfügbar vorangestellt“(Nr. 231).
Christentum, Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften ist im Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der CDU ein Kapitel („Freiheit in Verantwortung vor Gott und den Menschen“) im Teil VIII („Aktive Bürger, starker Staat, weltoffenes Land“) gewidmet. Es beginnt – nicht gerade überraschend – mit einer leicht abgewandelten Version des„Böckenförde-Diktums“: „Unser freiheitlicher Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Nr. 275). Dem folgt wieder ein diesmal ausgesprochen bekenntnishafter Hinweis auf die christlichen Wurzeln der Werte des Grundgesetzes: „Wir bekennen uns in der Präambel des Grundgesetzes zur Verantwortung vor Gott und den Menschen. Das Grundgesetz beruht auf Werten, die christlichen Ursprungs sind. Sie haben unser Land und unsere Gesellschaft grundlegend geprägt. Sie im Bewusstsein zu halten, zu bewahren und ihnen Geltung zu verschaffen, verstehen wir als eine vorrangige Aufgabe von Staat und Bürgern“ (Nr. 276). Als Konkretion dieser Aussagen wird gefordert, christliche Symbole müssten im öffentlichen Raum sichtbar bleiben; sie seien ebenso zu schützen wie die christlich geprägten Sonn- und Feiertage.
Würdigung der Religionsgemeinschaften
Ein weiteres Bekenntnis gilt im Entwurf der „Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Nr. 278). Sie werden in ihrer Mitverantwortung für das Gemeinwohl gewürdigt; ausdrückliche Anerkennung gilt ihren „vorbildlichen Leistungen im praktischen Dienst am Nächsten“. Demzufolge müsse „die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in die Gesellschaft hineinzuwirken“, unantastbar bleiben. In diesem Zusammenhang erinnert der Text daran, dass die freiheitliche Rechtsordnung das Recht auf freie Religionsausübung garantiere. Im Kapitel über die Bildungs- und Kulturnation Deutschland findet ausdrücklich der Religionsunterricht Erwähnung. Die CDU trete dafür ein, dass christlicher Religionsunterricht in allen Bundesländern zum Kanon der Wahlpflichtfächer zähle. Neben dem christlichen solle bei Bedarf auch Religionsunterricht „in anderen Weltreligionen in deutscher Sprache und unter staatlicher Schulaufsicht“ angeboten werden (Nr. 101).
Den anderen Religionen wird im Entwurf bescheinigt, dass auch sie „Werte vermitteln, die einen positiven Einfluss auf unsere Gesellschaft und unsere freiheitliche Grundordnung ausüben können“ (Nr. 277). Eigens genannt wird an dieser Stelle allerdings nur die besondere Verantwortung für die jüdischen Gemeinden, die Teil der deutschen Kultur und unverzichtbarer Bestandteil der deutschen Gesellschaft seien. Es hätte nahegelegen, in diesem Zusammenhang auch den Islam in Deutschland ausdrücklich zu erwähnen und positiv zu würdigen. Schließlich stellen die Muslime inzwischen die stärkste religiöse Gruppe nach den großen christlichen Kirchen. Es wäre zu wünschen, dass in der Endfassung des Grundsatzprogramms dieser Lapsus korrigiert wird. Im Entwurf ist an zwei Stellen vom Islam die Rede, beide Male bezeichnenderweise in Verbindung mit dem Stichwort Islamismus. In Nr. 289 wird festgehalten: „Der politische Islamismus und der terroristische Islamismus, die jeweils ihre radikale Interpretation des Islam über unsere Verfassung stellen, sind eine besondere Gefahr für die Menschen in Deutschland, auch für die verfassungstreue Mehrheit unter den Muslimen.“ Dem folgt die Selbstverpflichtung der CDU, den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Demokraten über die Religionsgrenzen hinweg aktiv zu fördern und zugleich den gewaltbereiten Fundamentalismus konsequent zu bekämpfen.
Im außenpolitischen Teil des Entwurfs findet sich ein Plädoyer für ein friedliches Miteinander der westlichen Demokratien mit den islamisch geprägten Staaten: „Wir achten und schätzen die reiche kulturelle Tradition der islamischen Welt. Es ist in unserem Interesse, die moderaten Kräfte in den muslimisch geprägten Gesellschaften auf ihrem Weg zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu unterstützen“ (Nr. 348). Nochmals ist hier von der Abwehr des islamistischen Terrorismus und Fundamentalismus die Rede. Dem Entwurf für das neue Grundsatzprogramm der CDU ist eine Präambel vorangestellt („Christlich demokratische Politik für Deutschland im 21. Jahrhundert“). Darin bezeichnet sich die CDU wie auch im ersten Satz des Grundsatzprogramms als „die Volkspartei der Mitte“. In ihr seien, so die Präambel, auch heute „die politischen Strömungen lebendig, aus denen sie nach 1945 entstanden ist: die christlich-soziale, die liberale und die wertkonservative“. Der Entwurf ist insgesamt erkennbar von dem Bemühen geprägt, keine dieser Grundströmungen vor den Kopf zu stoßen, sondern ihre Anliegen jeweils positiv aufzunehmen, auf der Grundlage dessen, was in dem Text als christliches Menschenbild beschrieben wird. Die damit zwangsläufig verbundenen Spannungen sind derzeit in der CDU ganz und gar nicht ausgestanden und auch nicht durch ein gemeinsames Bekenntnis zum „C“ zu überwinden, so wichtig das als Integrationselement innerparteilich wie als Angebot an die Wählerschaft insgesamt sein mag.